Elftes Kapitel.

[83] Eine halbe Stunde später trat Kirsanoff in den Garten und lenkte seine Schritte nach seinem Lieblingsboskett. Traurige Gedanken bedrängten ihn. Zum ersten Male hatte er die Kluft ermessen, die ihn von seinem Sohne trennte; ihm ahnte, daß sie sich mit jedem Tage erweitern werde. Umsonst also hatte er in Petersburg zwei Winter hindurch ganze Nächte mit der Lektüre der neuen Werke verbracht; umsonst hatte er den Unterhaltungen der jungen Leute aufmerksam gelauscht; der Eifer, mit dem er sich in ihre lebhaften Erörterungen gemischt hatte, war unnütz gewesen. »Mein Bruder behauptet, daß wir recht haben,« dachte er, und, alle Eigenliebe beiseite, scheint mirs selber auch, daß sie der Wahrheit ferner sind als wir. Und doch fühle ich, daß sie etwas haben, was wir nicht haben, eine gewisse Überlegenheit ... Ist das die Jugend? Nein, sie ist es nicht allein. Sollte diese Überlegenheit nicht darin bestehen, daß ihnen weniger als uns die Herrengewohnheiten aufgeprägt sind?

»Aber die Poesie verachten?« sprach er bald nachher zu sich, »nichts für die Kunst, nichts für die Natur fühlen? ...«

Er blickte ringsumher, als ob er zu begreifen suchte, wie's möglich sei, die Natur nicht zu lieben ... Der Tag neigte sich rasch zu Ende. Die Sonne hatte sich hinter einem Espenwäldchen versteckt, das, auf einer halben Werst vom Garten entfernt, einen endlosen Schatten über die stillen Felder warf. Ein Bauer trabte auf einem Schimmel den schmalen Pfad am Waldsaum entlang; obgleich er im Schatten war, zeigte sich doch seine ganze Gestalt deutlich dem Blick, und man konnte sogar einen Flicken auf der Achsel[84] seines Rocks unterscheiden; die Füße des Pferdes bewegten sich mit einer dem Auge wohltuenden Regelmäßigkeit und Zierlichkeit. Die Sonnenstrahlen drangen durch Busch und Baum und färbten die Espenstämme mit einem warmen Ton, der ihnen den Anschein von Tannenstämmen gab, während sich über den bläulichen Blättern der blasse, von der Abenddämmerung leicht gerötete Himmel wölbte. Die Schwalben flogen sehr hoch, der Wind hatte sich fast ganz gelegt; verspätete Bienen summten schwach und halbverschlafen in den Blüten des Fliedergebüsches, und ein Mückenschwarm tanzte über einem einzeln in die Luft ragenden Zweige. »Mein Gott, wie schön!« dachte Kirsanoff, und Verse, die er vor sich hin zu sagen liebte, wollten ihm über die Lippen treten, als er an Arkad und an »Kraft und Stoff« dachte und – schwieg. Doch blieb er sitzen und überließ sich dem süßen, traurigen Genuß einsamen Träumens. Das Landleben hatte ihm Geschmack dafür beigebracht; es war noch nicht lange her, als er wie heute im Hof jenes Wirtshauses saß und seinen Sohn erwartete, aber welch eine Veränderung war seitdem vor sich gegangen! Sein damals noch ungewisses Verhältnis zu Arkad war jetzt bestimmt ausgesprochen ... und wie? Das Bild seiner verstorbenen Frau trat ihm vor die Seele, nicht wie er sie in den letzten Jahren gekannt hatte, nicht als die gute, heitere, freundliche Hausfrau, sondern als junges, schlankes Mädchen mit schuldlosem, fragendem Blick, das Haar in dichten Flechten über dem kindlichen Nacken, mit einem Wort so, wie er sie zum ersten Male sah, zu der Zeit, da er die Vorlesungen an der Universität besuchte. Als er ihr auf der Treppe des Hauses, das er damals bewohnte, begegnete, stieß er sie aus Versehen an und entschuldigte[85] sich in seiner Verlegenheit mit den Worten: »Verzeihen Sie, mein Herr!« Sie senkte das Köpfchen, lächelte und fing, wie plötzlich erschreckt, zu laufen an; auf dem Treppenabsatz aber warf sie ihm einen raschen Blick zu, nahm eine ernsthafte Miene an und errötete. Darauf die ersten schüchternen Besuche, die halben Worte und das halbe Lächeln, die Stunden des Zweifels und der Betrübnis, und wieder das Entzücken der Leidenschaft, und endlich die Trunkenheit des Glücks ... Was war aus all dem geworden? Wohl war er später in der Ehe so glücklich gewesen wie möglich ... »Aber doch«, mußte er sich sagen, »gleicht nichts jenen ersten süßen Augenblicken der Glückseligkeit; ach, warum können sie nicht ewig dauern und nur mit dem Leben erlöschen!«

Er versuchte es nicht, diese Gedanken weiter zu verfolgen; aber jene glückliche Zeit hätte er festhalten mögen durch eine mächtigere Kraft als das Gedächtnis; er hätte wieder an der Seite seiner geliebten Marie sein, ihre weiche Wange streicheln, ihren warmen Atem fühlen mögen, und schon schien es ihm, als ob über seinem Haupte ...

»Nikolaus Petrowitsch,« fragte dicht neben dem Gebüsch Fenitschka, »wo sind Sie?«

Er erbebte. Nicht als ob er ein Gefühl von Reue oder Scham empfunden hätte ... Es war ihm nie eingefallen, den mindesten Vergleich zwischen seiner Frau und Fenitschka anzustellen; aber es schmerzte ihn, daß diese ihn in diesem Augenblick überraschte. Ihre Stimme rief ihm augenblicklich seine grauen Haare, sein frühzeitiges Alter, seine gegenwärtige Lage ins Gedächtnis zurück ... Die feenhafte Welt, in deren Räume er sich aufgeschwungen, diese[86] Welt, die sich bereits auf den verschwommenen Nebeln der Vergangenheit abhob, erblaßte und verschwand.

»Hier bin ich,« antwortete er; »ich komme gleich; geh nur.« – »Das,« sagte er sich fast im gleichen Moment, »sind wieder die Herrengewohnheiten, deren ich soeben noch gedachte.«

Fenitschka warf einen Blick in das Gebüsch und entfernte sich still. Jetzt erst bemerkte er zu seinem großen Erstaunen, daß die Nacht ihn in seinen Träumereien überrascht hatte. Rings um ihn her wars dunkel und still, und Fenitschkas Antlitz war ihm in den wenigen Sekunden, da sie vor der Laube erschien, so bleich und zart vorgekommen. Er stand auf, um in sein Zimmer zu gehen; aber sein gerührtes Herz hatte sich noch nicht wieder beruhigt, und er ging langsam im Garten auf und ab, die Augen bald niedergeschlagen, bald zum Himmel erhoben, der schon voller Sterne glühte. Lange, fast bis zur Ermüdung, war er so gegangen, und doch wollten sich Aufregung und Unruhe in seiner Brust nicht legen. Wie hätte sich Bazaroff über ihn lustig gemacht, wenn er von diesem Zustand Kenntnis gehabt hätte! Arkad sogar hätte ihn getadelt. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, mit Tränen, die ohne Grund quollen; für einen Vierziger, einen Hausherrn und Ökonomen war das noch tausendmal schlimmer als Violoncellspielen. Kirsanoff setzte seinen Spaziergang fort und konnte sich nicht entschließen, in sein friedliches Nest zu gehen, in das Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern so freundlich einlud; er fühlte den Mut nicht, den Garten und die Dunkelheit zu verlassen, der frischen Luft, die ihm die Stirne kühlte, dieser Trauer, dieser Aufregung zu entsagen ...[87]

Da trat ihm Paul bei einer Wendung des Weges entgegen.

»Was hast du denn?« fragte ihn dieser; »du siehst bleich aus wie ein Gespenst. Bist du krank? Du tätest wohl daran, zu Bett zu gehen.«

Kirsanoff erklärte ihm mit einigen Worten seine Empfindungen und ging ins Haus. Paul lief bis ans Ende des Gartens; auch er fing an, nachzudenken und die Augen zum Himmel aufzuschlagen. Aber seine schönen Augen spiegelten nur den Sternenschein wider. Er war kein Romantiker, und die Träumerei paßte nicht zu seinem leidenschaftlichen Wesen; er war ein prosaischer Mensch, wenn auch zärtlichen Gefühlen nicht unzugänglich, ein Menschenfeind französischer Art.

»Höre!« sagte am gleichen Abend Bazaroff zu seinem Freund, »ich habe einen prächtigen Einfall. Dein Vater sagte uns heute, daß er von dem großen Hans, eurem Vetter, eine Einladung erhalten habe. Er will nicht hingehen; wie wärs, wenn wir eine Tour nach X... machten? Du bist in die Einladung dieses Herrn mitinbegriffen. Du siehst, was hier für ein Wind weht; die Reise wird uns gut tun, wir sehen die Stadt. Es kostet uns höchstens fünf oder sechs Tage.«

»Und du kehrst mit mir hierher zurück?«

»Nein, ich muß zu meinem Vater. Du weißt, daß er höchstens 20 Werst von X... entfernt wohnt. Ich hab sie lange nicht gesehen, ihn und meine Mutter; ich muß ihnen die Freude machen. Es sind brave Leute, und mein Vater ist dabei ein drolliger Kauz. Zudem haben sie nur mich, ich bin ihr einziges Kind.«

»Bleibst du lange?«[88]

»Ich glaube nicht. Vermutlich werde ich mich dort langweilen.«

»Aber du besuchst uns auf dem Rückwege?«

»Je nachdem; ich weiß es noch nicht. Nun? einverstanden? reisen wir?«

»Sei's,« antwortete Arkad gleichgültig.

Im Grunde war er mit dem Vorschlag seines Freundes sehr zufrieden; er hielt es aber für nötig, sichs nicht merken zu lassen; so schickte sichs für einen echten Nihilisten.

Am nächsten Morgen reiste er mit Bazaroff nach X... Die Jugend von Marino bedauerte ihre Abreise; Duniascha vergoß sogar einige Tränen ... Paul aber und sein Bruder, »die Alten«, wie Bazaroff sagte, atmeten wieder freier.

Quelle:
Turgenjeff, Iwan: Väter und Söhne. Leipzig [1911], S. 83-89.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon