Siebentes Capitel.
Vorkehrungen für die Ueberwinkerung.

[201] Penellan hatte wieder einmal Recht gehabt. Alles in dieser Welt muß uns zum Besten dienen, und die Eiserschütterung hatte dem Schiff eine Fahrstraße bis zur Bai geschaffen. Die Seeleute brauchten nur noch die Strömungen geschickt zu benutzen, um die Eisschollen so zu steuern, daß sie sich ihren Weg selber bahnten.

Am 19. September warf die Brigg endlich, zwei Kabellängen vom Lande ab, in ihrer Ueberwinterungsbucht die Anker aus; und schon am folgenden Tage hatte sich bis dicht an ihren Rumpf Eis gelegt, das bald stark genug wurde, um einen Mann zu tragen. So konnte directe Communication mit dem Lande hergestellt werden.

Nach dem Brauch der arktischen Seefahrer wurde an dem Takelwerk keine Veränderung vorgenommen; die Segel lagen sorgsam zusammengewickelt und von ihren Futteralen umhüllt auf den Raaen, und das Krähennest ließ man bestehen, um von dort aus das Land beobachten und betreffenden Falls leichter bemerkt werden zu können.

Jetzt schon hob sich die Sonne kaum über den Horizont. Seit der Junisonnenwende hatten sich die von ihr beschriebenen Spiralen mehr und mehr gesenkt, und bald mußten sie ganz verschwinden.

Die Mannschaft beeilte sich, ihre Vorkehrungen zu treffen, und Penellan spielte hierbei die Rolle des erfahrenen Anordners. Bald war die Eisfläche um das Schiff so stark geworden, daß ihr Druck gefährlich zu werden drohte, aber Penellan wartete noch, denn seiner Meinung nach mußte sie erst zwanzig Fuß an Dicke erlangen, ehe er weiter operiren konnte. Dann erst ließ er das Eis schrägkantig um den Schiffsrumpf aushauen, so daß es sich unter demselben wieder schloß und seine Gestalt annahm. Die Brigg war nun in ein Bett eingekeilt und hatte den Druck der Eismassen nicht mehr zu fürchten denn diese konnten keine Bewegung mehr gegen das Schiff machen.[201]

Nun errichteten die Seeleute längs der Barkhölzer und bis zur Höhe der Verschanzungen eine Schneemauer von fünf bis sechs Fuß Dicke, die alsbald hart wurde wie ein Felsen; durch diese Hülle konnte die innere Wärme nicht nach außen strahlen. Ein hermetisch verschlossenes und mit Fellen bedecktes Leinwandzelt wurde über die ganze Länge des Verdecks gespannt und bildete für die Mannschaft gewissermaßen einen Spazierplatz.

Auch erbaute man auf dem Lande von Schnee ein Magazin, in das alle Gegenstände aus dem Schiff geschafft wurden, die man vorläufig nicht gebraucht, und die unnöthig den Raum fortnahmen. Die Zwischenwände der Kajüte verschwanden, und es entstand je auf dem Vorder- und Hinterdeck ein geräumiges Zimmer, das erstens weit leichter zu erheizen war, als die verschiedenen kleinen Räume, weil Eis und Feuchtigkeit nicht in so viel verschiedene Winkel und Ecken eindringen konnten; auch ließ sich die Ventilation besser bewerkstelligen, indem Luftschläuche, die nach außen gingen, emporgezogen wurden.

Bei diesen verschiedenen Vorbereitungen wurde eine außerordentliche Rührigkeit entfaltet, so daß sie am 25. September vollkommen beendet waren. André Basling hatte sich nicht am wenigsten geschickt hierbei gezeigt; ganz besonders entfaltete er großen Eifer, wenn es sich um Bequemlichkeiten für das junge Mädchen handelte, und wenn Marie, die ganz in dem Gedanken an ihren armen Ludwig lebte, hiervon nichts merkte, so sah Johann Cornbutte bald um so klarer in der Sache.

Der Kapitän fühlte sich hierdurch veranlaßt, den Gegenstand mit Penellan zu besprechen; auch erinnerte er sich jetzt an verschiedene Umstände, die über die Absichten des Obersteuermanns keinen Zweifel ließen. André Vasling liebte Marie und gedachte Johann Cornbutte um ihre Hand zu bitten, sobald der Tod des Schiffbrüchigen als feststehend zu betrachten war. Sodann, nach der Rückkehr, hätte André Vasling nichts dagegen gehabt, ein hübsches, liebenswürdiges Mädchen, die einzige Erbin ihres reichen Onkels heimzuführen.

Oft nun fehlte es dem Obersteuermann in seiner Ungeduld, das Ziel seiner Wünsche zu erreichen, an dem nothwendigen Tact. Er hatte zu verschiedenen Malen erklärt, daß die zur Auffindung der Verunglückten unter nommenen Nachforschungen gänzlich unnöthig seien, und oft entschlüpfte ihm ein Wort, daß diese seine Ansicht in noch helleres Licht stellte und natürlich von Penellan in genügender Weise hervorgehoben und registrirt wurde.[202]

André Basling verfehlte wiederum nicht, den Untersteuermann mit seinem aufrichtigsten Haß zu beehren, welches Gefühl Penellan in vollem Maße erwiderte. Er fürchtete nur, daß es André Basling gelingen könnte, Uneinigkeit in die Mannschaft zu bringen, und veranlaßte deshalb Johann Cornbutte, dem Obersteuermann in gewissen Fällen ausweichend zu antworten.

Als die Einrichtungen zur Ueberwinterung beendet waren, traf der Kapitän allerlei Anordnungen für die Gesundheit seiner Mannschaft. Die Leute mußten an jedem Morgen eine gründliche Lüftung in ihrem Logis vornehmen und die Wände von Tannenholz sorgfältig abtrocknen, um sie von der Feuchtigkeit, die sich während der Nacht angesetzt hatte, zu reinigen. Sie erhielten Morgens und Abends Kaffee oder heißen Thee, was ja anerkanntermaßen eins der besten Mittel gegen die Kälte ist. Auch wurden sie in Abtheilungen gesondert, von denen täglich eine auszog, um frisches Fleisch zur gewöhnlichen Schiffskost herbeizuschaffen.

Außerdem war den Matrosen anbefohlen, sich regelmäßig körperliche Bewegung zu machen und sich nicht regungslos der kalten Luft auszusetzen; es hätte sonst leicht kommen können, daß ihnen plötzlich Körpertheile erfroren. Wenn ja ein solcher Fall eintreten sollte, waren sie angewiesen, sofort Reibungen mit Schnee vorzunehmen, die allein sich hilfreich erwiesen.

Penellan drang lebhaft darauf, daß sich die Leute allmorgendlich kalten Abwaschungen unterzogen, was allerdings einen gewissen moralischen Muth erforderte; es wollte Manchem schwer einleuchten, daß er seinen äußern Menschen in Schnee tauchen sollte, den er doch innerlich mit aller Mühe zum Thauen gebracht hatte. Aber Penellan ging tapfer mit gutem Beispiel voran, und Marie war nicht die am mindesten Eifrige bei der Befolgung seiner Anordnungen.

Johann Cornbutte vergaß auch nicht, fromme Lectüre und Gebet in den Tageslauf mit zu verflechten, denn nur hiedurch konnte der Verzweiflung und Sorge in den Herzen der Leute der Eingang versperrt und somit der größten Gefahr in diesen Breiten vorgebeugt werden.

Der stets düstere Himmel erregte natürlich eine gedrückte Stimmung, und ein dichter, von heftigen Winden gepeitschter Schnee vermehrte noch die gewohnten Schauer der Umgebung. Die Sonne sollte bald ganz verschwinden, aber die armen Seefahrer hofften, daß der Mond sie ihnen wenigstens in geringem Maße während der langen Polarnacht ersetzen würde, wenn die[203] Wolken über ihrem Haupte sich verzogen hätten. Bei den jetzt herrschenden Westwinden fiel fortwährend Schnee, so daß die Zugänge zum Schiff täglich nen gekehrt und die Stufen, auf denen man in die Ebene hinabstieg, wieder gangbar gemacht werden mußten. Mit den Schneemassen konnte dies leicht geschehen, denn nachdem die Stufen einmal ausgehauen waren, brauchte man nur ein wenig Wasser oben darauf zu gießen und sie verhärteten sich sofort.

Penellan ließ in geringer Entfernung von dem Schiff ein Loch in das Eis hacken, und täglich durchbrach man die Kruste, die sich an seiner obern Mündung von Neuem gebildet hatte, um das Wasser aus der Tiefe herauszuholen, wo es bedeutend wärmer war, als auf der Oberfläche.

All diese Vorkehrungen dauerten etwa drei Wochen, und nachdem sie beendet waren, faßte man den Entschluß, die Nachforschungen weiter zu verfolgen. Das Schiff war auf sechs bis sieben Monate eingekerkert, und erst durch das nächste Thauen konnte ihm eine Bahn durch die Eisflächen eröffnet werden. Die Zeit dieser gezwungenen Unbeweglichkeit sollte zu Nachforschungen in nördlicher Richtung benutzt werden.

Quelle:
Jules Verne: Eine Ueberwinterung im Eise. In: Eine Idee des Doktor Ox. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 167–250, S. 201-204.
Lizenz:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon