Ludwig Uhland

Über das Romantische

[398] Das Unendliche umgibt den Menschen, das Geheimnis der Gottheit und der Welt. Was er selbst war, ist und sein wird, ist ihm verhüllt. Süß und furchtbar sind diese Geheimnisse.

Hier zieht sich um sein einsames Schiff das unermeßliche Weltmeer; er zittert von dem dumpfen Brausen, das ihm Sturm dräut. Und wenn er auch das Land erreicht, ist er sicher, daß nicht der Ozean, der die Veste rings umgürtet, mächtig hereinwoge und sie mit ihm verschlinge?

Dort hebt sich über ihm und dem Irdischen der heilige Äther. Der Gedanke will sich in diesen reichen Sternenhimmel mit seinen kalten, inhaltlosen Dreiecken heben. Die reellen Seelenkräfte langen mit unendlicher Sehnsucht in die unendliche Ferne. Der Geist des Menschen aber, wohl fühlend, daß er nie das Unendliche in voller Klarheit in sich auffassen wird, und müde des unbestimmt schweifenden Verlangens, knüpft bald seine Sehnsucht an irdische Bilder, in denen ihm doch ein Blick des Überirdischen aufzudämmern scheint; mit liebender Andacht wird er solche Bilder umfassen, ihren geheimsten Mahnungen lauschen wie Maria den Gott in Kindesgestalt am Busen wiegte; sie erscheinen ihm wie Engel freundlich grüßend, aber zugleich mit dem Fittig, auf dem sie sich immer in das Unendliche aufschwingen können.

Aber auch jene furchtbare Welt sendet uns ihre Gestalten, die schaurigen Nachtgeister; bedeutende Stimmen hören wir aus der Finsternis. Fast in jedem Bilde, das ein Geheimnis andeutet, glauben wir gerade eines jener großen Geheimnisse zu ahnen, nach denen unser Sinn mit oder ohne Bewußtsein immer sich hinneigt.

Dies mystische Erscheinen unsres tiefsten Gemütes im Bilde, dies Hervortreten der Weltgeister, diese Menschwerdung des Göttlichen, mit einem Worte: dies Ahnen des Unendlichen in den Anschauungen ist das Romantische.

Die Griechen, in einem schönen genußreichen Erdstriche wohnend, von Natur heiter, umdrängt von einem glänzenden tatenvollen Leben, mehr äußerlich als innerlich lebend,[398] überall nach Begrenzung und Befriedigung trachtend, kannten oder nährten nicht jene dämmernde Sehnsucht nach dem Unendlichen. Ihre Philosophen suchten es in lichten Systemen aufzufassen, ihre Dichter stellten jeder innern Regung des Höheren äußerlich eine helle, mit kräftigen Umrissen abgestochene, mit bezeichnenden Attributen ausgerüstete Göttergestalt entgegen. Ihr Olymp stand in lichter Sonne da, jeder Gott, jede Göttin ließ sich klar darauf erblicken.

Einzelne Erscheinungen in der griechischen Poesie sind vielleicht mehr für uns romantisch, als sie es für die Griechen selbst waren.

Der Sohn des Nordens, den seine minder glänzenden Umgebungen nicht so ganz hinreißen mochten, stieg in sich hinab. Wenn er tiefer in sein Inneres schaute als der Grieche, so sah er eben darum nicht so klar. Seine Natur lag halb in den Wolken. Daher waren seine Götter ungeheure Wolkengestalten, ossianische Nebelgebilde; er wußte von Meerfeien, die aus der blauen, unendlichen See auftauchten, von Elfen, Zwergen, Zauberern, die alle mit seltsamer Kunde aus den Tiefen der Natur hervortraten. Er verehrte seine Götter in unscheinbaren Steinen, in wilden Eichenhainen, aber um diese Steine bewegte sich der Kreis des Unsichtbaren, durch diese Eichen wehte der Odem der Himmlischen.

So finden wir uns mitten in dem Begriffe des Romantischen, wie er oben angegeben worden.

Wie der romantische Sinn der gotischen Stämme sich mit ihnen in verschiedene Länder verbreitete oder mit der Romantik andrer Völker zusammentraf, wie das Romantische sich in verschiedenen Gegenden verschieden gestaltete, und so manches andre sind wichtige Gegenstände historischer Untersuchung. Auch möchte es nicht unerheblich sein zu entwickeln, wie sich das Wort romantisch von seiner nationalen Beziehung zum Kunstbegriff erweiterte. Hier nur noch von einigen Hauptmomenten der Romantik, und zwar zuerst von dem romantischen Christentum und der romantischen Liebe.

Das Christentum trat auf mit erhabenen Lehrworten aus dem Reiche der Unendlichkeit. Seine Nachfolger ergriffen zu diesen Worten die Bilder, als da sind: das Kreuz, das Abendmahl (daher in der Folge die Romane vom Gral) usf.; sie bestaunten die Wirkungen der Religion in den Heiligen,[399] diesen Wundergestalten mit dem Scheine des Himmels um das Haupt. Die Wallfahrten, die Kreuzzüge waren eine Folge des Glaubens an die Heiligkeit gewisser Gegenstände und Gegenden: des Grabes Jesu, der Stadt Jerusalem, des ganzen gelobten Landes. Das Christentum ist ein viel umfassender Gegenstand der Romantik, aber wohl nicht die Mutter derselben. Schon in den alten, nordischen Götter- und Heldensagen herrscht der romantische Sinn.

Der Geist der romantischen Liebe (Minne) ist dieser: durch die Bande der Natur und des Charakters an das Weib gezogen, glaubt der Mann in der himmlischen Gestalt seinen Himmel zu finden; des Weibes kindliche Einfalt ist ihm die Kindheit einer höheren Welt. Er legt hinter die schöne Hülle das Ziel von all seinem Sehnen, seine ganze Unendlichkeit. Daher die Anbetung, mit der er vor der Geliebten kniet. Ihr Rosenantlitz erscheint ihm in Verklärung, aus ihren Augen leuchtet ihm der Himmel mächtig hervor.

Jedes leise Zeichen der Huld ist ihm Segen aus der Höhe, jede zarte Rede ist ihm hohe Offenbarung.

Was daran Schein seie, was Wahrheit, wer will es ergründen?

Religion und Minne sind es, für die der Helden Kraft rang und strebte; Religiosität, Minne und Tapferkeit machen den Geist der Ritterwelt aus.

Es gibt romantische Charaktere, d.h. solche, die der romantische Glaube ganz ergriffen hat und Motiv ihrer Gesinnungen und Handlungen wird: Mönche, Nonnen, Kreuzritter, Ritter des Grals usf. wie überhaupt alle die poetischen Ritter und Frauen des Mittelalters.

Auch die Natur hat ihre Romantik. Blumen, Regenbogen, Morgen- und Abendrot, Wolkenbilder, Mondnacht, Gebirge, Ströme, Klüfte usw. lassen uns teils in lieblichen Bildern einen zarten, geheimen Sinn ahnen, teils erfüllen sie uns mit wunderbarem Schauer.

Manche Naturerscheinungen, Orkan, Gewitter stürmen zu rauh herein, sprechen ihren Sinn zu laut aus, übertäuben zu sehr die Ahndung durch Schrecken, um noch romantisch zu sein. Doch können sie es werden, wenn sie mehr untergeordnet, etwa in einer Handlung als Vorbedeutung eintreten.

Eine Gegend ist romantisch, wo Geister wandeln; mögen sie uns an vergangene Zeiten mahnen oder sonst in geheimer[400] Geschäftigkeit sich um uns her bewegen. Wir stehn noch außer dem Reigen der luftigen Elfen, die nach der nordischen Sage nur der sieht, der innerhalb ihres Kreises steht; aber wir fühlen ihre wehende Bewegung, wir hören ihre flüsternden Stimmen.

Die Romantik ist nicht bloß ein phantastischer Wahn des Mittelalters. Sie ist hohe, ewige Poesie, die im Bilde darstellt, was Worte dürftig oder nimmer aussprechen; sie ist das Buch voll seltsamer Zauberbilder, die uns im Verkehr verhalten mit der dunkeln Geisterwelt; sie ist der schimmernde Regenbogen, die Brücke der Götter, worauf nach der Edda sie zu den Sterblichen herab- und die Auserwählten zu ihnen emporsteigen. Hat denn stets der absprechende Unglaube der neuen Zeit bessern Grund als der verrufene Aberglaube der alten?

Auch hat der beständige Umgang mit dem Wunderbaren, das von allen Seiten über uns hereinhängt, so vielen den Sinn dafür benommen. Sie haben es verwechselt mit ihrer Gemeinheit, und wem noch der höhere Blick geblieben, den nennen sie Schwärmer.

Nun so laßt uns Schwärmer heißen und gläubig eingehn in das große romantische Wunderreich, wo das Göttliche in tausend verklärten Gestalten umherwandelt!


[Schluß eines früheren Entwurfs]

... Es gehört großer poetischer Reichtum dazu, um im Romantischen zu glänzen. Der romantische Dichter darf nicht mit ewig wiederkehrenden Bildern, mit längst verdufteten Blumen die Welt langweilen und anwidern. Ein schöpferischer Geist muß mit gewaltigem Zauberstab immer neue und wechselnde Erscheinungen hervorrufen. Auch ist es nicht damit getan, das buntfarbige Feuerwerk spielen zu lassen, das mit zuckenden, sich kreuzenden Lichtern das Auge blendet. Wir wollen nicht bunte Seifenblasen der Phantasterei vor uns aufsprudeln sehen; im Spiele soll Bedeutung liegen, im Bilde das göttliche Leben.

Ferner hat sich der Dichter wohl zu wahren, daß er nicht unverständlich werde, am wenigsten also darf er geflissentlich in Mystizismus sich hüllen. Er muß uns wirklich den[401] Sinn andeuten, der hinter seinen Bildern liegt. Er führe uns von der festen Grundlage des Deutlichen allmählich in das Reich der Ahndungen und Träume hinüber. Man kann die Knospe aufhauchen, die Blume bleibt dennoch ein zartes Geheimnis.

Tieck und andere benutzten zu diesem Ende die Volksromane. Das Faktum bringt einen sichern, unzweideutigen Eindruck hervor. Hat uns der Dichter auf diese Höhe geführt, so kann er, ohne daß wir ihn aus dem Auge verlieren, mit melodischem Fluge in den zartesten Äther aufsteigen.

Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 2, München 1980.
Entstanden 1807. Veröffentlicht im handschriftlich verbereiteten »Sonntagsblatt für gebildete Stände« vom 1.3.1807. Erstdruck durch Karl Meyer im Weimarischen Jahrbuch für deutsche Sprache und Literatur (Weimar), 1856.
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