|
[302] Sechs Monate waren vergangen, und der Winter war gekommen; der starre Winter mit dem grausamen Schweigen seines Frostes, wo der dichte Schnee knistert, die Zweige der Bäume leis angehaucht sind von rosig schimmerndem Reif, wo Kuppeln dicken Rauchs über den Schornsteinen vom blaßblauen, wolkenlosen Himmel sich abheben, Wirbel warmer Luft aus den geöffneten Haustüren hervorbrechen, die roten Gesichter der Vorübergehenden wie gezwickt erscheinen und die vor Kälte zitternden Pferde in raschem Lauf dahintraben. Ein Tag des Monats Januar neigte sich zu Ende; die Abendkälte verdichtete die unbewegliche Luft noch mehr, und die blutrote Dämmerung erlosch mit reißender Schnelle. Die Fenster des Herrenhauses zu Marino erhellten sich nacheinander; Prokofitsch in schwarzem Frack und weißen Handschuhen legte mit besonderer Würde fünf Gedecke auf die Tafel im Speisesaal. Acht Tage zuvor hatten in der kleinen Kirche des Sprengels zwei Hochzeiten stattgefunden, still und beinahe ohne Zeugen; Arkad hatte sich mit Katia, Kirsanoff mit Fenitschka verbunden, und Kirsanoff gab seinem Bruder, der in Geschäften nach Moskau ging, einen Abschiedsschmaus. Anna Sergejewna war gleichfalls nach jener Stadt gereist, nachdem sie den Neuvermählten reiche Geschenke gemacht hatte.
Man setzte sich Punkt drei Uhr zu Tische; Mitia war unter den Gästen; er hatte bereits ein Kindermädchen mit einem ›Kokosschnik‹ von goldgestickter Seide; Paul Petrowitsch[303] hatte seinen Platz zwischen Katia und Fenitschka; die jungen Ehemänner saßen neben ihren Frauen. Unsere alten Freunde hatten sich in letzter Zeit etwas verändert; sie waren hübscher oder doch wenigstens stärker geworden, nur Paul Petrowitsch war magerer, was aber das Vornehme seiner Züge noch erhöhte. Auch Fenitschka war nicht mehr dieselbe. Im schwarzseidenen Kleid, eine breite Samtschleife in den Haaren, eine goldene Kette um den Hals, saß sie mit achtunggebietender Unbeweglichkeit da, nicht weniger achtunggebietend für sich selber als für ihre ganze Umgebung, und lächelte, als ob sie sagen wollte: »Entschuldigen Sie, ich bin nicht umsonst hier.« Übrigens hatten die andern Gäste alle ein Lächeln auf den Lippen, als ob sie ebenfalls um Entschuldigung bitten wollten; alle fühlten sich ein wenig befangen, ein wenig traurig, und doch vollkommen glücklich. Jedes war gegen seinen Nachbar von der freundlichsten Zuvorkommenheit, man schien sich das Wort gegeben zu haben, eine Art Komödie voll gutmütigen Wohlwollens miteinander zu spielen. Katia war die Ruhigste von allen; sie blickte zuversichtlich umher, und man konnte leicht bemerken, daß Kirsanoff schon ganz in sie vernarrt war. Er erhob sich gegen das Ende der Tafel, ein Glas Champagner in der Hand, und sprach zu Paul Petrowitsch gewendet:
»Du verläßt uns ... du verläßt uns, lieber Bruder; hoffentlich für kurze Zeit, doch kann ich dem Wunsche nicht widerstehen, dir auszudrücken, was ... ich ... was wir ... wie sehr ich ... wie sehr wir ... das Unglück ist, daß wir Russen keinen ›Speech‹ zu halten verstehen. Arkad, rede du an meiner Stelle.«
»Nein, Papa, ich bin nicht darauf vorbereitet.«[304]
»Du bist immer noch besser vorbereitet als ich! Kurz, lieber Bruder, erlaube mir, dich einfach zu umarmen und dir alles denkbare Glück zu wünschen; komm so bald als möglich wieder zu uns zurück.«
Paul Petrowitsch umarmte sämtliche Mitglieder der Gesellschaft, ohne, wohlverstanden, Mitia auszunehmen; er küßte zudem Fenitschka die Hand, die sie ihm ziemlich linkisch darreichte; dann trank er ein zweites Glas Champagner aus und rief mit einem tiefen Seufzer:
»Seid glücklich, Freunde! Farewell!«
Dieses englische Wort blieb unbeachtet, die Gäste waren alle zu bewegt.
»Dem Andenken Bazaroffs!« flüsterte Katia ihrem Manne ins Ohr und stieß mit ihm an. Arkad drückte ihr die Hand, wagte aber nicht, den Toast auszubringen.
Damit, dünkt mich, ist die Geschichte zu Ende. Vielleicht aber wünschen einige unserer Leser zu wissen, wie sich die verschiedenen Personen unserer Erzählung augenblicklich befinden. Es macht uns Vergnügen, diesem Wunsche zu entsprechen.
Anna Sergejewna hat sich ganz kürzlich verheiratet; sie hat eine Vernunftheirat geschlossen. Der, den sie zum Gemahl genommen, ist einer unserer zukünftigen Aktionsmänner, ein bedeutender Rechtsgelehrter, von ausgesprochen praktischem Sinn, mit starkem Willen und großer Redegewandtheit begabt; übrigens noch ziemlich jung, brav, aber von eisiger Kälte. Sie führen eine musterhafte Ehe und werden es schließlich zu häuslichem Glück, vielleicht gar bis zur Liebe bringen. – Die Fürstin X ist tot und seit dem Tage ihres Hinscheidens vergessen. Vater und Sohn Kirsanoff haben sich in Marino eingerichtet;[305] ihre Geschäfte fangen an, etwas besser zu gehen; Arkad ist ein tüchtiger Landwirt geworden, und das Gut wirft bereits eine ziemlich beträchtliche Rente ab. Nikolaus Petrowitsch wurde zum Friedensrichter erwählt und erfüllt seine Amtspflichten mit dem größten Eifer, er durchreist unaufhörlich den ihm angewiesenen Bezirk, hält lange Reden, denn er ist der Ansicht, daß dem Bauern »Vernunft beigebracht«, das heißt, ihm dieselbe Sache bis zum Überdruß wiederholt werden müsse; indessen, um die Wahrheit zu gestehen, gelingt es ihm weder die aufgeklärten Herren Edelleute, welche über die »mancipation« bald geziert, bald schwermutsvoll diskutieren, noch die ungebildeten gnädigen Herren vollständig zu befriedigen, welche diese unglückselige »mouncipation« offen verfluchen; die einen wie die andern finden ihn zu lau. Katharina Sergejewna hat einen Sohn bekommen, und Mitia ist schon ein kleiner drolliger Kerl, welcher artig genug läuft und schwatzt. Fenitschka, jetzt Fedosia Nikolajewna, liebt nach ihrem Gatten und Sohn niemand auf der Welt so sehr wie ihre Schwiegertochter, und wenn sich diese ans Pianino setzt, würde sie gern den ganzen Tag an ihrer Seite bleiben. Noch dürfen wir Peter nicht vergessen; er ist ganz stupid und von Wichtigkeit aufgeblasener als je geworden; das hat ihn aber nicht verhindert, eine ziemlich vorteilhafte Heirat zu schließen; er hat die Tochter eines Gärtners aus der Stadt geheiratet, die ihn zwei anderen Verlobten vorgezogen hat, weil diese keine Uhr hatten, während er nicht nur eine Uhr, sondern auch lackierte Halbstiefel besaß![306]
Auf der Brühlschen Terrasse in Dresden kann man zwischen zwei und drei Uhr, der fashionabelsten Promenadenzeit, einem ganz weißköpfigen Mann in den Fünfzigen begegnen, der an der Gicht zu leiden scheint, aber noch schön ist, elegant gekleidet, und von jenem besonderen Stempel, den die Gewohnheit der großen Welt aufprägt. Dieser Spaziergänger ist kein anderer als Paul Petrowitsch Kirsanoff. Er hat Moskau aus Gesundheitsrücksichten verlassen und sich in Dresden angesiedelt, wo er vornehmlich mit den englischen und russischen Fremden umgeht. Ersteren gegenüber beobachtet er ein einfaches, beinahe bescheidenes, aber immer würdiges Benehmen; sie finden ihn ein wenig langweilig, halten ihn aber für »a perfect gentleman«. Im Umgang mit den Russen fühlt er sich behaglicher, läßt seinem galligen Humor die Zügel schießen, verspottet sich selbst und schont die andern nicht; er tut aber dies alles mit liebenswürdigem Sichgehenlassen und ohne jemals die gute Lebensart zu verletzen. Er bekennt sich überdies zu den Ansichten der Slawophilen, und bekanntlich gilt diese Anschauungsweise in der hohen russischen Welt für besonders vornehm. Er liest kein russisches Buch, aber man sieht auf seinem Schreibtisch einen silbernen Aschenbecher in der Form eines bäuerlichen »Lapot«. Von unseren Touristen wird er häufig aufgesucht. Matthias Ilitsch Koliazin, der augenblicklich in die Reihen der »Opposition« getreten ist, hat ihm auf einer Reise in die böhmischen Bäder seine Aufwartung gemacht, und die Bewohner Dresdens, mit denen er übrigens keinen näheren Verkehr hat, scheinen eine Art Verehrung für ihn zu haben. Niemand[307] kann so leicht wie der »Herr Baron von Kirsanoff« eine Eintrittskarte in die Hofkapelle, eine Theaterloge usw. erhalten. Er tut Gutes, soviel er kann, und immer etwas geräuschvoll; nicht umsonst ist er einst ein »Löwe« gewesen, aber das Leben ist ihm zur Last, mehr als er selber ahnt. Es genügt, ihn in der russischen Kirche zu sehen, wenn er, zur Seite an die Mauer gelehnt und den Ausdruck der Bitterkeit auf den festgeschlossenen Lippen, unbeweglich dasteht und träumt, dann plötzlich den Kopf schüttelt und sich fast unmerklich bekreuzt.
Frau Kukschin hat schließlich auch das Land verlassen. Sie ist gegenwärtig in Heidelberg, und studiert nicht mehr die Naturwissenschaften, sondern die Architektur, und hat da, wie sie sagt, neue Gesetze entdeckt. Wie ehemals verkehrt sie mit den Studenten, und besonders mit den jungen russischen Physikern und Chemikern, von denen Heidelberg wimmelt und die, wenn sie die naiven deutschen Professoren in der ersten Zeit ihres Aufenthalts durch die Richtigkeit ihres Urteils in nicht geringes Erstaunen gesetzt haben, dieselben kurz darauf durch ihren vollständigen Müßiggang und ihre beispiellose Faulheit in noch viel größeres Erstaunen setzen. Mit zwei oder drei Chemikern dieser Gattung, welche den Unterschied zwischen Sauerstoff und Stickstoff nicht kennen, aber alles kritisieren und sehr zufrieden mit sich selber sind, treibt sich Sitnikoff in Petersburg umher und setzt in Begleitung des »großen« Eliewitsch und mit dem Bestreben, diesen Ehrentitel gleichfalls zu verdienen, Bazaroffs »Werk«, wie er sich ausdrückt, fort. Man versichert, daß er kürzlich geprügelt wurde, jedoch nicht, ohne sich Genugtuung zu verschaffen; er hat in einem obskuren Artikel, der in einem obskuren Blatt[308] erschien, zu verstehen gegeben, daß sein Gegner eine feige Memme sei. Er nennt das Ironie. Sein Vater läßt ihn laufen wie gewöhnlich; seine Frau heißt ihn einen Schwachkopf und Literaten.
In einem der fernsten Winkel Rußlands liegt ein kleiner Kirchhof. Wie beinahe alle Kirchhöfe unseres Landes bietet er einen höchst traurigen Anblick dar; die Gräben, welche ihn einhegen, sind seit lange vom Unkraut überwuchert und ausgefüllt, die hölzernen Kreuze liegen auf der Erde oder halten sich kaum noch, geneigt unter den einst bemalt gewesenen kleinen Dächern, welche über ihnen angebracht sind; die Leichensteine sind von der Stelle gerückt, als ob sie jemand von unten weggestoßen hätte; zwei oder drei fast blätterlose Bäume geben kaum ein wenig Schatten; Schafe weiden zwischen den Grabhügeln. Einer jedoch ist da, den die Hand des Menschen verschont und die Tiere nicht mit Füßen treten; die Vögel allein kommen und setzen sich auf ihn nieder, und singen da jeden Morgen beim ersten Tageslicht. Ein Eisengitter umgibt ihn, und an den Enden stehen zwei junge Tannen. Es ist das Grab Eugen Bazaroffs. Zwei Leute, ein Mann und eine Frau, gebeugt von der Last der Jahre, kommen oft dahin aus einem Dörfchen der Nachbarschaft; eins aufs andere gestützt, nähern sie sich langsamen Schritts dem Gitter, sinken auf die Knie und weinen lang und bitterlich, die Augen auf den stummen Stein geheftet, der ihren Sohn deckt; sie wechseln einige Worte, wischen den Staub ab, der auf der Platte liegt, richten einen Tannenzweig auf, fangen wieder an zu beten und können sich nicht entschließen, diesen Ort zu verlassen, wo sie ihrem Sohn, wo sie seinem Andenken näher zu sein glauben.[309] Ist es möglich, daß ihre Gebete, ihre Tränen vergeblich wären? Ists möglich, daß reine, hingebende Liebe nicht allmächtig sei? O nein! Wie leidenschaftlich, wie rebellisch das Herz auch war, das in einem Grabe ruht, die Blumen, die darauf erblühen, sehen uns freundlich mit ihren unschuldigen Augen an; sie erzählen uns nicht allein von der ewigen Ruhe, von der Ruhe der »gleichgültigen« Natur; sie erzählen uns auch von der ewigen Versöhnung und von einem Leben, das kein Ende haben soll.[310]
Buchempfehlung
Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.
52 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro