Neuntes Capitel.
Das Schneehaus.

[207] Am 23. October um elf Uhr Morgens setzte sich bei schönem Mondschein die Karawane in Bewegung, und alle Vorsichtsmaßregeln waren dahin getroffen, daß sich die Reise, wenn es sein mußte, auf lange Zeit ausdehnen konnte. Johann Cornbutte gedachte der Küste in nördlicher Richtung zu folgen. Die Schritte der Reisenden ließen keine Spur auf ihren Wegen zurück, und Johann Cornbutte mußte sich mittelst in der Ferne gewählter Merkzeichen orientiren; bald schritt er auf einen in Pics auslaufenden Hügel zu, bald auf eine ungeheure Eisscholle, die der Druck empor gerichtet hatte.

Bei dem ersten Halt, den die kleine Schaar nach etwa fünfzehn Meilen machte, traf Penellan die Vorbereitungen zu einem Lagerplatz, indem er das Zelt an einen Eisblock lehnte. Marie litt nicht sehr von der Kälte, denn da die Brise sich glücklicherweise gelegt hatte, war die Temperatur weit milder[207] geworden, aber mehrmals hatte sie den Schlitten verlassen müssen und war nebenher geschritten, um zu verhindern, daß die Circulation des Blutes in Stockung gerieth. Uebrigens bot ihre kleine Hütte, die Penellan auf's Sorgfältigste hergerichtet hatte, so viel Bequemlichkeit, wie unter solchen Umständen nur irgend möglich.


Der Kapitän suchte ihnen die Situation klar zu machen. (S. 204.)
Der Kapitän suchte ihnen die Situation klar zu machen. (S. 204.)

Als die Nacht oder vielmehr der Augenblick der Ruhe heran kam, wurde das Schlittenhäuschen unter das Zelt gebracht und diente dem jungen[208] Mädchen zum Schlafzimmer Die Abendmahlzeit der Gesellschaft bestand aus frischem Fleisch, Pemmican und heißem Thee. Auch ließ Johann Cornbutte, um der furchtbaren Scorbutkrankheit entgegen zu wirken, an jeden Mann einige Tropfen Citronensaft vertheilen.


Die Karawane setzte sich in Bewegung. (S. 207.)
Die Karawane setzte sich in Bewegung. (S. 207.)

Nach achtstündigem Schlummer nahmen die Reisenden ihren Weg wieder auf, jedoch nicht, bevor sich Menschen und Hunde durch ein substantielles Mahl gestärkt hatten. Die Thiere zogen den Schlitten mit einer solchen[209] Leichtigkeit auf dem spiegelglatten Eise fort, daß die Seeleute ihnen kaum folgen konnten.

Leider zeigte sich bei Mehreren der Leute ein Uebel, das von dem Reflex des Mondscheins auf die unermeßlichen weißen Flächen herrührte, und das wir mit dem Namen »Blendung« bezeichnen dürfen. Es zeigte sich in einem unerträglichen Brennen und Schmerzen. Ganz besonders litten Aupic und der Zimmermann Misonne darunter, bei denen förmliche Ophthalmien auftraten.

Auch bemerkte man eine sehr eigenthümliche Wirkung der Strahlenbrechung, wenn man nämlich den Fuß auf eine Erhöhung zu setzen meinte, glitt er tiefer hinab, wodurch mancher Fall verursacht wurde. Zum Glück jedoch verletzte sich Niemand ernstlich, und so boten diese kleinen Unfälle Penellan nur Stoff zu heiteren Scherzen. Trotzdem jedoch befahl er den Leuten, keinen Schritt zu thun, ohne vorher den Boden mit dem eisenbeschlagenen Stabe, den Jeder mit sich trug, zu untersuchen.

Am 11. November, also zehn Tage nach dem Aufbruch von der Jeune-Hardie, war die Karawane etwa fünfzig Meilen nach Norden vorgeschritten, und die Ermüdung schon bei sämmtlichen Reisenden außerordentlich groß. Johann Cornbutte empfand schreckliche Blendungen, und sein Gesicht hatte sich in Folge dieser Qualen sehr geschwächt. Aupic und Fidèle Misonne gingen nur noch tastend weiter, und ihre Augen schienen von dem weißen Reflex wie versengt; nur Marie war bis jetzt von diesem Leiden verschont geblieben, da sie möglichst viel in ihrer Hütte blieb, und Penellan wurde von seinem wirklich heldenmäßigen Muth aufrecht erhalten; er leistete Widerstand gegen die furchtbarste Ermüdung. Wer sich jedoch von der ganzen Reisegesellschaft am Besten befand und Kälte, Schmerzen und Blendung nicht zu fühlen schien, war André Vasling; seine eiserne Constitution bot allen diesen Strapazen Trotz. Er nahm mit Freuden wahr, wie auch über die Stärksten Entmuthigung kam, und sah bereits den Augenblick herannahen, in dem der Rückweg angetreten werden mußte.

Am 1. November endlich war die Erschöpfung so groß geworden, daß eine mehrtägige Ruhe unumgänglich nothwendig erschien.

Sobald man einen Lagerplatz erwählt hatte, wurde über die Einrichtung desselben berathen und der Entschluß gefaßt, ein Schneehaus zu bauen, das sich an eins der Vorgebirge lehnen sollte. Fidèle Misonne steckte sofort die Entfernungen des Fundaments, fünfzehn Fuß Länge auf fünf Fuß Breite,[210] ab, und er, Penellan und Aupic schnitten große Eisblöcke, die an den bezeichneten Ort gebracht und aufgerichtet wurden. Da das Material in Menge vorhanden war, brauchte nicht damit gegeizt zu werden, und bald erhob sich die Rückseite in einer Höhe von fünf Fuß und eben derselben Breite. Nach ungefähr acht Stunden waren sämmtliche vier Mauern vollendet, und an der Südseite befand sich eine Thüröffnung, welche mit einem Ende der Zeltleinwand verhangen war, die als Plafond über das ganze Gebäude hinweg ging.

Es handelte sich jetzt nur noch darum, das Dach des ephemeren Baues zu bilden, und auch dies war nach dreistündiger, angestrengter Arbeit geschehen; Jeder zog sich erschöpft in das Schneehaus zurück. Johann Cornbutte war so leidend, daß er keinen Schritt thun konnte, und André Vasling wußte sich die Entmuthigung und den Schmerz des alten Seemanns so gut zu Nutze zu machen, daß er ihm das Versprechen abrang, er wolle seine Forschungen in diesen schauerlichen Einöden nicht weiter fortsetzen.

Penellan befand sich in einer verzweifelten Stimmung; er fand es empörend und feige, das Suchen nach den Gefährten schon jetzt, auf nichtige Muthmaßungen hin, aufzugeben, aber seine Vorstellungen blieben erfolglos. So war denn die Rückkehr beschlossen.

Der ganzen Schaar that jedoch Ruhe und Erholung nach den namenlosen Anstrengungen der letzten Tage so nöthig, daß man vorläufig noch nicht daran dachte, Vorbereitungen zur Rückreise zu machen.

Am vierten Tage endlich war Johann Cornbutte so weit hergestellt, daß er einen Platz an der Küste bestimmen konnte, wo die jetzt für die Reise überflüssig gewordenen Lebensmittel vergraben werden sollten; für den unwahrscheinlichen Fall, daß die Forschungen der Mannschaft sich noch einmal nach dieser Richtung erstreckten, wurde die Stelle durch ein leicht kenntliches Merkmal bezeichnet. An jedem Marschtage hatte der Kapitän ähnliche Depots auf seinem Wege hinterlassen, denn dies sicherte ihm Lebensmittel für die Rückkehr, ohne daß sie auf dem Schlitten weiter befördert werden brauchten.

Die Abreise wurde auf den 5. November um zehn Uhr Morgens festgesetzt, und eine tiefe Traurigkeit hatte sich der ganzen Schaar bemächtigt. Als Marie sah, wie entmuthigt und verzweiflungsvoll ihr Onkel war, konnte sie ihre Thränen nicht zurück halten. Wie furchtbare vergebliche Leiden! wie unendlich viel verlorene Arbeit! Was Penellan anbetraf, so war er in einer ganz[211] abscheulichen Laune; er fluchte und schalt auf alle Welt und versäumte keine Gelegenheit, seinen Gefährten ihre Schwäche und Feigheit vorzuhalten; er stellte ihnen Marie als Vorbild hin; sie wäre bis an's Ende der Welt gegangen, ohne eine Klage laut werden zu lassen.

André Vasling verhehlte seine Freude darüber, daß die Rückkehr schon jetzt stattfinden sollte, durchaus nicht; er bemühte sich mehr wie je um das junge Mädchen und suchte sie sogar mit der Hoffnung zu trösten, daß man die Nachforschungen, wenn der Winter vergangen, wieder aufnehmen könnte, obgleich ihm sehr wohl bewußt war, daß dann Alles zu spät sei.

Quelle:
Jules Verne: Eine Ueberwinterung im Eise. In: Eine Idee des Doktor Ox. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 167–250, S. 207-212.
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