Neunter Gesang.

[351] Während sich dies auf etrurischem Boden ereignete, schickte

Juno, die Tochter Saturns, vom Himmel die Iris zum tapfren

Turnus hernieder. Er lagerte eben im heiligen Tale

unter den Bäumen des Ahnherrn Pilumnus. Die Tochter des Thaumas

brachte mit jugendlich schwellenden Lippen ihm folgende Botschaft:

»Turnus, was keiner der Götter auf Wunsch zu versprechen dir wagte,

das gewährt dir der Lauf des Tages ohne dein Zutun:

Fürst Aeneas verließ die Flotte, die Stadt, die Gefährten,

suchte am Palatin auf die Wohnstatt des Königs Euander!

Mehr noch: Er rückte voran zu den fernsten etruskischen Städten,

bis zu den Lydern, und ruft das Landvolk bereits zu den Waffen!

Wozu noch zaudern? Jetzt gilt es den Einsatz von Rossen und Wagen!

Laß dich nicht aufhalten, nein, überrumple das feindliche Lager!«

Damit erhob sie zum Himmel sich wieder mit kraftvollen Schwingen,

zog im Dahinfliegen unter den Wolken den mächtigen Bogen.


Deutlich erkannte der Held die Göttin, streckte die Hände

hoch zu den Sternen und rief hinterdrein der entschwebenden Botin:

»Iris, du Zierde des Himmels, wer schickte dich mir von den Wolken

nieder zur Erde? Woher strahlt plötzlich so heiter das Wetter?

Sehe ich aufklaffen doch in der Mitte das Himmelsgewölbe,

Sterne den Pol umkreisen. Ich folge dem hohen Befehle,

wer auch durch dich zu den Waffen mich ruft.« Er begab sich zum Wasser,

tauchte die Arme ins Naß und betete fromm zu den Göttern,

richtete innig Gelübde für guten Erfolg an den Äther.
[351]

Offen ins Feld schon rückte geschlossen die Streitmacht, an Rossen

reich, an vielfarbigen Rüstungen wie auch an goldenem Zierat.

Führte Messapus die Vorhut, die Söhne des Tyrrhus den Nachtrab,

so übernahm Fürst Turnus, als Feldherr des Ganzen, die Mitte,

ragte gewappnet mit seinem Haupte hoch über die Menge.

Ebenso strömt, gespeist von den sieben Quellflüssen, ruhig

vorwärts der tiefe Ganges, genauso der Nil nach dem starken

Hochwasser, wenn er zurückgeht und wieder im Flußbett sich sammelt.


Plötzlich erspähten die Teukrer von ferne, wie Wolken aus düstrem

Staube sich ballten und weithin die Fluren in Dunkelheit hüllten.

Laut von der vorderen Schanze erhob Kaïkos die Stimme:

»Was für ein Haufen wälzt sich dort finster heran, ihr Trojaner?

Schnell zu den Waffen, zu Schwertern und Lanzen, besetzt rasch die Wälle!

He, schon im Anmarsch der Feind!« Da strömten die Teukrer durch alle

Tore zurück in die Siedlung und stiegen zum Kampf auf die Schanzen.

Hatte doch der im Kriege aufs beste bewährte Aeneas

noch vor dem Aufbruch gemahnt: Wenn inzwischen ein Streit sich entspinne,

sollten sie ja nicht das Wagnis der offenen Schlacht auf sich nehmen,

vielmehr das Lager allein und die sicheren Erdwälle schützen.

Freilich, jetzt wollten Scham und Empörung zum Nahkampf sie locken;

dennoch verrammelten sie die Tore und folgten der Weisung:

Harrten in Waffen des Angriffs, gedeckt von den Türmen der Schanzen.


Turnus, mit zwanzig erlesenen Reitern, war der nur langsam

ziehenden Hauptmacht voraus schon geeilt und erschien unvermutet[352]

vor der Befestigung, ritt auf geschecktem thrakischem Rosse,

trug auf dem Haupte zum Schutz den Goldhelm mit tiefrotem Buschen.

»Wer, Kameraden, stürzt sich, als erster mit mir, auf den Gegner?«

rief er. »Da, sehet!« In Richtung des Feindes entsandte er seinen

Speer durch die Lüfte, zum Zeichen des Angriffs, und preschte dann vorwärts.

Seine Gefährten begrüßten es jauchzend, sie folgten mit wildem

Schlachtgeschrei, staunten nur über die scheinbare Trägheit der Troer,

die vor dem Blachfeld sich scheuten, zum Kampfe nicht ausrückten, sondern

wartend im Lager sich hielten. Vom Sattel aus musterte Turnus

zornig die Schanzen ringsum und suchte durch Sperren den Zugang.

Wie wenn ein Wolf die von Schafen wimmelnden Ställe umlauert,

draußen am Hürdenzaun heult, gepeitscht von stürmischem Regen,

jenseits der Mitternacht schon, und die Lämmer in sicherer Obhut

unter dem Muttertier blöken, der Räuber, ungestüm, rasend

gegen die ferne Beute nur tobt, die schon lange gestaute

Freßgier, der trockne, nach Blut wild lechzende Rachen ihn quälen:

ebenso packte den Rutuler jetzt beim Mustern der Wälle

brennender Zorn. Zutiefst durchdrangen ihn Schmerz und Enttäuschung.

Wie noch erzwingen den Zugang? Auf welche Weise die Teukrer

jagen aus sichrer Verschanzung, sie fort in die Ebene treiben?


Seitlich des Lagers, dicht neben ihm, ankerten, gleichfalls von Wällen

wie von dem Flußlauf sicher umhegt, die troischen Schiffe.

Gegen sie stürmte jetzt Turnus, wollte, im Beifall der Seinen,

anstecken sie, griff selber, wutlodernd, zum flammenden Kienspan.

Ungestüm stürzten sie vor, sie spornte das Beispiel des Fürsten,[353]

sämtliche Männer versahen sich gleich mit schwelenden Fackeln,

rissen von Herden die Glut; das Kiefernholz brannte rotleuchtend,

wirbelte Rauch auf; den blies mit der Asche Vulcanus zum Himmel.


Was für ein Gott, ihr Musen, bewahrte die Teukrer vor solchen

schrecklichen Flammen? Wer schützte die Flotte vor solcher Vernichtung?

Sagt es! Man glaubt es seit uralter Zeit, doch hält sich die Sage.


Damals, als Vater Aeneas am phrygischen Ida die Schiffe

baute und über die offene See zu fahren gedachte,

sprach, so erzählt man, die berekynthische Mutter der Götter

zu dem erhabenen Sohn: »Erfülle doch, bitte, der teuren

Mutter den Wunsch, den an dich als den Herrn des Olympus sie richtet!

Mir gehört ein Wäldchen von Kiefern, schon lange mir teuer.

Hoch auf der Kuppe erhob sich der Hain, die Stätte des Opfers,

düster umschattet von dunklen Föhren und stämmigem Ahorn.

Gern überließ ich zum Schiffsbau die Bäume dem troischen Helden,

als er die Flotte benötigte. Heute bedrängen mich Sorgen.

Mache mich frei von der Furcht, gewähre der Mutter die Bitte:

Mag unterwegs die Flotte nie scheitern, kein Sturm sie versenken;

sei es ihr Vorteil, daß sie auf meinen Bergen einst aufwuchs!«


Antwort gab ihr der Sohn, der Lenker der Weltallsgestirne:

»Mutter, was willst du vom Schicksal? Was wünschst du zugunsten der Schiffe?

Sollen die Kiele, von Sterblichen einstmals geschaffen, unsterblich

werden? Und soll Aeneas die schweren Gefahren so leichthin

meistern? Welche Gottheit besitzt solch weite Befugnis?

Eins nur vermag ich: Erreichten die Schiffe ihr Ziel und die sichren

Häfen Ausoniens, werde ich jedem von ihnen, das glücklich[354]

über die Meere den troischen Helden bis nach Laurentum

brachte, die Sterblichkeit nehmen, will es verwandeln in eine

Göttin der See, die, vergleichbar den Töchtern des Nereus, der Doto,

der Galatea, heiter durchquert die schäumenden Wogen.«

Dieses Versprechen beschwor er beim Strome des stygischen Bruders,

der mit pechschwarzen Wirbeln zwischen den Ufern dahinbraust;

kräftig erschütterte er im Nicken den ganzen Olympus.


Nunmehr hatten die Parzen die Stunde der Einlösung dieser

Zusage anbrechen lassen: Das unrechte Handeln des Turnus

mahnte die Mutter, die heiligen Schiffe vor Flammen zu schützen.

Plötzlich erstrahlte ein Licht, wie es Augen noch niemals geblendet,

weit überzog von Osten ein Glanzstreifen mächtig den Himmel,

Reigen vom Ida mit ihm; durch die Lüfte donnerte eine

furchtbare Stimme, den Rutulern wie auch den Troern verständlich:

»Teukrer, ihr braucht nicht angstvoll die Schiffe zu schützen, auch keine

Waffen zur Hand zu nehmen: Turnus entzündet die Salzflut

eher als dieses geheiligte Kiefernholz. Löst euch vom Ufer,

Schiffe, und schwimmt als Meernymphen fort; das befiehlt euch die Mutter!«

Sämtliche Schiffe lösten sofort die Taue vom Ufer,

tauchten die Rammen ins Naß wie Delphine, hinab bis zum Grunde.

Darauf erschienen sie wieder, ein Wunder, als Mädchen, genauso

viele, wie eben noch ehern beschlagene Schiffe am Strande

festgetäut lagen, und schwammen hinaus in die Weite des Meeres.


Staunen ergriff die Rutuler. Heftig erschrak auch Messapus,

als sein Gespann vor Verwirrung sich bäumte. Laut aufrauschend stockte

zögernd der Thybris, er zog sich zurück vor den Fluten des Meeres.[355]

Nur der vermessene Turnus bewahrte die Zuversicht, suchte

kraftvoll den Mut zu beleben und schalt die Zaudernden heftig:

»Gegen die Troer richtet das Wunder sich. Jupiter selber

hat sie beraubt der gewohnten Hilfsmittel. Waffen und Flammen

seitens der Rutuler brauchen sie nicht. Sie können nicht länger

Meere befahren, auf Flucht nicht mehr bauen, sie haben die halbe

Macht jetzt verloren. Uns freilich gehört das Festland; die Völker,

Tausende, stehen in Waffen. Mich schrecken durchaus nicht Orakel,

wie die Trojaner sie prahlerisch nennen, Auskünfte der Götter.

Schicksal und Venus erreichten genug: Die Phryger betraten

nunmehr Ausoniens fruchtbare Fluren! Ich habe auch meine

Schicksalsbestimmung, ich soll mit dem Schwert das Verbrechervolk tilgen,

das mir die Gattin entriß. Nicht allein die Atriden erlitten

solcherlei Kummer, nicht nur Mykene sollte sich wappnen.

›Aber ein Untergang reicht doch!‹ Dann hätten sie auch nur zum ersten

Mal sich versündigen sollen, sie müßten jetzt sämtliche Frauen

gründlich verabscheuen! Daß sie sich auf Verschanzungen stützen

können und hemmende Gräben – ein winziger Trennstrich vom Unheil! –,

macht sie verwegen. Doch sahen sie nicht die Mauern von Troja,

die einst Neptun errichtete, völlig in Flammen versinken?

Auf, ihr Erwählten, wer möchte mit Waffen die Schanzen vernichten,

möchte mit mir das Lager der furchtsamen Feinde erstürmen?

Waffen Vulcans und tausend Schiffskiele habe ich niemals

nötig zum Kampf mit den Troern. Und sollten sich alle Etrusker

ihnen verbünden sogleich: Die Teukrer brauchen kein Dunkel,

keine Ermordung der Burgwächter, keinen ruhmlosen Diebstahl

eines Minervabildes zu fürchten, wir schlüpfen in keinen

finsteren hölzernen Pferdebauch! Offen umstürmen mit Flammen

wir die Verschanzung. Ich werde sie lehren, daß heute nicht Griechen[356]

gegen sie kämpfen, die Hektor zehn Jahre lang siegreich zurückschlug.

Doch jetzt verflossen bereits die besten Stunden des Tages.

Widmet den Rest der Erholung, froh unsrer Erfolge, ihr Freunde,

seid überzeugt, daß der offene Kampf uns in Kürze bevorsteht!«


Sorglich verfügte Messapus zur Nacht Überwachung der Tore,

Fackellicht auch zur Beleuchtung der Wälle des feindlichen Lagers.

Ausgewählt wurden vierzehn Rutuler, die mit Begleitern

rings auf die Schanzen achtgeben sollten; jedem gehorchten

hundert Bewaffnete, glänzend von Goldschmuck, mit purpurnem Helmbusch.

Diese verteilten sich, stellten dann Posten aus, während die andern,

wachfrei, ins Gras sich streckten und zechend die Weinkrüge leerten.

Feuer verbreiteten Licht, und die Nacht durch hielt sich die Mannschaft

munter durch mancherlei Spiele.


Dies überschauten vom Wall aus die Troer und hielten die hohen

Punkte besetzt, überprüften voll Sorge das Vorfeld der Tore,

schlugen auch Brücken zu vorgeschobenen Posten und legten

Waffen bereit. Sie wurden von Mnestheus gespornt und dem tapfren

Helden Serestos. Ihnen hatte Aeneas, falls Feinde

angriffen, Oberbefehl und Entscheidungsgewalt übergeben.

Über den Wall hin bewachte man alle gefährdeten Stellen;

jeder versah, nach dem Lose, die ihm übertragenen Pflichten.


Nisos, des Hyrtakos Sohn, hielt Wache am Tore, ein kühner

Kämpfer. Ihn hatte die Mutter, die Jägerin Ida, als flinken

Pfeilschützen und als behenden Speerwerfer mit zur Begleitung

des Aeneas geschickt. Eurýalos wachte an seiner

Seite, der Schönste der troischen Helden im Heer des Aeneas;

unberührt noch, verriet sein Bartflaum das Alter der Reife.[357]

Innige Liebe verband sie, sie zogen zum Kampfe gemeinsam,

hatten auch heute zu zweit den Posten am Tor übernommen.


Da sprach Nisos: »Entfachen die Götter den Eifer der Menschen,

oder erhebt man das eigene grausame Trachten zur Gottheit?

Lange schon drängt es zum Kampfe mich oder zu einem gewagten

Handstreich, ich kann mich durchaus nicht begnügen mit friedlicher Ruhe.

Selber erkennst du das Selbstvertrauen der Rutuler: Spärlich

glimmen die Feuer, die Posten, von Schlummer und Wein überwältigt,

liegen am Boden, und Stille verbreitet sich weithin. So höre,

was ich erwäge und was als Entschluß allmählich sich festigt.

Alle, das Volk wie die Väter, verlangen des Helden Aeneas

Rückkehr, Entsendung von Boten, die sichere Nachrichten bringen.

Billigen dir sie den Lohn, den ich fordre – mir selber genügt ja

völlig der Ruhm –, so glaube ich dort, am Fuße des Hügels,

sicher den Weg zur Stadt Pallanteum finden zu können.«


Staunen empfand Eurýalos, tief berührt von dem Streben,

rühmliche Taten zu leisten, und gab dem begeisterten Freunde

Antwort: »Du möchtest mich also nicht mitnehmen in die Gefahren,

Nisos? Ich soll dich allein zu dem Wagnis ausziehen lassen?

Dazu erhob und erzog mich durchaus nicht mein Vater Opheltes,

er, der bewährte Krieger, während des griechischen Terrors,

Ilions bitterer Not, und derart versagte an deiner

Seite ich nicht als Gefolgsmann des tapfren Aeneas in seinem

furchtbaren Schicksal! Hier regt sich ein Mut, der als Daseinsverächter

gern für den hohen Ruhm, den du anstrebst, das Leben dahingibt!«


Nisos entgegnete: »Keinesfalls hegte ich solche Bedenken,

unbillig wäre es wirklich – so wahr ich den Sieg mir vom großen[358]

Jupiter wünsche, von jeglichem Gott auch, der gütig mein Handeln

anschaut! Nein, würden – was oftmals bei solchen Wagnissen eintritt –

würden ein Zufall oder ein Gott ins Unglück mich stürzen,

solltest am Leben du bleiben, dein Alter verdient es weit eher.

Möge ein Freund mich als Toten bergen vom Kampfplatze oder

auslösen mich, auch, sollte Fortuna das etwa verwehren,

mir doch ein Leergrab mit allen üblichen Ehrungen widmen!

Außerdem will ich nicht deine arme Mutter so quälen,

die doch allein von so zahlreichen Müttern, mein Lieber, dir folgte,

tapfer, die sichere Stadt des großen Akestes nicht vorzog.«


Darauf Euryalos: »Zwecklos ertüftelst du nichtige Gründe,

mein schon gefaßter Entschluß bleibt unumstößlich. Wir schreiten

schleunigst zur Tat!« Er weckte sofort die Ablösung. Diese

zog auf den Posten. Dann machte er sich an der Seite des Nisos

auf in das Lager, um vorzusprechen beim Sohn des Aeneas.


Alle Geschöpfe auf Erden erleichterten schon sich im Schlummer

still von den lastenden Sorgen, vergaßen die Not und die Mühsal.

Nur die trojanischen Fürsten und auserlesene Helden

hielten Beratung noch über das Schicksal des Reiches: Was sollte

man unternehmen und wen zu Aeneas als Boten entsenden?

Auf die hochragenden Lanzen gestützt, an den Armen die Schilde,

standen sie mitten im Lager! Da baten Nisos, an seiner

Seite Euryalos, sie um Gehör, voll Eifer: Es stehe

viel auf dem Spiele, der Aufschub lohne. Iulus gewährte

Zutritt sofort den Erregten, befahl dem Nisos zu sprechen.


Dieser begann: »Hört, bitte, Gefährten des Helden Aeneas,

wohlwollend zu und beurteilt unseren Plan nicht nach unsrem

Alter! Stumm liegen die Rutuler, Opfer des Weins und des Schlafes.[359]

Selber erspähten die Stelle wir, die uns den Durchbruch im stillen

sicher ermöglicht: Am Scheideweg hinter dem Tore, in nächster

Nähe der Küste, ist unterbrochen der Feuerring, kräuselt

düsterer Qualm nur sich hoch zu den Sternen. Dürfen den Umstand

wir für den Gang zu Aeneas, zur Stadt Pallanteum benutzen,

werdet ihr bald ihn beutebeladen nach furchtbarem Blutbad

eintreffen sehen. Auch können wir uns unterwegs nicht verirren.

Sahen wir doch auf den häufigen Jagdzügen tief aus den dunklen

Tälern den Stadtrand, konnten den ganzen Fluß auch erkennen.«


Daraufhin sprach der betagte, an Einsicht gereifte Aletes:

»Götter der Heimat, die ewig ihr über Ilion waltet,

offenbar wollt ihr doch nicht die Trojaner völlig vernichten,

wenn ihr noch junge Kämpfer von solcher Zuversicht, solchem

Mute hervorbringt!« Damit ergriff er an Schultern und Händen

beide, und über sein Antlitz rollten Tränen der Rührung.

»Welche Belohnungen könnte ich solcher ruhmreichen Leistung

wirklich für angemessen erachten, ihr Helden? Am besten

lohnen die Götter und euer Bewußtsein! Weiteres freilich

dürfte Aeneas euch pflichtbewußt geben sogleich, auch Ascanius

wird, in der Blüte der Jahre, nie eure Verdienste vergessen!«


»Niemals!« bestätigte Iulus. »Beruht doch mein Glück auf des Vaters

Rückkehr. Zu Schwurzeugen rufe ich, Nisos, die großen Penaten,

weiter den Lar des Assárakos wie auch das Heim der ergrauten

Vesta. Ich möchte mein ganzes Glück, mein ganzes Vertrauen

eurer Obhut anheimgeben. Bringt mir den Vater, vergönnt mir,

ihn zu erblicken! Nach seiner Errettung bleibt mir kein Kummer.

Je zwei Pokale aus Silber, geschmückt mit erhabener Arbeit,

die durch Erstürmung Arisbes mein Vater erbeutete, werde

ich euch verehren, zwei Dreifüße auch, zwei goldne Talente,

schließlich den uralten Mischkrug, den Dido aus Sidon mir schenkte.

Sollte ich siegreich Italien gewinnen, die Macht übernehmen

und die Verlosung der Beute bestimmen, nun, höre: Du sahest[360]

selber das Roß, die vergoldeten Waffen desgleichen, mit denen

Turnus einherzog; das Pferd, den Schild und den purpurnen Helmbusch

nehme ich aus vom Verlosen, für dich als Auszeichnung, Nisos!

Außerdem wird dir mein Vater ein Dutzend ausnehmend schöne

Sklavinnen schenken, Gefangene auch samt ihrer Bewaffnung,

dazu den Grundbesitz noch, die Güter des Königs Latinus.

Dich, du verehrungswürdiger Jüngling, dem ich an Jahren

selber recht nahe schon komme, dich will ich gewinnen von ganzem

Herzen, als Mitkämpfer dich für alle Gefahren besitzen.

Ohne dich möchte ich keinen eigenen Ruhm mir erwerben,

möchte in Frieden und Krieg mein höchstes Vertrauen beim Raten

wie auch beim Handeln dir schenken!«


Euryalos gab ihm zur Antwort:

»Möge mich niemals ein Tag als Verräter entlarven an dieser

tapferen Tat! Nur soviel erflehe ich, sende Fortuna

Glück mir oder Verderben. Um eines, vor allen Geschenken,

bitte ich dich: Noch lebt, vom Geschlechte des Priamos, meine

Mutter. Nicht Ilions Erde, auch nicht die Stadt des Akestes

konnten die arme Frau hindern, mich weiterhin treu zu begleiten.

Sie, die nichts ahnt von unsrem gefahrvollen Vorhaben, lasse

ohne Abschied ich hier. Ich rufe die Nacht wie auch deine

Rechte zu Zeugen: Die Tränen der Mutter ertrüge ich niemals!

Tröste du, bitte, die Arme, leih der Verlassenen Beistand!

Gönn mir derartige Hilfe, dann werde ich alle Gefahren

mutiger auf mich nehmen.« Tränen vergossen die Troer,

tief ergriffen, vor allen der schöne Iulus. Ihn rührte

heftig die Vorstellung seiner Liebe zum eigenen Vater.

Darauf erklärte er:

»Baue darauf, daß du alles gewinnst, was der Heldentat zukommt!

Deine Mutter sei auch die meine, der Name Krëusa

fehle ihr nur. Daß sie solchen Kämpfer geboren, erwartet

keinen geringen Dank. Wie immer das Wagnis auch ausgeht,[361]

wahrlich, ich schwöre bei meinem Haupte – wie sonst stets mein Vater –:

Was ich dir alles versprach für den Fall erfolgreicher Rückkehr,

bleibt auch verbürgt für deine Mutter und deine Familie!«

Derart schwor er, in Tränen, und zog von der Schulter das golden

prangende Schwert, das Lykaon von Knossos kunstreich geschmiedet

und in die Scheide aus Elfenbein handlich eingefügt hatte.

Mnestheus reichte dem Nisos ein Fell, die Beute von einem

schrecklichen Löwen. Den Schutzhelm tauschte der treue Aletes.

Eilig brachen sie auf, voll gerüstet. Sämtliche Fürsten

gaben Geleit bis zum Tore und wünschten, Junge wie Alte,

Glück und Erfolg. Und der schöne Iulus, für seine noch jungen

Jahre verständig und mutig, beseelt von männlichem Ernste,

gab noch Empfehlungen mit für den Vater. Freilich, die Winde

sollten das alles zerreißen, als unnütze Gabe für Wolken.


Über die Gräben gelangten im Schutze des nächtlichen Dunkels

sie in das feindliche Lager, Boten des Todes für manchen,

ehe sie selber fielen. Vom Schlaf und vom Wein Übermannte

sahen im Grase sie liegen, Karren mit aufwärts gereckten

Deichseln, und zwischen den Riemen und Rädern die Männer, daneben

Waffen verstreut und Weinreste. Da brach Nisos das Schweigen:

»Mutig zur Tat jetzt, Euryalos! Mahnt doch die günstige Stunde.

Dorthin verläuft der Weg. Übernimm die Deckung nach hinten,

falls dort ein Angreifer auftaucht, und spähe so weit wie nur möglich!

Freimachen will ich die Strecke, auf breiter Straße dich führen.«


Derart sprach er gedämpft und ging sogleich mit gezücktem

Schwerte dem stolzen Rhamnes zu Leibe. Der lag auf erhöhtem,

deckenbezogenem Polster und schnarchte behaglich im Schlafe,

selber ein König, als Wahrsager höchlich geachtet von Turnus.

Aber sein Wissen vermochte ihn nicht vor dem Tode zu retten.

Weiter durchbohrte Nisos drei Diener, die zwischen den Waffen

nahebei lagen, den Waffenträger und Fahrer des Remus[362]

auch, dem er neben den Rossen den straffen Nacken durchtrennte,

schlug dann dem Remus selber das Haupt vom Rumpf, dem der Blutstrom

sprudelnd entquoll; das warme, düstere Rinnsal durchtränkte

Polster und Erdreich. Lámyrus, Lamus, den jungen Serranus

metzelte nunmehr er nieder. Der letztere, auffallend stattlich,

hatte bis tief in die Nacht sich am Spiele beteiligt und schlief jetzt,

völlig vom Rausch überwältigt. Es wäre sein Glück wohl gewesen,

hätte er gleich das nächtliche Spiel bis zum Morgen verlängert!

Pausenlos wütete Nisos, ein hungernder Löwe im vollen

Schafstall; rasend vor Gier, zerfleischt er die friedlichen Tiere,

die vor Entsetzen verstummten, und knirscht mit bluttriefendem Rachen.


Ebenso grausam vergoß auch Euryalos Blut und durchbohrte,

brennend vor Mordlust, wahllos die Feinde, so wie er sie antraf,

Fadus, Herbesus, auch Ábaris, Mannschaften, völlig nichtsahnend.

Rhoetus nur wachte und sah, was da vorging. Gepackt von Entsetzen,

suchte er Deckung jedoch im Schutze des mächtigen Mischkrugs.

Als er zum Spähen sich hochreckte, stieß ihm der Gegner die Klinge

bis an den Griff in die Brust und entriß sie der tödlichen Wunde.

Rhoetus verhauchte im weinvermischten Blutstrom sein Leben,

während der Troer das heimliche Morden fortsetzen wollte.

Gegen die Schar des Messapus schon wandte er sich; fast erloschen

sah er den Feuerschein dort, sah ordentlich angepflockt Pferde

grasen. Da mahnte ihn Nisos mit wenigen Worten – er merkte

nämlich, daß sie von der Mordgier sich allzu sehr hinreißen ließen –:

»Hören wir auf! Schon dämmert, uns feindlich, der Morgen. Wir straften

schon zur Genüge den Feind, wir brachen uns Bahn durch das Lager.«
[363]

Zahlreiche Wertstücke, reines Silber, ließen sie liegen,

Waffen, auch Krüge und kostbare Decken. Euryalos aber

raffte des Rhamnes ehern beschlagenen Gurt mit den goldnen

Buckeln noch an sich; den hatte der steinreiche Caedicus einstmals,

selber am Kommen verhindert, zum Abschluß des Bundes der Freundschaft

dem Tiburtiner Rémulus zugeschickt, der ihn dem Neffen

weitervererbte; nach dessen Tode ward er im Kriege

Rutulerbeute. Jetzt legte Euryalos ihn um die starken

Schultern und setzte den handlichen, buschigen Helm des Messapus

auf – nur als Totenschmuck! Jenseits des feindlichen Lagers gewannen

beide Trojaner das Freie.


Da nahte ein Vortrupp zu Pferde

von der latinischen Hauptstadt – die übrige Streitmacht verharrte

schlagbereit rückwärts im Felde –; er brachte Botschaft für Turnus,

dreihundert Mann stark, alle mit Schilden, befehligt von Volcens.

Nah schon dem Rutulerlager, auch nah schon den Schanzen, erspähten

fern sie die beiden Trojaner, die eben nordostwärts sich wandten.

Flimmerte doch der Helm des Messapus im nächtlichen Zwielicht

unter dem Mondschein, verriet den unvorsichtigen Träger.


Gleich reagierten die Reiter, laut dröhnte die Stimme des Volcens:

»Halt, ihr! Was streunt ihr umher? Wer seid ihr, in voller Bewaffnung?

Wohin wollt ihr?« Die beiden erwiderten nichts, sie versuchten,

schnell in den Wald zu entkommen und sich im Dunkel zu bergen.

Aber die Reiter besetzten die Kreuzungen gleich, die sie kannten,

sperrten auf allen Seiten jeden möglichen Ausweg.

Weithin erstreckte der Wald sich, von Unterholz starrend, voll düstrer[364]

Steineichen, ringsum üppig durchwuchert von dornigen Ranken.

Schwer nur erkannte man die durch das Dickicht sich schlängelnden Pfade.

Dunkelheit unter den Baumkronen und die belastende Beute

hemmten Euryalos, Furcht auch ließ ihn die Richtung verfehlen.

Nisos jedoch war, ohne auf seinen Gefährten zu achten,

längst schon entronnen dem Feind, auch dem Walde, der heute nach Alba

noch der »albanische« heißt, das Jagdrevier einst des Latinus.

Jetzt erst verharrte er still und bemerkte das Fehlen des Freundes.

»Armer Euryalos«, rief er, »wo habe ich dich bloß verloren?

Wo nur vermag ich die Spuren im täuschenden Dickicht des Waldes

wiederzufinden?« Er machte sich gleich auf den Rückweg, bekannten

Anzeichen folgend, durchstreifte gespannt er das schweigsame Buschwerk.


Aber dann hörte er Hufschläge, Klirren, Verfolgersignale,

und, nur ein wenig später, drang ihm Geschrei zu den Ohren,

und er gewahrte Euryalos. Dieser hatte im Dunkel,

jählings verwirrt durch den nächtlichen Lärm, sich verlaufen. Nun schleppte

fort ihn die feindliche Schar, trotz heftigen Sträubens. Wie sollte

Nisos jetzt handeln? Gewaltsam befreien den Freund, sich auf seine

Waffen verlassen? Zum Sterben bereit auf die Feinde sich stürzen,

ehrenvoll untergehen sogleich an blutenden Wunden?


Ohne zu zögern, straffte den Arm er, ausholend zum Speerwurf,

blickte empor zu Luna und sprach die flehenden Worte:

»Leihe jetzt, Göttin, unserem Kampfe tätigen Beistand,

Tochter der Leto, du, Zierde der Sterne, Beschützer der Haine!

Brachte mein Vater Hyrtakos jemals dir auf dem Altare

Opfer für mich und habe ich selbst sie vermehrt noch als Jäger,

hängte sie auf in der Kuppel oder am Giebel des Tempels:[365]

Lenke den Flug des Speeres und laß mich die feindliche Rotte

sprengen!« Darauf entsandte mit aller Gewalt er die Waffe.

Sausend durchschnitt im Fluge der Speer das nächtliche Dunkel,

traf in der Schar der Latiner den Helden Sulmo im Rücken,

brach dort und drang mit zersplittertem Schaft noch quer durch das Zwerchfell.

Sulmo stürzte, heiß quoll ihm das Blut vom Herzen zum Schlunde;

sterbend, erschlaffend schon, röchelte er noch, es zuckten die Glieder.

Seine Gefährten spähten umher. Um so mutiger sandte

Nisos den zweiten Speer, ließ ihn in Höhe des Kopfes entschwirren.

Aufgeregt schwankten die Feinde, da fuhr die Spitze dem Tagus

zischend von Schläfe zu Schläfe, haftete fest im Gehirne.


Rasende Wut überwältigte Volcens. Er konnte den Schützen

nirgendwo sehen, nicht kühlen an ihm die brennende Rachgier.

»Du«, so schrie er Euryalos an, »du wirst die Ermordung

beider mit heißem Blute mir sühnen!« Und zückte die Klinge

auf den Gefangenen.


Da fing Nisos, vor Angst wie von Sinnen,

gellend zu rufen an, konnte nicht länger im Dunkel sich bergen,

länger nicht tragen den bohrenden Schmerz: »Hier bin ich, der Schütze,

zielt mit den stählernen Waffen auf mich nur, ihr Rutuler! Habe

ich doch den Handstreich geplant. Er wagte ihn gar nicht, er konnte

ihn auch nicht wagen, ich rufe Himmel und Sterne zu Zeugen:

Allzusehr liebte er nur den Freund, den das Unglück verfolgte!«

Aber sein Flehen verhallte. Schon hatte die Klinge des Volcens

kraftvoll die Rippen durchstoßen, die schimmernde Brust ihm gespalten.

Sterbend wälzte Euryalos sich, die lieblichen Glieder

rötete Blut, schlaff glitt schon der Nacken über die Schultern;

ebenso sinkt die vom Pflugschar zerschnittene purpurne Blume[366]

matt auf die Erde, läßt auch der Mohn im Prasseln des Regens

von den erschlaffenden Stengeln sinken die prächtigen Blüten.


Nisos jedoch sprang mitten unter die Feinde. Auf Volcens

stürzte er los, nur dem Volcens galten sein Sinnen und Trachten.

Aber die Feinde umdrängten ihn dicht und versuchten von allen

Seiten zurück ihn zu stoßen. Er trotzte der Übermacht, blitzen

ließ er die wirbelnde Klinge, dann senkte er sie in den offnen

Mund des schreienden Rutulers, raubte dem Gegner das Leben,

warf sich, selbst tödlich durchbohrt von den Feinden, über des Freundes

Leichnam. Erst jetzt umfing ihn der friedliche Schlummer des Todes.


Glücklich ihr beide! Und sollte mein Epos nur etwas bewirken,

wird euch kein Tag dem Gedächtnis der Nachwelt entreißen, solange

noch das Geschlecht des Aeneas den kapitolinischen Felsen

sicher bewohnt und der römische Vater die Weltherrschaft ausübt!


Siegreich bemächtigten sich die Latiner der doppelten Beute,

trugen in Tränen darauf den gefallenen Volcens ins Lager.

Keine geringere Trauer erhob sich dort: Den erschlagnen

Rhamnes fand man, so viele zugleich ermordete Fürsten,

Numa dabei und Serranus. Scharenweis drängten die Leute

sich um die Toten und Halbtoten, um die vom eben vergoßnen

Blute noch dampfenden Stellen, noch schaumige tiefrote Bäche;

man erkannte die Beute, den glänzenden Helm des Messapus

und das geschmückte Wehrgehenk, die man so teuer bezahlte.


Nunmehr erhob sich Aurora vom goldgelben Bett des Tithonos,

streute das Frühlicht des neuen Tages über die Erde.

Unter der Sonne bereits, die alles den Blicken enthüllte,

wappnete Turnus sich selber und rief auch das Heer zu den Waffen,

führten die Hauptleute ihre gepanzerten Scharen zum Angriff,

schürten die Wut noch durch Nachrichten über das nächtliche Blutbad.[367]

Außerdem steckte man – kläglicher Anblick! – die Köpfe des Nisos

und des Euryalos vorne auf Lanzen, hob sie und folgte

ihnen mit wildem Geschrei.


Links auf den Schanzen stellte dem Ansturm sich die erprobte

Schar des Aeneas – die rechte Seite umspülte der Thybris –,

deckte die mächtigen Gräben und stand betrübt auf den hohen

Türmen. Noch tiefer erschütterte sie der Anblick der ihnen

allen bekannten, auf Lanzen gespießten bluttriefenden Köpfe.


In dem bestürzten trojanischen Lager eilte beflügelt

Fama umher. Auch der Mutter des Helden Euryalos kam sie

plötzlich zu Ohren. Die Arme verspürte eisige Kälte,

jählings entglitt ihr der Schützen, auflöste sich gleich das Gewebe.

Aufschreiend raufte sich dann die vom Unglück Geschlagne die Haare,

stürzte zum Zelte hinaus zu den Schanzen und drängte sich rasend

zwischen die Vorkämpfer, scheute nicht vor dem Gewimmel der Männer,

nicht vor den Feindesgeschossen und schrie lautklagend zum Himmel:

»Muß ich als Toten dich sehen, Euryalos? Du, mir die letzte

Zuflucht im Alter, du konntest so grausam im Stiche mich lassen?

Durfte ich elende Mutter dir nicht beim Aufbruch zu solchem

tödlichen Wagnis ein Wort zum Abschied noch sagen? O wehe,

fern in der Fremde liegst du, Latiums Hunden und Vögeln

kläglich zum Fraße! Ich Mutter, ich durfte dich nicht zur Bestattung

treulich geleiten, die Augen dir zudrücken, waschen die Wunden,

nicht ins Gewand dich hüllen, das ich bei Nacht und bei Tage

fleißig dir webte, ein Trost in den trüben Stunden des Alters!

Wohin folge ich? Was für ein Boden umhegt jetzt die Glieder,

die man zerriß und zerfleischte? Nur so viel bringst du, mein Junge,

wieder von dir? Deswegen durchzog ich Länder und Meere?[368]

Kennt ihr noch Mitgefühl, Rutuler, bitte, durchbohrt mich, mit allen

Spießen und Pfeilen beschießt mich, entreißt mir zuerst doch das Leben!

Oder erbarm du selber dich, mächtiger Vater der Götter,

schleudre mit deinem Blitzstrahl mein leidiges Haupt in den Hades!

Kann ich doch anders mein bitteres Dasein nicht vorzeitig enden.«

Ihre Klage erschütterte alle, ein schmerzliches Stöhnen

ließ sich vernehmen, schon drohte der Gram die Kampfkraft zu lähmen.

Da sich ihr Kummer noch steigerte, faßten Idaios und Aktor

schonend sie unter – es gaben den Rat Ilioneus und, heiße

Tränen vergießend, Iulus – und führten zurück sie zum Zelte.


Aber jetzt dröhnte, schreckenerregend, von fern die Trompete.

Gelles Geschrei erhob sich, dumpf hallte der Himmel es wider.

Unter dem Schutzdach der Schilde stürmten vorwärts die Volsker,

suchten die Gräben zu füllen, die Schanzen niederzureißen;

andere wollten auf Sturmleitern über die Wälle sich Wege

bahnen, dort wo auf den Zinnen der Kranz der Verteidiger deutlich

weniger dicht sich zeigte. Die Teukrer schleuderten jede

Art von Geschossen und stießen mit wuchtigen Stangen die Feinde

rückwärts, nach langen Jahren erfahren im Kampf von den Mauern,

wälzten gefährlich gewichtige Feldsteine auch, die Kolonnen

unter dem Schutzdach zu sprengen. Doch unerschüttert noch hielten

unter den dichten Schilden die Angreifer stand den Geschossen.

Schließlich versagten sie doch. Wo sie nämlich am stärksten sich ballten,

rollten die Teukrer einen riesigen Felsblock herunter,

der die Rutuler niederwalzte, das Schilddach zersprengte.

Länger nicht wollten die kühnen Angreifer unter den Schilden

vordringen, ohne die Gegner zu sehen, sie lieber vom Walle

jagen durch dichten Geschoßhagel.[369]

Gräßlich zu schauen, schwang an anderer Stelle Mezentius

eine etruskische Kienfackel, schleuderte qualmende Brander.

Aber Messapus, der Rossebändiger, Sprößling des Neptun,

hatte ein Wallstück zerstört schon und schrie nach Leitern zum Aufstieg.


Bitte, Kallíope, Musen ihr, leiht mir jetzt Kraft, zu besingen,

wie mit dem Schwerte Fürst Turnus wütete, wen er im Kampfe

tötete, wen die einzelnen Streiter zum Orkus entsandten,

bitte, enthüllt jetzt mit mir das grausige Antlitz des Krieges!

Fest im Gedächtnis bewahrt ihr es, Göttinnen, könnt es erzählen!


Weit überragte die Schanzen ein riesiger Turmbau mit hohen

Fallbrücken, günstig angelegt, den die Italer mit allen

Kräften erobern, gewaltsam zerstören und umstürzen wollten.

Aber die Troer verteidigten ihn mit geschleuderten Steinen,

warfen auch durch die Schießscharten ununterbrochen mit Speeren.

Turnus als erster schleuderte eine brennende Fackel,

setzte die Turmwand in Brand. Schnell ergriff vor dem Winde die Flamme

lodernd die Balken und haftete fest an den schwelenden Pfosten.

Aufregung packte und Angst die Besatzung, sie suchte vergeblich

sich vor dem Unheil zu retten, sie drängte zur feindfreien Seite

rückwärts sich eng zusammen. Da neigte sich, jäh überlastet,

vorwärts der Turm, das Krachen des Sturzes dröhnte zum Himmel.

Halbtot erreichten die Männer den Boden, doch häufte sich über

ihnen die schreckliche Masse, die eigenen Waffen durchbohrten,

wuchtige Balken durchstießen, zerquetschten sie. Knapp noch entkamen

zwei nur, Helenor und Lykos. Jenen, den Jüngeren, hatte

Sklavin Likymnia heimlich dem König der Lyder geboren,

später nach Troja geschickt, wo er freilich nicht mitkämpfen sollte,

leicht mit dem Schwert nur bewaffnet und einfachem, schmucklosem Rundschild.

Als er von Leuten des Turnus zu Tausenden eng sich umringt sah,[370]

überall Kämpfern aus Latium nur in geschlossenen Reihen,

stürzte er, jung wie er war, sich todbereit unter die Feinde,

dort, wo Schwerter und Lanzen am dichtesten starrten; genauso

bäumt sich ein Wild, das die Jäger in dichter Kette umzingeln,

gegen die Waffen, stürzt sich drauflos, des Todes nicht achtend,

um dann in weitem Sprunge hoch über die Spieße zu setzen.

Lykos, weit besser zu Fuß, versuchte durch Feinde und Waffen

quer zu entkommen, erreichte die Schanzen und streckte die Hände

schon zu den Zinnen empor, den rettenden Armen der Freunde.

Aber da hatte ihn Turnus, genauso geschwind und gewappnet,

eingeholt, schalt ihn: »Du wähntest, unserer Faust zu entkommen,

Dummkopf?«, und packte ihn, wie er vom Zinnenrand wehrlos herabhing,

riß ihn herunter, mit ihm noch ein mächtiges Stück von der Schanze;

ebenso rafft auch Jupiters Waffenträger, der Adler,

sei es den Hasen, sei es den schneeweißen Schwan mit den Krallen

aufwärts, reißt auch die Wölfin des Mars das Lamm aus der Stallung,

fort von dem blökenden Muttertier.


Kriegsgeschrei gellte von allen

Seiten, vor drangen die Angreifer, füllten die Gräben mit Erde,

schleuderten lodernde Brandsätze auch hoch über die Zinnen.

Tödlich traf Ilioneus mit einem gewaltigen Felsblock

den Lucetius, der sich mit Fackeln dem Lagertor nahte.

Liger erschlug Emathion, Asilas den Korynaios –

jener ein tüchtiger Speerwerfer, dieser ein sicherer Schütze –;

Kaineus erlegte Ortygius, Turnus den siegreichen Kaineus,

weiter den Itys, den Klónios, Prómolos wie Dioxippos,

Sagaris, schließlich den vorn auf der Turmspitze stehenden Idas.

Kapys erschoß den Privernus; den hatte der Speer des Themillas

flüchtig gestreift nur; doch leichtsinnig warf er den Schutzschild zu Boden,

griff nach der Wunde; der schwirrende Pfeil durchbohrte die Linke,[371]

heftete sie an die Hüfte, zerriß dann im Innern des Körpers

tödlich die lebenspendenden Wege des Atems, die Lungen.

Ausnehmend herrlich gerüstet stand dort der Sprößling des Arcens,

prächtig bestickt der Mantel, tiefleuchtend von spanischem Purpur,

stattlich und schön. Ihn hatte geschickt sein Vater, Held Arcens,

der ihn im Haine der Mutter aufzog, am Strome Symaithos,

bei dem Altar der Paliken, die leicht sich besänftigen lassen.

König Mezentius legte die Speere beiseite, und dreimal

ließ um sein Haupt am gestrafften Riemen die Schleuder er kreisen,

jagte sodann das im Fliegen schmelzende Bleistück dem Gegner

quer durch die Schläfen und streckte, so lang wie er war, ihn zu Boden.


Damals zuerst, so erzählt man, bewährte Iulus, der früher

flüchtiges Wild nur scheuchte mit sausenden Pfeilen, im Kampfe

auch sich als Schütze: Den tapfren Numanus streckte er nieder,

den man mit Beinamen Remulus nannte. Der hatte vor kurzem

erst mit der jüngeren Schwester des Turnus die Ehe geschlossen.

Weit vor der Schlachtreihe schreitend, lobte er lautstark die Seinen,

schmähte die Gegner, ungemein stolz infolge der neuen

Fürstenverwandtschaft, und brüstete sich mit schallenden Worten:

»Schämt ihr euch gar nicht, euch wieder belagern zu lassen, ihr zweimal

schon überwältigten Phryger, durch Schanzen dem Tod zu entgehen?

Seht nur die Helden, die Frauen von uns im Kampfe sich holen!

Keinerlei Gottheit, nein, Dummheit führte euch her nach Italien.

Keine Atriden sind hier, kein Lügenmeister Odysseus.

Wir, von Geburt aus ein hartes Geschlecht, wir tauchen die kleinen

Kinder in Flüsse gleich, härten sie ab in den eiskalten Wellen.

Nächtelang jagen die Knaben schon, streifen rastlos durch Wälder,[372]

tummeln die Rosse und schnellen den Pfeil von der Sehne im Wettkampf.

Ausdauernd in Strapazen, bescheiden auch, zähmen sie unsern

Boden mit Pflügen, lassen im Kriege auch Festungen wanken.

Eisen erprobt uns ein Leben hindurch, wir stacheln den Zugstier

schon mit dem Schafte des Speers; kein allmählich lähmendes Alter

schwächt uns die Kräfte des Geistes und raubt uns die rührige Frische.

Noch auf den Graukopf drückenden Helm wir, auch tragen wir ständig

Beute aufs neue zusammen und leben vom Raub, mit Vergnügen.

Ihr liebt bunte Gewänder, goldgelb, leuchtend von Purpur,

freut euch des Müßiggangs, pflegt mit Begeisterung Tanzen und Singen;

Röcke mit Ärmeln tragt ihr und prächtige Mützen mit Bändern –

Phrygerinnen, jawohl, nicht Phryger! – und pilgert zum hohen

Dindymos, hört dort vertrautes zweistimmiges Flötengedudel.

Handpaucken locken euch, Buchsbaumpfeifen der Mutter vom Ida.

Waffen jedoch überlaßt den Männern, verzichtet auf Eisen!«


Dies überhebliche Prahlen und dieses schreckliche Drohen

konnte Iulus nicht aushalten, wandte dem Feind sich entgegen,

legte den Pfeil auf die Sehne, spannte kraftvoll den Bogen,

ging in den Anschlag und flehte, bevor er noch schoß, um Erfüllung:

»Hilf mir, allmächtiger Jupiter, bei dem kühnen Beginnen!

Selber will ich zum Danke in deinem Heiligtum opfern,

einen hellglänzenden Stier mit vergoldeter Stirne, der seiner

Mutter an Kopfhöhe gleichkommt, hinführen vor deine Altäre,

einen, der kräftig schon stößt und den Sand mit den Hufen hoch aufwirft!«


Jupiter hörte ihn, ließ es von linksher aus heiterem Himmel

donnern, und gleichzeitig summte toddrohend der Bogen. Gefährlich[373]

schwirrend schnellte der Pfeil von der Sehne und drang mit der Spitze

tief in die Schläfe des Remulus, bohrte sich quer durch den Schädel.

»Los doch, verhöhne nur weiter die Tapferkeit! Zweimal bezwungen,

senden die Phryger den Rutulern diesen Pfeilschuß zur Antwort!«

Jauchzend begrüßten die Teukrer die wenigen Worte des Schützen,

fühlten vor Freude die Zuversicht wachsen, empor zu den Sternen.


Hoch aus dem Äther, auf Wolken thronend, blickte soeben,

lockenumwallt, Apollo herab auf die Heerschar Ausoniens

wie auf das troische Lager und sprach zu dem Sieger Iulus:

»Glück dir zur ersten Kriegstat, mein Junge! Durch Leistung erreicht man

selbst die Gestirne, du Göttersproß, künftiger Ahnherr von Göttern!

Unter dem Stamm des Assarakos hören die schicksalsbestimmten

Kriege einst auf, zu gering ist Troja für dich.« Und er schwebte

nieder vom Himmel, durchquerte die wallenden Lüfte und nahte

sich dem Ascanius, zeigte sich ihm in Gestalt des bejahrten

Butes. Der hatte vor Jahren dem Dardanerfürsten Anchises

treulich gedient als Waffenträger und Leibwächter; später

gab ihn Aeneas dem Sohn als Erzieher. Dem Greise in allem

gleichend, an Stimme, an Aussehen, silbern schimmernden Haaren,

schrecklich auch klirrend im Schmucke der Waffen, so nahte Apollo,

richtete an den vor Kampfeifer glühenden Jungen die Worte:

»Laß es genug sein, du Sproß des Aeneas, daß du Numanus

straflos erschossest. Der große Apollo vergönnt dir den ersten

Kriegsruhm, verübelt dir nicht, daß du ihn im Schießen erreichtest.

Nimm jetzt nicht weiter am Kampf teil, mein Junge!« So mahnte Apollo;[374]

dann, nach dem kurzen Gespräch, entzog er sich menschlichen Blicken,

löste in weiter Ferne sich auf zu hauchdünnem Dunste.


Freilich erkannten die Dardanerfürsten den Gott und des Gottes

Waffen und hörten die Pfeile im Köcher des Fliegenden klirren,

dämpften daher, mit dem Hinweis auf Willen und Warnung des Phöbus,

klüglich die Kampflust des Knaben. Hinein ins Getümmel des Kampfes

zogen aufs neue sie dann und setzten sich aus den Gefahren.


Schreie umgellten die Schanzen längs der gesamten Umwallung,

Pfeile entschwirrten den Bogen, von Schwungriemen sausten die Speere.

Weithin bedeckten Geschosse den Boden, dröhnten vom Aufprall

Schilde und Helme, noch lauter tobte erbittert das Ringen;

ebenso peitscht, nach dem Aufgang der unwetterbringenden Böckchen,

wild aus dem Westen der Regen die Erde, prasseln des Hagels

Schloßen hernieder ins Meer, wenn Jupiter schrecklich von Süden

triefenden Wirbelwind scheucht und die Schleusen des Himmels weit aufreißt.


Pandaros aber und Bitias, Söhne Alkanors vom Ida,

von der Nymphe Iaira im Jupiterhaine erzogen,

Jünglinge, stattlich wie ragende Tannen und Berge der Heimat,

schlossen das Tor auf, das ihnen der Feldherr zu hüten befohlen,

lockten, auf ihre Waffen vertrauend, den Feind in das Lager.

Hinter dem Eingang standen sie beiderseits selber, gleich Türmen,

stählern gerüstet und hoch auf dem Haupte den wippenden Helmbusch,

wie an den Rändern reißender Ströme, etwa am großen

Po, auch am lieblichen Ufer der Etsch, zwei mächtige Eichen

hoch in die Lüfte sich recken, die niemals geschorenen Häupter

himmelwärts heben und mit dem stolz ragenden Wipfelpaar nicken.[375]

Ungestüm drangen die Rutuler ein, als den Zugang sie offen

sahen, Quercens als erster, Aquiculus, prächtig gewappnet,

Marus, der Hitzkopf, Haemon, ein blutiger Kriegsmann, ein jeder

seinem Gefolge voran – doch sie zeigten gleich fliehend die Rücken,

oder sie mußten ihr Leben noch zwischen den Torpfeilern lassen.

Aber nur heftiger raste auf beiden Seiten die Kampfwut,

dichter noch scharten die Troer sich hinter dem Tore zusammen,

wagten zum Nahkampf sich vor und drängten sogar schon zum Ausfall.


Heerführer Turnus setzte inzwischen an anderer Stelle,

gnadenlos wütend, die Feinde in Schrecken. Ihm wurde gemeldet,

diesseits des Walles schon kämpften die Troer, bei offenen Toren.

Ungesäumt eilte er dorthin und stürmte, aufs höchste erbittert,

gegen das Dardanertor und die selbstbewußt-tollkühnen Brüder,

streckte sogleich durch Speerwurf Antíphates nieder – den eine

Nebenfrau einstmals aus Thebe dem Fürsten Sarpedon geboren –;

trat er als erster doch Turnus entgegen. Der Speer, aus dem harten

Kirschholz Italiens, durchschwirrte die Luft und bohrte die Spitze

tief durch den Schlund in die Brust des Trojaners. Aus klaffender Wunde

schäumte das Blut, heiß umwogte die Lunge das haftende Eisen.

Darauf erlegte er Merops, Erymas, Aphidnos; als fünften

Bitias, der mit glühenden Augen vor Mordeifer knirschte,

tötete nicht mit dem Spieß ihn – dem wäre er schwerlich erlegen –,

nein, ein gigantischer Wurfbalken schwirrte entsetzlich, ein Blitzstrahl,

ihm aus der Faust; den hemmte des Schildes zweifaches Stierfell,

hemmte der Panzer auch nicht mit der festen Doppelschicht goldner

Schuppen: der riesige Körper des Bitias sackte zusammen.

Unter ihm dröhnte die Erde, der mächtige Schutzschild darüber.[376]

Ebenso fällt am Euböergestade von Baiae ein Pfeiler;

zwischen Gerüsten aus wuchtigen Steinblöcken kunstvoll errichtet,

wird er versenkt in das Meer – so neigt er sich vorwärts im Sturze,

schlägt dann zur Tiefe und bleibt, gebohrt in den Meeresgrund, liegen;

aufschäumend brodelt die Flut, schwarz wirbeln die Schlickmassen aufwärts,

Prochytas Höhen erzittern vom Aufprall, Inárime gleichfalls,

über Typhoeus gewälzt, ein Steinbett, auf Jupiters Weisung.


Nunmehr verlieh der waffengewaltige Mars den Latinern

Kräfte und Mut und spornte sie an zu erbittertem Kampfe,

ließ die Trojaner zurückweichen, schlug sie mit tödlichem Schrecken.

Angreifer ballten sich überallher, vor rollte der Ansturm,

rasend vom Kriegsgott beschwingt.


Pandaros sah den Leichnam des Bruders hingestreckt liegen,

sah den Umschwung der Lage, das drohende Unglück. Da drehte

er mit gewaltiger Kraft die Torflügel zu in den Angeln,

stemmte die breiten Schultern gegen sie. Zahlreiche Teukrer

ließ er in hartem Gefecht zurück vor den Schanzen, doch viele

Gegner auch schloß er mit ein, bot Angreifern Aufnahme, töricht:

Sah er in ihrer Mitte doch nicht den Rutulerkönig

vorstürmen, sperrte sogar noch den Fürsten ins eigene Lager,

unter das mutlose Herdenvieh einen reißenden Tiger!


Furchtbar glühten sogleich die Augen des Turnus, und seine

Waffen klirrten entsetzlich, blutrot schwankte auf seinem

Haupte der Helmbusch, sein Schutzschild entsandte zuckende Blitze.

Plötzlich erkannten die Troer bestürzt das ihnen verhaßte

Antlitz, die Riesengestalt des Fürsten. Da stürmte gewaltig

Pandaros vorwärts und rief, wutflammend vom Tode des Bruders:

»Keineswegs ragt hier die bräutliche Burg der Herrin Amata,[377]

Ardea schützt nicht mit heimischen Mauern den Turnus. Vor Augen

hast du das feindliche Lager, ihm wirst du schwerlich entrinnen!«

Turnus entgegnete ihm mit verächtlichem Lächeln, gelassen:

»Mach nur den Anfang, falls Mut dich beseelt, schlag los mit der Rechten!

Hier auch entdeckte man einen Achilles, das kannst du dem König

Priamos melden.« Pandaros warf mit Anspannung aller

Kräfte den Speer mit dem rindenbedeckten, knotigen Schafte.

Doch er durchschnitt nur die Lüfte, Juno verwehrte der Waffe,

Wunden zu schlagen, die Stahlspitze blieb im Lagertor haften.

»Du entgehst nicht der Klinge in dieser kraftvollen Rechten;

andere Wunden pflege mit meinem Schwert ich zu schlagen!«

Turnus rief es und holte, sich reckend, weit aus mit der Waffe,

traf mit der Schneide den Schädel des Gegners genau in der Mitte,

hieb mit gewaltiger Wucht auseinander die bartlosen Wangen.

Unter der Last des Stürzenden dröhnte mit Zittern der Boden,

sterbend streckte der Troer die schlaffen Glieder und seine

hirnüberspritzten Waffen; beiderseits hingen dem Toten

völlig getrennt die Hälften des Schädels über die Schultern.


Voller Entsetzen stoben wild auseinander die Teukrer.

Hätte der Sieger sofort es sich einfallen lassen, die Riegel

selbst zu zerschlagen, den Kampfgefährten den Zugang zu öffnen,

würde der Tag den Krieg beendet, die Troer vernichtet

haben. Doch Kampfwut und heillose Mordgier stachelten Turnus

weiterhin gegen die Feinde.

Phaleris traf er, verwundete Gyges die Kniekehle, raffte

Lanzen vom Boden und stieß sie den beiden, die fortlaufen wollten,

tief in den Rücken. Juno verlieh ihm den Mut und die Kampfkraft.

Halys erschlug er dann, Phegeus, den an den Rundschild er spießte,

weiter Verteidiger, die an den Schanzen nichtsahnend, noch fochten,[378]

Halios und Alkandros, Prýtanis, nach ihm Noëmon.

Lynkeus wandte sich gegen ihn, rief auch Gefährten zu Hilfe.

Turnus, rechts seitlich des Walles, kam mit geschwungener Klinge

jäh ihm zuvor und hieb ihm mit einem gewaltigen Schlage

Schädel und Schutzhelm zugleich weit fort von dem Rumpfe, erlegte

Amykos dann, den erfolgreichen Jäger, der weithin am besten

Schußwaffen tränkte mit Gift und wirksam auch einsetzen konnte,

Klytios, Sprößling des Aiolos, schließlich den Kretheus, den Liebling,

Freund und Begleiter der Musen, der Singen und Lautenspiel ständig

pflegte, den Liedern mit Saitenklang taktmäßig folgte, auch immer

Rosse besang und Waffen von Helden und blutige Schlachten.


Aber zuletzt erfuhren die teukrischen Fürsten vom Blutbad

unter den Ihren und trafen sich, Mnestheus, der tapfre Serestos,

sahen die Freunde zersprengt, den Gegner inmitten des Lagers.

Laut rief Mnestheus: »Wohin noch fliehen, wohin entrinnen?

Was für Verschanzungen habt ihr noch, was für Befestigungswerke?

Einer der Feinde, ihr Troer, allseits umgeben von euren

Schanzen, durfte im Lager straflos ein solches Gemetzel

wagen, so viele der tüchtigsten Helden zum Orkus entsenden?

Feiglinge, spürt ihr nicht Scham und nicht Mitleid, wenn ihr der armen

Heimat gedenkt, der uralten Götter, des großen Aeneas?«


Dadurch entflammt und ermutigt, schlossen die Troer die Reihen.

Schrittweise zog sich Turnus zurück vor dem Ansturm, zum Flusse

wandte er sich, wo die Wellen den Rand des Lagers bespülten.

Heftiger drängten die Troer ihm nach mit gellendem Schreien,

ballten sich dichter zusammen. So drängt ein Haufen von Jägern,

waffenstarrend, den wütenden Löwen; erschrocken zwar, aber[379]

trotzig, mit grimmigen Blicken, weicht er; den Rücken zu kehren,

hindern ihn Wut und Tatkraft; zum Gegenangriff zu schreiten,

wehrt ihm, wie sehr er es wünscht, doch die Menge bewaffneter Männer.

Ebenso zog sich Turnus zurück, in innerem Zwiespalt,

ohne zu eilen; im stillen kochte er freilich vor Ärger.

Zweimal sogar noch prellte er vorwärts unter die Feinde,

scheuchte sie zweimal in kopfloser Flucht durch das Lager. Inzwischen

strömte jedoch die ganze Lagerbesatzung zusammen,

und die saturnische Juno wagte ihn gegen die Teukrer

nicht mehr zum Kampf zu ermuntern. Denn Jupiter hatte vom Himmel

Iris entsandt durch die Luft und der Schwester bittere Buße

angedroht, falls nicht Turnus das Lager der Teukrer verließe.

Deswegen konnte sich Turnus nicht länger nachdrücklich wehren,

weder mit Schutzschild noch Schwert; so prasselten rings die Geschosse

gegen ihn. Ununterbrochen umklirrte der Helm ihm die Schläfen,

Risse schon klafften im festen Erz vom Aufprall der Steine,

völlig zerfetzt hing über dem Kopfe der Buschen, den Stößen

war auch der Schildbuckel nicht mehr gewachsen, die Troer und Mnestheus

selber, ein Blitz im Getümmel, verdoppelten ihre Geschosse.

Turnus triefte von Schweiß wie von haftendem Pech, er vermochte

kaum noch zu atmen, nur Keuchen entrang sich dem hilflos erschlafften

Körper. Erst jetzt, in der vollen Rüstung, setzte mit schnellem

Sprung er ins Wasser. Der Flußgott empfing ihn in gelblichen Strudeln,

trug ihn auf freundlichen Wellen, wusch ihm das Mordblut vom Leibe,

brachte den aufatmend Heiteren sicher zurück den Gefährten.[380]

Quelle:
Vergil: Werke in einem Band. Berlin 21987, S. 351-381.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aeneis
Aeneis
Aeneis. 1. und 2. Buch: Lat. /Dt.
Aeneis. 5. und 6. Buch: Lat. /Dt.
Aeneis: Lat. /Dt.
Aeneis: Lateinisch/Deutsch

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon