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[91] Auf dem Parkwege sitzt ein Eichhörnchen. Als es mich erblickt, macht es ein Männchen und läuft auf mich zu. Es sieht an mir auf, dann klettert es an mir empor; es ist wohl gewohnt, Nüsse zu bekommen oder Zucker, ich habe nichts, es klettert wieder herunter, sitzt noch einen Augenblick zu meinen Füßen und läuft dann fort.
Ich mache einen deutschen Spaziergang durch unsern deutschen Wald. Meine deutschen Augen mustern die herrliche deutsche Landschaft und versinken in ihrem Zauber: von dieser Schneise her könnte man ganz gut einen Sturmangriff unternehmen, die Wiese gäbe ein famoses Schußfeld für ein gedecktes M.G. – und da! Was ist das? Der Feind. Unwillkürlich nehme ich Deckung.
Es ist ein Eichhörnchen, ein deutsches Eichhörnchen. Blond wie Goebbels, läßt es spielend seinen Schweifwedeln. Doch was ist dieses? Es läuft nicht davon! Ein Deutscher läuft nicht davon. Es eilt vielmehr auf mich zu, das liebe Tierchen, beschnuppert mich, und jetzt, jetzt klettert es wahrhaftig wie ein Eichhörnchen an mir hoch. Es sieht mich an mit seinen blanken Äuglein, als wollte es sagen:
»Hältst nicht auch du den Schandvertrag von Versailles für einen Tschmachfleck auf dem deutschen Gewand deutscher Ehre?«
Und fürchterlich, riesengroß erhebt sich vor meinem innern Auge dieses Tier zu einem Symbol deutscher Größe: auch es wird einmal uns und unsre Kinder und Kindeskinder an den Welschen rächen. Und ich sehe das Eichhorn, vor einen Tank gespannt, im Dienste der nationalen Sache, einherziehn in die Schlacht, für die wir ja alle, Mann und Jungfrau, unsre Kinder gebären.
Denn was hat der Deutsche der Welt zu liefern?
Menschenmarmelade.
Ein Film.
Anny, ein Lebemädchen, ist in Adolf verliebt, der ein schwerer Junge ist. Anny stammt aus guten bürgerlichen Verhältnissen, die sich allerdings leider durch die Ungunst der Zeit verschlimmert haben: der eine Bruder von ihr ist Generaldirektor beim Film, und der andre gehört auch der Unterwelt an. Sie liebt Adolf, mit dem sie gemeinsam Kokain[91] schnupft, das ihr Bertold, ein betrügerischer Rauschgifthändler, verschafft – wir sehn aber, wie er es mit Zahnpulver verfälscht, so daß es unschädlich ist. Wie das Zahnpulver verfälscht wird, sehen wir nicht. Bertold ist gleichfalls in Anny verliebt, was Adolf aber, der in eine gewisse Milly verliebt ist, die in einen gewissen Max verliebt ist, der in eine gewisse Karoline verliebt ist, nicht weiß. Milly weiß nur, daß Max nicht in Bertold verliebt ist. Wir sehen nun – zwischen prächtigen Parademärschen zur See – wie das Ganze der Katastrophe zutreibt.
Zum Schluß sitzt Anny trostlos auf einem Weidenstumpf und schluchzt, indem sie sich fragt, wie das zu dem kommt und warum dieser Film wohl ›Das Eichhörnchen‹ heißt.
Daß der Film von allen Ausschüssen die Bezeichnung ›kulturbildender Bildstreifen‹ erhalten hat, brauchen wir wohl nicht hinzuzufügen.
Fall 168. Ein siebenjähriger Knabe kommt in meine Sprechstunde, weil es ihm seine Eltern streng verboten haben. Strukturphysiologisch bietet er das Bild eines durch das Ergriffensein des emotionellen Gebietes Biozentrischen.
Nach längerer Befragung stelle ich folgendes fest:
Vor etwa vier Wochen sei der Knabe allein durch das nahe Stadtwäldchen gegangen und sei dort auf ein Eichhörnchen gestoßen. Das Tier sei erst an ihm hochgelaufen (!), habe ihn bedroht, und sei dann, durch das Schreien des Kindes erschreckt, wieder davongelaufen.
Klar geht aus dieser Äußerung hervor, daß es sich hier um ein von den Eltern verzärteltes Kind handelt, das mit dem Leben nicht fertig wird. Es will eben auf alle Fälle im Mittelpunkt stehn; selbst die Tiere des Waldes (Bilderbucherinnerungen!) sollen sich um den Knaben kümmern. (Siehe dazu Doktor S. Popelreuther ›Ella, ein schizophrenes Eichhörnchen‹).
Rein berufseignungspsychologisch ist der geistige Ort dieses Knaben etwa in dem Problem seiner sozialen Bezogenheit zu seiner nicht libidinösen Umwelt zu suchen, doch müssen wir uns hüten, unsre Heilpädagogik in den libidoenergetischen Topf der Psychoanalyse zu werfen. Seine psychische Kapazität drängt den Knaben zum Spiel (nach Professor Doktor Fritz Giese ›Anleitung zur Errichtung individual-psychologischer Kegelbahnen‹). Dieses Kind weiß eben noch nicht um das Nichtwissen; meine Aufforderung zur Entspannung hat es leider dahin verstanden, sich in die Hosen zu machen.
Bedauerlich bleibt nur, daß das fragliche Eichhörnchen nicht mit in die Sprechstunde gekommen ist. Mit Hilfe der Individualpsychologie hätte man aus dem entarteten Tier das Ideal der Menschheit machen können: eine gute Kindergärtnerin.
[92] Man geht durch den sommerlich verschneiten Park: neben mir Kardinal Rosenberg, der gütige Finanzberater des Papstes, sowie die schönste Frau Südamerikas, die Gräfin Oça-Jolly. Wir plaudern in muntrer Abwechslung über die Finanzen Uru-beziehungsweise Paraguays, sowie über die bezaubernden Roadster auf der Auto-Ausstellung in Kolumbien, anders tun wirs nicht. Ein Skeleton mit dem schweizer Baron Ven-Mögli-Tägli saust an uns vorüber, wir grüßen winkend mit der Hand.
Da stößt die schöne Frau, die ein pfauengraues Sportsamtjäckchen mit einem kleinen Aufstoß aus Silberlamé trägt, einen leichten Schrei aus, und auch die Eminenz scheint mir bewegt.
»Frau Conchita!« rufe ich. »Was tut sich?« ruft der Kardinal.
Plötzlich wird mir schwarz mit diagonalen Pünktchen vor Augen. Ich sehe noch, wie im Flugsprung ein riesiges Tier sich auf mich stürzen will – Bären! denke ich pfeilgeschwind, es kann aber auch ein Wisent sein, kühn entschlossen werfe ich mich vier bis achtzehn Schritt zurück, als echt versilbertes Gelächter an mein Ohr klingt. Die Gräfin nennt das Tier bei Namen – es ist ein Eichhörnchen! Da ist es ja vor die rechte Edschmiede gekommen.
Es ist natürlich ein besonders elegantes Exemplar seiner Gattung: zwei flinke Äuglein hat es, es wippt furchtsam wie ein Zeitungsverleger umher, es ist brillant angezogen. Der Kardinal macht eine jener segnenden Handbewegungen, wie er sie von der Börse her gewöhnt ist. »Verscheuchen Sie es nicht, Eminenz!« bitte ich. Wir stehn still.
Das Eichhörnchen klettert an der Gräfin Oça-Jolly empor, wittert den Duft ihrer gepflegten Augenbrauen und eilt dann auf den nächsten Baum, zum Lunch. Durch die Zweige grüßt die Villa des Großindustriellen Bergius herüber, der durch die Verleihung des Nobelpreises grade noch dem Hungertod entronnen ist. Im Hintergrund sieht man Gerhart Hauptmann mit einem neuen Stück sowie in Golfhosen schwanger gehn.
Denn mag die Welt versinken, eines wird immer bestehn bleiben –: le monde.
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