Einundzwanzigstes Kapitel.

[209] Die beiden Freunde wechselten beinahe kein Wort, bis sie an Fedotes Haus angekommen waren. Bazaroff war mit sich selber nicht zufrieden, und Arkad war ärgerlich auf seinen Freund. Er fühlte überdies jene unbestimmte Traurigkeit, welche nur jungen Leuten beim ersten Eintritt in das Leben bekannt ist. Als umgespannt war und der Kutscher wieder auf dem Bock saß, fragte er, ob er rechts oder links fahren solle.

Arkad erbebte. Der Weg zur Rechten führte nach der Stadt und von da auf das Gut seines Vaters, der zur Linken führte zu Frau Odinzoff.

Er sah Bazaroff an.

»Links, Eugen?« sagte er.

Bazaroff wandte sich ab.

»Welche Dummheit!« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Ich weiß wohl, daß es eine Dummheit ist,« antwortete Arkad. »Aber was tuts, 's ist nicht die erste, die wir begehen.«

Bazaroff schlug den Schirm seiner Mütze herunter.

»Tu wie du willst!« sagte er zuletzt.

»Fahr links!« rief Arkad dem Kutscher zu.

Der Tarantaß rollte in der Richtung von Nikolskoi dahin. Die beiden Freunde aber, nachdem sie jetzt entschlossen waren, eine Dummheit zu machen, beobachteten ein noch hartnäckigeres Schweigen als zuvor: sie schienen beinahe ergrimmt.

Aus der Art, wie der Haushofmeister der Frau Odinzoff sie auf der Treppe des Hauses empfing, merkten unsere jungen Reisenden gleich, daß es unbesonnen gewesen war, ihrem Einfall Folge zu leisten. Es war leicht zu bemerken,[210] daß man sie durchaus nicht erwartete. Eingeladen, in den Salon zu treten, mußten sie längere Zeit warten und spielten da eine traurige Figur. Frau Odinzoff erschien endlich; sie redete sie mit ihrer gewöhnlichen Liebenswürdigkeit an, schien aber über ihre schnelle Wiederkehr erstaunt; sie war nicht besonders entzückt, sie wiederzusehen, soviel sich nach ihren gemessenen Worten und Bewegungen urteilen ließ. Sie beeilten sich, ihr mitzuteilen, daß sie nur im Vorbeikommen angesprochen hätten, und daß sie in zwei oder drei Stunden nach der Stadt zurückzukehren gedächten. Ihre ganze Antwort war ein schwacher Ausruf der Überraschung; sie bat Arkad, seinen Vater von ihr zu grüßen, und schickte nach ihrer Tante; die Fürstin kam ganz verschlafen an, was den gewöhnlich bösen Ausdruck ihres gelben und welken Gesichts noch erhöhte. Katia war unwohl und verließ ihr Zimmer nicht. Arkad empfand in diesem Augenblick, daß er Katia ebensosehr wie die Herrin des Hauses zu sehen gewünscht hätte.

So vergingen vier Stunden in gleichgültigem Gespräch; Frau Odinzoff sprach und hörte zu, ohne zu lächeln. Nur im Augenblick der Abreise schien ihre alte Freundlichkeit wieder aufzuleben.

»Sie müssen mich recht mürrisch finden,« sagte sie, »aber bekümmern Sie sich nicht darum, und besuchen Sie mich beide bald wieder; hören Sie?«

Bazaroff und Arkad antworteten nur mit einer Verbeugung, stiegen wieder in den Wagen und ließen sich direkt nach Marino zurückfahren, wo sie ohne Aufenthalt am Abend des anderen Tages ankamen. Während der Fahrt sprach weder der eine noch der andere den Namen[211] der Frau Odinzoff aus; Bazaroff beobachtete sogar ein beständiges Schweigen und starrte hartnäckig ins Weite.

In Marino wurden sie mit offenen Armen empfangen. Die lange Abwesenheit seines Sohnes fing an, Kirsanoff zu beunruhigen; er stieß einen Schrei aus, sprang auf das Sofa und stampfte mit den Füßen, als Fenitschka mit freudestrahlenden Augen ins Zimmer trat und ihm die »jungen Herren« meldete. Selbst Paul empfand eine angenehme Überraschung und lächelte mit Gönnermiene, als er den Neuangekommenen die Hand drückte. Man plauderte von der Reise; Arkad war der, welcher am meisten sprach, besonders beim Abendessen, und das Mahl zog sich weit über Mitternacht hinaus. Kirsanoff hatte mehrere Flaschen Porter auftragen lassen, der von Moskau kam, und er mundete ihm so vortrefflich, daß seine Wangen purpurrot wurden und er aus einem kindlichen und zugleich nervösen Lachen nicht herauskam. Diese allgemeine gute Laune ergriff sogar die Dienerschaft. Duniascha tat nichts, als wie närrisch hin und her laufen und die Türen hinter sich zuschlagen, und Peter versuchte es noch morgens zwei Uhr vergeblich, einen Kosakenwalzer auf der Gitarre zu spielen. Die Saiten des Instruments ließen in der ländlichen Stille wehmütigliebliche Töne durch die Nacht erklingen. Aber der gebildete Kammerdiener kam nie über die ersten Läufe hinaus. Die Natur hatte ihm das musikalische Talent versagt, wie überhaupt jedes Talent.

Gleichwohl waren die Bewohner Marinos nicht frei von jeder Sorge, und der arme Kirsanoff hatte sein gut Teil davon. Die Farm verursachte ihm jeden Tag mehr Ärger, kleinen, erbärmlichen Ärger. Die gedungenen Arbeiter[212] bereiteten ihm wahrhaft unerträgliche Verlegenheiten. Die einen forderten eine Lohnerhöhung und verlangten Abrechnung, die anderen liefen davon, nachdem sie Vorschuß erhalten hatten; die Pferde wurden krank, die Fuhrwerke waren jeden Augenblick dienstuntüchtig, die Arbeit wurde schlecht bestellt. Eine Dreschmaschine, die man von Moskau hatte kommen lassen, wurde zu schwer für den Gebrauch befunden; eine Putzmühle zerbrach am ersten Tage, wo man sie probierte; der Viehhof brannte zur Hälfte nieder dank einer alten halbblinden Viehmagd, welche bei einem starken Winde ihre kranke Kuh mit brennenden Kohlen hatte entzaubern wollen, und dieselbe Alte versicherte später, das Unglück sei erfolgt, weil der Herr sich habe beikommen lassen, Käsebereitung und derartige Neuerungen anzufangen. Der Verwalter wurde plötzlich faul und fett, wie jeder Russe, der auf Kosten eines anderen lebt. Seine ganze Tätigkeit beschränkte sich darauf, einem Ferkel, das vorüberging, einen Stein nachzuwerfen, oder ein kleines halbnacktes Kind zu schelten, sobald er Kirsanoff bemerkte. Er schlief beinahe die ganze übrige Zeit. Die Bauern, welche Zins zu zahlen hatten, zahlten nichts und stahlen Holz; die Wächter fingen nachts manchmal, ohne auf starken Widerstand zu stoßen, Bauernpferde ein, die auf den Gutswiesen weideten. Kirsanoff hatte eine Strafe auf die Vergehen gesetzt; aber meist wurden die gepfändeten Tiere ihren Eigentümern zurückgegeben, nachdem sie einige Tage in dem Stall des Gutsherrn gefüttert worden waren. Um der Verwirrung die Krone aufzusetzen, fingen die Bauern auch noch untereinander Händel an; Brüder verlangten die Teilung, weil ihre Weiber nicht mehr unter dem gleichen[213] Dache leben konnten; jeden Augenblick kam eine Schlacht im Dorfe vor; ein Haufen Bauern rottete sich plötzlich und als ob er einem Befehlsworte gehorchte, vor der Amtsstube des Verwalters zusammen, ging von da mit zerschlagenem Gesicht und oft betrunken zu dem Gutsherrn und forderte mit lautem Geschrei Gerechtigkeit; und in all den Lärm mischte sich das Schluchzen und gellende Jammern der Weiber mit dem Geschrei und Geschimpf der Männer. Man mußte den Streit schlichten, die Stimme erheben, bis man heiser wurde, und wußte doch im voraus, daß all diese Anstrengung vergeblich war. Bei der Ernte fehlte es an Händen; ein benachbarter »Odnodvorets«, dessen ehrliches Gesicht das größte Vertrauen einflößte, und der sich verbindlich gemacht hatte, zum Preise von zwei Rubeln für die Dessätine Arbeiter herbeizuschaffen, brach auf die schmählichste Weise sein Wort; die Bauernweiber des Ortes forderten einen unerhörten Tagelohn, und inzwischen fing das Getreide an auszufallen; dieselbe Not wiederholte sich bei der Heuernte, und als obs an all diesen Sorgen noch nicht genug gewesen wäre, forderte die Pupillenkammer unter Drohungen die sofortige Bezahlung der verfallenen Zinsen.

»Ich bin mit meinen Kräften zu Ende!« rief Nikolaus Petrowitsch mehr als einmal. »Es ist nicht möglich, daß ich diese Leute da selber bessern kann, und meine Grundsätze erlauben mir nicht, die Hilfe der Polizei dazu in Anspruch zu nehmen. Gleichwohl werden sie ohne Furcht vor Strafe nie etwas tun.«

»Ruhig! Ruhig!« antwortete Paul Petrowitsch, schien[214] aber, während er seinem Bruder Ruhe empfahl, selber sehr unzufrieden zu sein und strich sich den Schnurrbart.

Bazaroff blieb all dieser »Misere« fremd, zudem erlaubte ihm seine Stellung im Hause nicht wohl, anders zu handeln. Den Tag nach seiner Rückkehr nach Marino hatte er seine Untersuchungen über die Frösche und Jufusorien und über gewisse chemische Verbindungen wieder aufgenommen und war ganz in diese Arbeiten vertieft. Was Arkad betrifft, so hielt er es für seine Pflicht, wo nicht seinem Vater zu Hilfe zu kommen, doch wenigstens seine Bereitwilligkeit dazu zu zeigen. Er hörte ihn geduldig an und wagte es eines Tags, ihm einen Rat zu geben, nicht so ganz in der Hoffnung, ihn befolgt zu sehen, als um wenigstens seinen guten Willen zu beweisen. Die häuslichen Geschäfte erregten ihm keinen Widerwillen; er nahm sich sogar vor, sich dereinst mit Liebe der Landwirtschaft zu widmen; für den Augenblick aber hatte er andere Gedanken im Kopf. Zu seiner großen Verwunderung mußte er beständig an Nikolskoi denken; früher hätte er die Achseln gezuckt, wenn ihm jemand gesagt hätte, daß er sich unter dem gleichen Dach mit Bazaroff, und unter welchem Dach noch dazu! unter dem väterlichen Dach, würde langweilen können; aber er langweilte sich in der Tat und wäre gern weit weg gewesen. Er nahm sich vor, lange Spaziergänge zu machen, aber das half ihm nichts.

Als Arkad eines Tages mit seinem Vater plauderte, erfuhr er, daß dieser mehrere ziemlich interessante Briefe aufbewahrt hatte, welche die Mutter der Frau Odinzoff einst an seine Frau gerichtet hatte, und er bat so inständig um dieselben, daß Nikolaus Petrowitsch sie nicht ohne Mühe unter seinen alten Papieren hervorsuchte und ihm[215] einhändigte. Einmal im Besitz dieser halbverblaßten Briefe, fühlte er sich ruhiger, als ob er endlich das Ziel gefunden hätte, nach dem er streben müsse. »Und zwar beide; hören Sie! hat sie von selber hinzugesetzt.« Dieser Gedanke wollte ihm nicht aus dem Kopf. »Ich gehe hin! Ich gehe hin, ja der Teufel soll mich holen!« Wenn er sich aber dann an den letzten Besuch in Nikolskoi und an den kalten Empfang erinnerte, gewann seine Schüchternheit wieder die Oberhand. Endlich jedoch trug das »Wer weiß« der Jugend, der stille Wunsch, sein Glück zu versuchen, seine Kräfte ohne Zeugen und ohne Beschützer zu erproben, den Sieg davon. Noch waren keine zehn Tage seit der Rückkehr der jungen Leute nach Marino verflossen, als er unter dem Vorwand, die Einrichtung der Sonntagsschulen zu studieren, aufs neue in die Stadt und von da nach Nikolskoi reiste. Die Art, wie er den Kutscher beständig zur Eile antrieb, hatte etwas von einem jungen Offizier, der zum Kampfe eilt; Freude, Furcht und Ungeduld teilten sich in sein Herz. »Vor allem darf man nicht reflektieren,« wiederholte er sich unaufhörlich. Der Kutscher, der ihn führte, war ein durchtriebener Bauer, der vor jeder Kneipe anhielt und fragte: »Soll man nicht den Wurm umbringen?«

Wenn aber der Wurm umgebracht war, stieg er wieder auf seinen Bock und schonte seine Pferde nicht. Endlich zeigte sich das hohe Dach des wohlbekannten Hauses den Blicken Arkads.

»Was tu ich da?« fragte er sich plötzlich, aber es war nicht mehr möglich, umzukehren.

Die Pferde waren im vollen Lauf; der Kutscher feuerte sie mit Schreien und Pfeifen an.[216]

Schon dröhnte die kleine hölzerne Brücke unter den Hufen der Pferde und unter den Rädern; da ist die lange Allee von Tannen, die wie Mauern geschnitten sind. Ein Rosakleid hebt sich von dem dunkeln Grün ab; ein jugendliches Gesicht blickt unter den feinen Fransen eines Sonnenschirms hervor ... Arkad hat Katia erkannt und sie ihn auch. Er befiehlt dem Kutscher, die Pferde anzuhalten, die immer noch im Galopp liefen, springt aus dem Wagen und läuft ihr entgegen.

»Sie sinds!« rief Katia leicht errötend. – »Kommen Sie zu meiner Schwester; sie ist hier im Garten, es wird ihr sehr angenehm sein, Sie wiederzusehen.«

Katia führte Arkad in den Garten. Ihre Begegnung schien ihm glückverheißend; das Wiedersehen erfüllte ihn mit einer Freude, als ob sie eine seiner nahen Verwandten gewesen wäre. Alles ging zum besten. Kein Haushofmeister mit seinen feierlichen Gebärden, kein Warten im Salon. Er gewahrte Frau Odinzoff am Ende einer Allee; sie kehrte ihm den Rücken zu und wandte sich beim Geräusch der Schritte ruhig um. Arkad war nahe daran, aufs neue aus der Fassung zu kommen, aber die ersten Worte, die sie sprach, gaben ihm wieder seine volle Sicherheit.

»Guten Tag, Flüchtling!« sagte sie mit ihrer gleichmäßigen und schmeichelnden Stimme; damit ging sie ihm lächelnd und vor Sonne und Wind mit den Augen blinzend entgegen. – »Wo hast du ihn gefunden, Katia?«

»Ich bringe Ihnen etwas,« begann Arkad, »was Sie wohl schwerlich erwarten ...«

»Sie haben sich selber gebracht, das ist die Hauptsache.«

Quelle:
Turgenjeff, Iwan: Väter und Söhne. Leipzig [1911], S. 209-217.
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