[122] »Er ist ein Pedant, ein ganz lächerlicher Pedant!« sagte er.
»Weißt du, wieviel Sternlein stehen . . . ?« sagte ich. »Gott der Herr hat sie gezählet . . . «
»Er hat alles gezählet!« schimpfte er. »Gezählet – das feierliche e,[122] das schon Liliencron nicht leiden konnte, genau so lächerlich wie dieser ganze alte Mann. Alles hat Er gezählet . . . Haben Sie einmal in unser Lebensbuch hineingesehen –?«
»Es war die größte Überraschung, die ich jemals erlebt – nein, die ich jemals gehabt habe«, sagte ich. »Das ist denn doch die Höhe.«
»Nicht wahr? Aufzuschreiben, wie oft man jede einzelne Handlung begangen hat; es ist ja – geisteskrank ist das, das ist ja . . . das übersteigt denn doch alles an Greisenhaftigkeit, was je . . . «
»Sie lästern«, sagte ich. »Sie müssen Ihn nicht lästern, dann kann dieses Buch nicht erscheinen. Gott ist groß.«
»Gott ist . . . «
»Nicht, nicht. Natürlich ist es lächerlich. Denken Sie sich: ich habe neulich einmal einen ganzen Nachmittag auf der Bibliothek verbracht und meinen Band durchgeblättert. Er ist sehr exakt geführt, das muß man schon sagen. Manches hätte ich nicht für möglich gehalten – summiert sieht es doch anders aus als damals, als man es tat.
Schlüssel gesucht: 393 mal. Zigaretten geraucht: 11876. Zigarren: 1078. Geflucht: 454 mal. (Bei uns ist erlaubt, zu fluchen – daher kann ich es nicht so gut. Ich bin kein Engländer.) An Bettler gegeben: 205 mal. Nicht viel. Nugat gegessen – ist ein Mensch je auf den Gedanken gekommen, derartiges aufzuschreiben . . . ! Nugat: 3 mal. Ich habe keine Ahnung, was Nugat ist. Die Handschrift des Buchhalters ist aber so ordentlich, daß es schon stimmen wird. Übrigens: die letzten tausend Seiten sind mit einer Buchhaltungsmaschine geschrieben. Man modernisiert sich.«
»Er zählt alles«, grollte er. »Er zählt Verrichtungen, die ein anständiger Mensch . . . «
» . . . non sunt turpia«, sagte ich. »Ich habe demnach, sah ich an jenem Nachmittag, recht mäßig gelebt, in Baccho et in Venere . . . recht mäßig. Ich mag Ihnen die Zahl nicht nennen – aber es grenzt schon an Heiligkeit. Jetzt tut es mir eigentlich leid . . . Das merkwürdigste ist –«
»Was?« fragte er.
»Das merkwürdigste ist«, sagte ich, »zu denken, daß man dies oder jenes zum letztenmal in seinem Leben getan hat. Einmal muß es doch das letztemal gewesen sein. Am vierzehnten Februar eines Jahres hat man zum letztenmal ein Automobil bestiegen . . . Und man ahnt das natürlich nicht. Finales gibt es ja doch nur in den Opern. Man steigt ganz gemütlich in ein Automobil, fährt, steigt aus – und weiß nicht, daß es das letztemal gewesen sein soll. Denn dann kam vielleicht die Krankheit, die lange Bettlägerigkeit . . . nie wieder ein Automobil. Zum letztenmal in seinem Leben Sauerkraut gegessen. Zum letztenmal: telefoniert. Zum letztenmal: geliebt. Zum letztenmal: Goethe gelesen. Vielleicht lange Jahre vor dem Tode. Und man weiß es nicht.«
[123] »Aber es ist gut, daß man es nicht weiß«, sagte er; »wie?«
»Vielleicht«, sagte ich. »Man sollte aber bei jeder Verrichtung denken: Tu sie gut. Gib dich ihr ganz hin. Vielleicht ist es das letztemal.«
»Aber Er ist doch ein gottverdammter Pedant . . . !« fuhr er auf.
»Nennen Sie nicht Seinen Namen!« sagte ich. »Er ist ein göttlicher Pedant.«