Zwanzigstes Kapitel.

Huck bringt das Geld beiseite. – Seltsames Versteck. – Trauerfeierlichkeiten. – Zur Erde bestattet.

[176] Als nun alle fortgegangen waren, fragte der König Mary Jane, ob sie auch Raum im Hause übrig hätte. Sie antwortete, sie habe ein Fremdenzimmer, das wohl Onkel William benützen könnte; ihr eigenes Zimmer, das etwas größer sei, würde sie gerne ihm überlassen, sie selbst könne ja in der Schwester Zimmer auf einem Feldbett schlafen, und oben auf dem Boden sei ein kleiner Verschlag mit einer Pritsche darin. Der König meinte, der Verschlag sei gerade recht für seinen Diener – womit er mich meinte.

Mary Jane führte uns hinauf und zeigte allen die Zimmer, die einfach und nett waren. Sie wollte ihre Kleider und andere Sachen aus dem Zimmer nehmen, falls sie Onkel Harry im Wege wären, aber er sagte, dies sei nicht der Fall. Die Kleider hingen längs der Wand, von einem Kalikovorhang bedeckt, der auf den Boden reichte. Ein alter haariger Koffer[176] stand in einer Ecke, ein Guitarrenkasten in der andern, und allerlei Kleinigkeiten und Zieraten, womit junge Mädchen ihre Zimmer schmücken, lagen und hingen umher. Der König sagte, es sei so viel hübscher und heimischer, und sie solle nur nichts verändern.

Am Abend hatten sie ein großes Essen, und all die Männer und Frauen waren dabei. Ich stand hinter den Stühlen des Königs und des Herzogs, den beiden aufwartend, die andern wurden von den Negern bedient. Mary Jane saß oben am Tisch, mit Susan neben sich, und sagte, wie schlecht die Semmeln geraten wären, und wie die eingemachten Früchte auch nicht ganz nach Wunsch seien, und wie zäh' die gebratenen Hühner – wie Frauen es gewöhnlich thun, um Komplimente zu fischen; und die Anwesenden wußten, wie alles ausgezeichnet gut war und wunderten sich und sagten: »Wie fangen Sie es an, daß Sie die Semmeln so schön gebräunt bekommen?« und »wo haben Sie diese herrlichen Früchte her?« und ähnliches Gerede, wie es bei dergleichen Gelegenheiten vorkommt.

Und als alles vorbei war, soupierten ich und die ›Hasenlippe‹ in der Küche von dem, was übrig war, während die andern den Negern aufräumen halfen.

Als ich allein war, fing ich an, über die Sache nachzudenken. Ich sagte zu mir: Soll ich heimlich zum Doktor gehen und diese Betrüger entlarven? Nein – das geht nicht. Er könnte verraten, wer's ihm gesagt, und dann würden König und Herzog mir die Hölle heiß machen. Soll ich insgeheim zu Mary Jane gehen und es ihr sagen? Nein – das wag' ich nicht. Ihr Gesicht, ein Blick könnte es ihnen verraten; sie haben das Geld und könnten damit entwischen. Wenn sie Hilfe herbeiholte, würde ich doch irgendwie hineinverwickelt werden. Nein, es giebt keinen passenden Ausweg als den einzigen: Ich muß das Geld irgendwie stehlen, und zwar so, daß sie keinen Verdacht auf mich haben. Ich will es stehlen und verstecken,[177] und nach einiger Zeit, wenn ich weit stromab bin, Mary Jane in einem Brief verraten, wo es versteckt ist. Aber ich muß das heut' nacht thun, wenn möglich, denn der Doktor hält sich vielleicht nicht so still, wie's jetzt scheint, und das könnte die beiden zur schnellen Flucht veranlassen.

Ich hielt es für das Beste, die Zimmer gleich zu durchsuchen. Oben war's dunkel, doch fand ich des Herzogs Zimmer und fing an, mit den Händen herumzufühlen. Da fiel mir aber ein, daß es dem König nicht ähnlich sähe, das Geld irgend jemandem anzuvertrauen; so ging ich denn in sein Zimmer und begann herumzutasten. Doch bald fand ich, daß ohne Licht nichts auszurichten sei; allein ich wagte nicht, eins anzuzünden. Auf einmal hörte ich Schritte und wollte schnell unters Bett kriechen. Ich berührte den Vorhang, der Mary Janes Kleider bedeckte; dahinter sprang ich und versteckte mich zwischen den Gewändern.

Sie kamen herein und schlossen die Thüre. Das erste, was der Herzog that, war, daß er unters Bett guckte; dann setzten sie sich und der König sprach:

»Nun, was ist's? mach's kurz, denn es ist besser, wenn wir da unten mitheulen und trauern, statt hier oben zu bleiben und Gelegenheit zu geben, daß man über uns rede.«

»Wohl denn, Kapet, so höre! Mir ist nicht recht; ich habe keine Ruhe. Der Doktor liegt mir im Kopf. Ich möchte deinen Plan wissen. Ich habe eine Idee, und ich glaube, eine gute.«

»Sprich sie aus, Herzog!« –

»Daß wir uns vor drei Uhr morgens hier aus dem Staube machen und stromab gleiten mit dem, was wir haben. Ich bin dafür, uns zu begnügen und zu verschwinden.«

»Was! nicht den Rest der Erbschaft hier zu verkaufen? Abzumarschieren wie ein paar Narren und acht-bis neuntausend Dollars wert Eigentum zurückzulassen, das mit Schmerzen darauf[178] wartet, eingesackt zu werden? – und noch dazu alles gut verkäufliches Zeug!«

Der Herzog murrte und meinte, der Sack Geld wäre genug, er wolle nicht noch weiter gehen – wolle nicht die drei Waisen um alles, was sie hätten, berauben.

»Was du für Zeug redest!« rief der König. »Denen rauben wir nichts, als bloß dies Geld. Die Leute, die das Eigentum kaufen, sind die Verlierenden; denn sobald sich's zeigt, daß es uns nicht gehörte – was nicht lange dauern wird, nachdem wir entwischt sind – ist der Verkauf ungültig, und das Eigentum fällt an die Erben zurück. Diese Waisen hier erhalten das Haus zurück und das ist genug für sie; sie sind jung und tüchtig und können sich leicht ihr Brot verdienen. Denen wird's nicht schlecht gehen. Denk doch nur, es giebt tausende und tausende, die es lange nicht so gut haben. Die hier können sich doch wahrhaftig über nichts beklagen.«

Der König schwatzte drauf los, bis endlich der Herzog nachgab; doch blieb er dabei, daß es eine große Thorheit sei, um so mehr, als der Doktor mit Entlarvung drohe. Der König entgegnete:

»Doktor oder Teufel! was scheren wir uns um die? Haben wir nicht alle Thoren der Stadt auf unserer Seite? Und ist das nicht genug Majorität?«

Sie wollten eben hinuntergehen, als der Herzog sagte:

»Ich glaube nicht, daß wir das Geld an einen guten Ort gethan haben.«

Ich horchte hoch auf, denn ich hatte schon gefürchtet, daß ich keinen Wink bekommen würde. Da fragte der König:

»Warum?«

»Weil Mary Jane von nun an in Trauer gehen wird; der erste Befehl, den die Negerin, die dies Zimmer aufräumt, erhält, wird sein: all diese Kleider fortzuschaffen, und meinst[179] du, solch schwarzes Gesindel könne Geld finden, ohne was davon beiseite zu schaffen?«

»Hast wieder einmal recht, Herzog,« rief der König; und er kam und krabbelte unter dem Vorhang herum, nur zwei bis drei Fuß von der Stelle, wo ich stand. Ich drückte mich fest an die Wand und hielt still, obwohl ich zitterte. Ich dachte, was wohl die Kerls thun würden, wenn sie mich hier fänden, und versuchte zu überlegen, was ich thun könnte, wenn sie mich entdeckten. Aber der König hatte bereits den Sack und argwöhnte nicht, daß ich da war. Nun steckten sie ihn durch einen Schlitz in den Strohsack, der unterm Federbett lag, und schoben ihn tüchtig ins Stroh hinein und sagten, da sei er gut aufgehoben, denn die Schwarzen pufften ja nur das Federbett auf und wendeten den Strohsack nicht öfter als höchstens zweimal im Jahr. Bevor die beiden die Treppe halb hinab waren, hatte ich den Geldsack herausgezogen. Ich kletterte in meinen Verschlag und versteckte ihn einstweilen dort. Ich nahm mir aber vor, ihn draußen irgendwo zu verbergen, denn wenn sie ihn vermißten, würden sie ja das ganze Haus durchstöbern. Das wußte ich wohl. Dann legte ich mich in meinen Kleidern auf die Pritsche; doch konnte ich nicht schlafen, selbst wenn ich's gewollt hätte, denn es ließ mir keine Ruhe, meine Arbeit zu beenden. Bald hörte ich König und Herzog kommen, da kroch ich von meinem Lager weg und forschte auf dem oberen Ende der Leiter, um zu sehen, ob was passieren würde. Aber es ereignete sich nichts.

So wartete ich, bis alles im Hause ruhig war und schlüpfte dann die Leiter hinab.

Ich kroch an ihre Thüren und lauschte; sie schnarchten.

So schlich ich denn auf den Zehen fort und kam glücklich unten an. Nirgends war ein Laut zu hören.

Ich guckte durch eine Spalte der Speisezimmerthür und[180] sah, daß die Männer, welche die Leichenwacht hielten, alle auf ihren Stühlen eingeschlafen waren. Die Thür in den Salon, wo der Tote lag, stand offen, und eine Kerze brannte in jedem Zimmer. Ich ging auf dem Vorplatz weiter und fand die andere Salonthür ebenfalls geöffnet. Ein Blick überzeugte mich, daß außer Peters Leiche niemand drin war. Ich ging vorüber, fand aber die Hausthür verschlossen und der Schlüssel steckte nicht. In diesem Augenblick hörte ich jemand hinter mir die Treppe herabkommen. Ich sprang in den Salon, sah mich rasch um, und der einzige Platz, wo ich das Säckchen verbergen konnte, war der Sarg. Der Deckel war etwas abgeschoben, daß das Gesicht des Toten sichtbar war. Ich steckte das Säckchen flink unter den Deckel, gerade unterhalb der gekreuzten Hände des Toten, bei deren Berührung mich schauderte. Dann huschte ich flink hinter die Thür.

Es war Mary Jane, die kam. Sie ging leise zum Sarg, sah hinein und kniete nieder; dann führte sie ihr Schnupftuch an die Augen und ich sah, daß sie weinte, obwohl ich's nicht hören konnte und ihr Rücken mir zugewendet war. Ich entwischte. Am Speisezimmer vorübergehend, versicherte ich mich erst, daß die Wächter mich nicht gesehen hatten, indem ich wieder durch die Spalten guckte. Alles war in Ordnung, sie hatten mich nicht bemerkt.

Ich schlüpfte jetzt hinauf zu Bette und fühlte mich sehr niedergeschlagen, weil die Sache, nachdem ich mir so viel Mühe gegeben und so viel Gefahr gelaufen hatte, so mißlich stand. Ich sagte mir, wenn der Sack nur bliebe, wo er ist, so wär' schon alles gut; denn sobald wir ein- bis zweihundert Meilen stromab wären, könnte ich Mary schreiben und sie könnte den Sarg wieder ausgraben lassen; so wird's aber schwerlich kommen, denn vor dem Zuschrauben des Deckels werden sie das Geld finden. Dann kriegt es der König wieder, und man wird es[181] ihm nicht wieder fortschmuggeln. Gern wär' ich hinuntergegangen, um den Sack herauszunehmen – doch wagte ich's nicht.

Als ich des Morgens hinunter kam, war das Gastzimmer verschlossen und die Wächter waren fortgegangen. Niemand war im Hause als die Familie, Witwe Bartley und unsere Bande. Ich beobachtete ihre Gesichter, um zu sehen, ob sie etwas gemerkt hätten, konnte aber nichts wahrnehmen.

Gegen Mittag kam der Leichenbestatter mit seinen Leuten. Sie setzten den Sarg in die Mitte des Zimmers auf zwei Stühle, stellten die andern Stühle in zwei Reihen auf, wozu sie von den Nachbarn einige borgten, sodaß Vorplatz, Salon und Speisezimmer voll waren. Ich sah, daß der Sargdeckel wie zuvor lag, doch wagte ich nicht, so lange Menschen da waren, ihn aufzuheben.

Allmählich versammelte sich das Volk. Die falschen Onkel und die Mädchen nahmen die Sitze zu Häupten des Sarges, und während einer halben Stunde kamen die Geladenen und nahmen Platz. Alles war still und feierlich, nur daß die Mädchen und die zwei Betrüger gebeugten Hauptes ihre Taschentücher vor die Augen hielten und dann und wann schluchzten.

Sie hatten eine Zimmerorgel geborgt, die ziemlich schadhaft war. Als alles bereit war, setzte sich ein junges Frauenzimmer davor und fing an, daran zu arbeiten. Es klang wohl etwas kreischend und stöhnend. Dann fiel die Gemeinde mit Gesang ein. Hierauf erhob sich Pastor Hobson langsam und feierlich, und begann zu reden. Plötzlich brach der furchtbarste Lärm im Keller los, den man sich denken konnte; es war nur ein Hund, aber er machte einen Heidenlärm und wollte gar nicht enden. Der Pfarrer mußte zu predigen aufhören. Es war sehr störend, und niemand wußte sich zu helfen. Bald jedoch machte der langbeinige Leichenbestatter dem Pfarrer ein Zeichen, als wollte er sagen »da werde ich Hilfe schaffen.«[182] Dann ging er hinaus, während das Gebell und der Lärm immer ärger wurden. Bald darauf hörten wir einen tüchtigen Krach, der Hund stieß ein schauerliches Geheul aus, dann ward alles totenstill und der Pfarrer fuhr in seiner Predigt fort, wo er aufgehört hatte. Nach einer Weile erschien der Leichenbestatter wieder; schlich leise an der Wand entlang, bis er angesichts des Pfarrers war und rief mit heiserem Tone zu ihm hinüber, indem er den Hals vorstreckte und die Hand über den Mund hielt: »Er hatte eine Ratte!« Diese Auskunft verbreitete unter den Anwesenden sichtlich Befriedigung.

Die Predigt war zweifellos sehr gut, aber heillos lang und ermüdend; und zum Überfluß mußte der König noch etwas von seinem Senf dazuthun. Endlich war auch dies gethan, und der Leichenbestatter näherte sich mit einem Schraubenzieher dem Sarge. Mir wurde ganz heiß dabei zu Mute. Aber er hob den Deckel nicht, schob ihn nur zurecht und schraubte ihn fest. Nun wußte ich nicht, ob das Geld drin war oder nicht. Wie, wenn jemand den Sack insgeheim herausgenommen hat? Wie sollte ich jetzt wissen, ob ich Mary Jane schreiben mußte oder nicht? Angenommen, sie gräbt ihn aus und findet nichts – was würde sie von mir denken? Sie könnten mich vielleicht verfolgen und einsperren; lieber schreibe ich nicht.

Sie begruben ihn, wir kamen heim, und ich beobachtete wieder die Gesichter – ich konnte nicht anders, ich hatte keine Ruhe. Es kam aber nichts dabei heraus; die Gesichter sagten mir nichts.

Der König machte am Abend Besuche, war gegen jedermann sehr liebenswürdig und wurde äußerst beliebt. Er deutete an, daß seine Gemeinde in England ihn nicht lange entbehren könne, daß er sich darum mit der Ordnung der Hinterlassenschaft beeilen müsse, um bald heimreisen zu können. Er bedauerte, daß er solche Eile habe, und den andern that es[183] auch leid; sie wünschten, er hätte länger bleiben können, doch sahen sie wohl ein, daß das nicht ginge. Auch sagte er, daß natürlich er und William die Mädchen mit sich heimnehmen würden; das freute alle, denn die Mädchen würden bei ihren eigenen Verwandten gut aufgehoben sein. Das gefiel den Mädchen auch und freute sie so sehr, daß sie ihren Kummer ganz vergaßen. Sie baten den König, so schnell als möglich alles zu verkaufen. Die armen Dinger waren so froh und glücklich; mir that das Herz weh, sie so bethört und belogen zu sehen, aber ich konnte nicht helfen.

In der That ließ der König sofort das Haus, die Neger und alles Eigentum zur Versteigerung anzeigen; doch konnte auch vorher jedermann aus freier Hand kaufen, was er wünschte.

Quelle:
Twain, Mark: Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn. Stuttgart 1892, S. 176-184.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn
Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon