|
[108] Am frühen Morgen des sechsundzwanzigsten Juni lichtete – um uns eines der metaphorischen Ausdrücke zu bedienen, welche ihrem Kommandanten geläufig waren – die Belle-Roulotte die Anker. Es fragte sich nur mehr –[108] um diese Metapher durch die bilderreiche Bemerkung des unsterblichen Prudhomme zu vervollständigen –, ob sie nicht etwa über einen Vulkan schiffen werde. Das war nicht unmöglich, sowohl figürlich gesprochen, da der Weg große Schwierigkeiten bieten würde, als auch in physikalischer Hinsicht, da es auf der nördlichen Küste des Beringmeeres nicht an thätigen oder erloschenen Vulkanen fehlt.
So verließ denn die Belle-Roulotte die alaskische Hauptstadt, begleitet von den guten Wünschen der zahlreichen Freunde, deren Bravos und Rubel die Familie im Laufe der vor den Thoren Sitkas verbrachten Tage eingeheimst hatte.
Das Wort »Thore« ist bezeichnender als man glauben sollte. Die Stadt ist nämlich mit einer soliden Palissade umgeben, durch deren wenige Öffnungen man nicht leicht ohne Erlaubnis eindringt.
Die russischen Autoritäten haben sich eben gegen den Zufluß der Kaluchen-Indianer vorsehen müssen, welche ihre Wohnstätten zwischen dem Stekin- und dem Tchilcotflusse, in der Nähe von Neu-Archangel, aufzuschlagen pflegen. Dort erheben sich verstreut ihre äußerst primitiv gebauten Hütten. Eine niedrige Thür führt in einen runden, manchmal in zwei Abteilungen geteilten Raum, welcher nur durch ein Loch in der Decke Licht erhält und auch keinen anderen Ausweg für den Rauch des Herdes besitzt. Diese Hütten bilden insgesamt eine Vorstadt Sitkas, eine Vorstadt extra muros. Nach Sonnenuntergang hat kein Indianer das Recht, in der Stadt zu verweilen, – ein durch die oft bedenklichen Beziehungen zwischen Indianern und Weißen gerechtfertigtes Verbot.
Außerhalb Sitkas mußte die Belle-Roulotte vorerst mit Hilfe dazu bestimmter Fähren über eine Anzahl schmaler Flüsse setzen, um an das geschlängelte Ufer eines Golfes zu gelangen, welcher in eine Spitze ausläuft und als Lyan-Kanal bekannt ist.
Von da an war man auf festem Lande.
Der Reiseplan, oder eigentlich die Marschroute, war sorgfältig von Herrn Sergius und Jean auf den großen Landkarten studiert worden, die ihnen im Gardens-Klub leicht zugänglich gewesen. Da Kayette die Gegend kannte, hatte man auch sie um ihre Meinung befragt. Ihr lebhafter Geist gestattete ihr, die Zeichen der vor ihr ausgebreiteten Karte zu begreifen. Sie drückte sich abwechselnd in indianischer und russischer Sprache aus und ihre Bemerkungen erwiesen sich als sehr nützlich für die Besprechung. Man mußte, wenn nicht den kürzesten, so doch jedenfalls den leichtesten Weg nach dem auf der östlichen Küste der Meerenge gelegenen Port-Clarence wählen. Demnach beschloß man, daß die Belle-Roulotte direkt auf den großen und bedeutenden Fluß Youkon zusteuern solle, welchen sie bei dem gleichnamigen[109] Fort, fast auf der Hälfte des Weges, cirka zweihundertfünfzig Meilen von Sitka, erreichen würde. Auf diese Weise wich man den Schwierigkeiten aus, die eine Reise längs der teilweise gebirgigen Küste geboten hätte. Dagegen breitete das Youkon-Thal sich zwischen den verworrenen Höhenzügen des Westens und den Rocky-Mountains aus, welch letztere Alaska von dem Flußgebiete des Mackenzie und von Britisch-Amerika trennen.
Demzufolge sah die Familie Cascabel einige Tage nach ihrer Abreise die regellosen Umrisse der Küste mit den hohen Gipfeln des Schönwetter- und des Elias-Berges im Südwesten verschwinden.
Die sorgfältig geregelten Marsch- und Raststunden wurden streng eingehalten. Man hatte keinen Grund zur Eile und es war besser, piano zu gehen, um sano zu gehen. Die Hauptsache war, die beiden Pferde zu schonen, die nur durch ein Renntiergespann ersetzt werden konnten, falls man sie verlöre, – eine Eventualität, der man um jeden Preis ausweichen mußte. So brach man denn jeden Morgen gegen sechs Uhr auf, machte mittags zwei Stunden lang Halt, und fuhr bis sechs Uhr abends weiter, um dann die ganze Nacht hindurch zu rasten. Auf diese Weise legte man durchschnittlich fünf bis sechs Meilen pro Tag zurück.
Wenn man übrigens Eile gehabt hätte, so wäre nichts leichter gewesen, als bei Nacht zu fahren, denn die Sonne von Alaska war, wie Herr Cascabel bemerkte, durchaus nicht träge.
»Kaum ist sie untergegangen, so geht sie schon wieder auf!« sagte er. »Dreiundzwanzig Stunden Beleuchtung und sie wird darum nicht besser bezahlt als anderswo!«
In der That sank die Sonne in dieser Epoche, nämlich zur Zeit der Sommersonnenwende, und in dieser hohen Zone, um elf Uhr siebzehn Minuten abends, und ging um elf Uhr neunundvierzig Minuten wieder auf, so daß sie nur zweiunddreißig Minuten lang hinter dem Horizonte verschwunden blieb, und die auf ihren Untergang folgende Abenddämmerung ohne Unterbrechung in den neuen Morgenschein hinüberfloß.
Was die Temperatur betrifft, so war sie heiß und manchmal sogar erstickend schwül. Unter diesen Umständen wäre es mehr als unvernünftig gewesen, nicht während der glühenden Mittagsstunden Rast zu halten. Menschen und Tiere litten sehr empfindlich von dieser außerordentlichen Hitze. Wer würde glauben, daß das Thermometer an der Grenze des Polarkreises manchmal auf dreißig Grad Celsius über Null steigt? Und dennoch ist dem so.
Obgleich die Reise sicher und ohne große Schwierigkeiten von statten ging, klagte die von der unausstehlichen Hitze arg mitgenommene Cornelia, und nicht ohne Grund.[110]
»Sie werden sich bald nach dem sehnen, was Ihnen jetzt so schwer zu ertragen scheint!« sagte Herr Sergius eines Tages zu ihr.
»Nach einer solchen Hitze?... niemals!« rief sie aus.
»In der That, Mutter,« bestätigte Jean. »Jenseits der Beringstraße, in den sibirischen Steppen, wirst du noch ganz anders von der Kälte leiden!«[111]
»Einverstanden, Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel. »Aber während man sich der Hitze nicht erwehren kann, ist es doch wenigstens möglich, sich mit Hilfe des Feuers vor der Kälte zu schützen.«
»Allerdings, mein Freund,« erwiderte Herr Sergius, »und das werden Sie auch in einigen Monaten thun müssen, denn die Kälte wird schrecklich sein, vergessen Sie das nicht!«
Nachdem die Belle-Roulotte sich durch die »Canons,« enge, kapriziös zwischen die mittelhohen Berge eingezwängte Schluchten, hindurchgewunden, sah sie am dritten Juli nur mehr weite Ebenen mit spärlichen Wäldern vor sich.
An jenem Tage fuhr sie an einem kleinen See, dem Dease-See entlang, welchem der Lewis-Rio, einer der bedeutendsten Nebenflüsse des unteren Youkon, entsprang. Kayette erkannte denselben.
»Ja,« sagte sie. »Das ist der Cargu, der sich in unseren großen Fluß ergießt!«
Und sie erklärte Jean, daß »Cargu« in alaskischer Sprache wörtlich »kleiner Fluß« bedeute.
Aber vernachlässigten es die Künstler der Cascabelschen Truppe während dieser Reise ohne Hindernisse und Anstrengungen ihre Übungen zu wiederholen, sich die Kraft ihrer Muskeln, die Geschmeidigkeit ihrer Glieder, die Geschicklichkeit ihrer Hände zu erhalten? Gewiß nicht; wenn die Hitze es gestattete, verwandelte der abendliche Rastplatz sich in eine Arena, welche nur Herrn Sergius und Kayette zu Zuschauern hatte. Dann bewunderten beide die Heldenthaten dieser tapferen Familie – die junge Indianerin nicht ohne einiges Erstaunen, Herr Sergius mit Wohlwollen.
Herr und Frau Cascabel übten sich abwechselnd im Heben schwerer Gewichte und im Werfen und Auffangen von Hanteln; Xander erging sich in den Verrenkungen, die seine Spezialität bildeten; Napoleone betrat das zwischen zwei Pfosten aufgespannte Seil und entfaltete ihre Anmut als Tänzerin, während Clou vor einem vermeintlichen Publikum paradierte.
Freilich hätte Jean es vorgezogen, bei seinen Büchern zu bleiben, sich im Geplauder mit Herrn Sergius zu bilden, oder Kayette zu unterrichten, welche unter seiner Leitung sehr schnelle Fortschritte in der französischen Sprache machte; aber der Vater verlangte, daß er nichts von seiner bemerkenswerten Geschicklichkeit als Equilibrist einbüße, und so schnellte er aus Gehorsam seine Gläser, Ringe, Kugeln, Messer und Stäbchen umher, – derweil er an ganz andere Dinge dachte, der arme Junge!
Übrigens empfand er große Befriedigung darüber, daß Herr Cascabel seinen Wunsch aufgeben mußte, Kayette zur Jahrmarktskünstlerin heranzubilden. Da das junge Mädchen von Herrn Sergius, einem reichen, gelehrten, der[112] besten Gesellschaft angehörenden Manne, adoptiert worden, war ihre Zukunft in achtbarster Weise gesichert. Ja! Das freute ihn, diesen wackern Jean, obgleich ihm andererseits der Gedanke, daß Kayette die Seinen verlassen werde, sobald sie die Beringstraße erreichten, ernstlichen Kummer bereitete. Und dieses Leid hätte man vermieden, wenn sie als Tänzerin bei der Truppe geblieben wäre!
Aber Jean hegte eine zu aufrichtige Freundschaft für sie, um sich nicht über ihre Adoption seitens des Herrn Sergius zu freuen. Empfand er doch selber das glühende Verlangen, seine Lage zu ändern! Fühlte er sich doch vermöge seiner höheren Instinkte zu etwas anderem als zu dieser Gaukler-Existenz geschaffen! Und er hatte sich doch auf den öffentlichen Plätzen unzähligemale der Bravos geschämt, welche ihm seine wunderbare Geschicklichkeit eingetragen!
Als er eines Abends mit Herrn Sergius spazieren ging, öffnete er diesem sein Herz mit all seinem Sehnen und Bedauern. Er sagte, was er zu werden gewünscht hätte, zu welchem Ehrgeiz er sich berechtigt glaube. Indem sie auch weiterhin durch die Welt streiften, sich auf Jahrmärkten zur Schau stellten, ihrem Gymnastiker- und Akrobatengewerbe oblagen und sich mit Gauklern und Clowns umgaben, würden seine Eltern es vielleicht zu bescheidenem Wohlstande bringen, würde er selber vielleicht mit der Zeit ein wenig Vermögen erwerben. Aber bis dahin würde es zu spät sein, eine achtbarere Laufbahn zu betreten.
»Ich schäme mich meiner Eltern nicht, Herr Sergius,« fügte er hinzu. »Nein. Das wäre undankbar. Innerhalb der Grenzen dessen, was sie thun konnten, haben sie nichts unterlassen! Sie sind gut gegen ihre Kinder gewesen! Aber ich fühle die Kraft in mir, ein Mann zu werden, und ich soll nichts als ein armer Gaukler sein!«
»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius »ich verstehe dich. Aber glaube mir, daß es schon etwas ist, ein wie immer beschaffenes Gewerbe ehrlich betrieben zu haben. Kennst du redlichere Menschen als deine Eltern?« –
»Nein, Herr Sergius!«
»Nun denn, fahre fort sie zu achten, wie ich sie selber achte. Dein Streben nach Besserem beweist eine edle Gesinnung. Wer weiß, was die Zukunft dir bringen wird! Fasse Mut, mein Kind, und rechne auf meine Unterstützung. Ich werde niemals vergessen, was deine Familie für mich gethan hat; niemals! Und eines Tages, wenn ich kann...«
Während Herr Sergius sprach, bemerkte Jean, daß seine Stirne sich verdüsterte und seine Stimme unsicher ward. Er schien der Zukunft mit Besorgnis entgegenzusehen. Ein kurzes Schweigen entstand, welches Jean mit den Worten unterbrach:[113]
»Warum wollen Sie nicht weiter als bis Port-Clarence mit uns reisen, Herr Sergius? Da Sie doch die Absicht haben, zu Ihrem Vater in Rußland zurückzukehren...«
»Es ist unmöglich, Jean,« antwortete Herr Sergius. »Ich habe die von mir unternommene Erforschung der westamerikanischen Gebiete noch nicht beendet.«
»Kayette wird bei Ihnen bleiben?...« flüsterte Jean.
Und seine Stimme klang so traurig, daß Herr Sergius sich tief bewegt fühlte.
»Muß sie mich nicht begleiten,« erwiderte er, »nun ich die Sorge für ihre Zukunft übernommen habe?«
»Sie würde Sie nicht verlassen, Herr Sergius und in Ihrem Lande...«
»Mein Kind,« antwortete Herr Sergius, »meine Pläne sind noch nicht endgültig gefaßt... Das ist alles, was ich dir jetzt sagen kann. Wenn wir erst Port-Cla rence erreicht haben, werden wir sehen... Vielleicht werde ich deinem Vater alsdann einen gewissen Vorschlag zu machen haben und es wird von seiner Antwort abhängen, ob...«
Jean bemerkte wieder das Zögern, welches er zuvor in den Worten des Herrn Sergius wahrgenommen hatte. Diesmal beharrte er nicht, da er sich zu größter Zurückhaltung verpflichtet fühlte. Aber nach dieser Unterhaltung wurde ihre gegenseitige Sympathie noch größer. Herr Sergius hatte erkannt, wie viel Gutes, Zuverlässiges, Edles in diesem redlichen und freimütigen Burschen steckte. Er beschäftigte sich denn auch damit, ihn zu unterrichten, die Studien, an denen er Geschmack fand, zu leiten. Was Herrn und Frau Cascabel betrifft, so konnten sie sich nur Glück wünschen zu dem, was Herr Sergius für ihren Sohn that.
Indessen vernachlässigte Jean sein Jägeramt durchaus nicht. Herr Sergius, der diesem Sport leidenschaftlich ergeben war, begleitete ihn häufig; und wieviel man sich zwischen zwei Schüssen sagen kann! Die Ebenen waren sehr wildreich. Es gab Hafen genug, um eine ganze Karawane zu ernähren. Und die Nützlichkeit derselben beschränkte sich nicht auf ihre Eigenschaft als Nährmittel.
»Es laufen da nicht nur Braten und Ragouts herum, sondern auch Mäntel, Boas, Muffs und Decken!« sagte Herr Cascabel eines Tages.
»So ist's, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »wenn sie unter einer Gestalt in der Küche figuriert haben, werden sie nicht minder vorteilhaft unter einen andern in Ihrer Garderobe figurieren. Man kann sich nicht genug gegen die Strenge des sibirischen Klimas vorsehen!«
Daraufhin sammelte man diese Felle und sparte zugleich die Konserven[114] für den Zeitpunkt auf, wo der Winter das Wild der Polargegenden in die Flucht jagen würde.
Und wenn die Jäger weder Rebhühner noch Hafen heimbrachten, verschmähte Cornelia es nicht, nach indianischer Gepflogenheit einen Raben oder eine Krähe in den Kochtopf zu thun, und die Suppe war darum nicht weniger vorzüglich.[115]
Hin und wieder zog Herr Sergius oder Jean auch einen prächtigen Auerhahn aus der Jagdtasche, und man kann sich leicht vorstellen, wie gut sich ein solcher Braten auf der Tafel ausnahm.
Die Belle-Roulotte hatte also keine Hungersnot zu befürchten. Aber freilich befand sie sich noch auf der leichtesten Strecke ihres abenteuerlichen Weges.
Großes Unbehagen aber, ja sogar eine Qual, die man erdulden mußte, verursachte die Zudringlichkeit der Moskitos. Nun Herr Cascabel sich nicht mehr auf englischem Boden wußte, fand er dieselben sehr unangenehm. Und ohne Zweifel würde ihr Gewimmel alles Maß überschritten haben, wenn die Schwalben sie nicht in außerordentlichen Mengen verzehrt hätten. Aber diese Schwalben würden sehr bald nach Süden ziehen, denn ihr Aufenthalt an den Grenzen des Polarkreises ist von äußerst kurzer Dauer.
Am 9. Juli kam die Belle-Roulotte an die Stelle, wo sich der Lewis-River durch eine weite Uferbresche in den Youkon ergießt. Wie Kayette bemerkte, trägt letzterer in seinem obern Laufe auch den Namen Pelly-River. Von der Mündung des Lewis an fließt er entschieden gegen Nordwesten, bevor er sich ganz nach Westen wendet, um seine Wasser in eine Bucht des Beringmeeres zu ergießen.
An der Mündung des Lewis erhebt sich ein Posten, Fort Selkirk, weniger bedeutend als das cirka hundert Meilen weiter thalwärts auf dem rechten Flußufer gelegene Fort Youkon.
Seit der Abfahrt von Sitka hatte die junge Indianerin wertvolle Dienste geleistet, indem sie die kleine Truppe mit merkwürdiger Sicherheit führte. Schon während ihres Nomadenlebens hatte sie diese, von dem großen alaskischen Flusse durchströmten Ebenen durchstreift. Von Herrn Sergius über ihre Kindheit befragt, hatte sie von ihrem ganzen, mühseligen Leben erzählt, von den Zeiten, wo die Indgeletenstämme von einem Ende des Youkonthales zum andern zogen, von der darauf folgenden Zerstreuung des Stammes, der Zerstreuung ihrer Familie. Und wie sie dann, gänzlich verwaist, sich notgedrungen entschlossen habe, bei irgend einem Sitkaer Beamten oder Agenten in Dienst zu gehen. Jean hatte sie wiederholt zur Erzählung ihrer traurigen Geschichte bewogen und war jedesmal tief gerührt davon.
In der Umgebung des Fort Selkirk begegnete man einigen jener Indianer, welche an den Ufern des Youkon umherschweifen, besonders solcher, welche Kayette als Birches oder Birkmänner bezeichnete. In der That wächst eine große Anzahl von Bäumen dieser Gattung unter den Kiefern, den Douglasfichten und Ahornen, welche die mittleren Gebiete der alaskischen Provinz bedecken.
Das von einigen Beamten der russisch-amerikanischen Gesellschaft bewohnte Fort Selkirk ist eigentlich bloß eine Pelz- und Kürschnerwaren-Niederlage,[116] welche die Händler der Ufergegenden zu bestimmten Zeiten aufsuchen, um ihre Einkäufe zu besorgen.
Die Beamten, froh über einen Besuch, welcher die Eintönigkeit ihres Daseins unterbrach, empfingen das Personal der Belle-Roulotte so gut, daß Herr Cascabel sich zu einer vierundzwanzigstündigen Rast entschloß.[117]
Indessen kam man überein, daß die Belle-Roulotte an dieser Stelle über den Youkonfluß setzen solle, um ihn nicht später und vielleicht unter weniger günstigen Umständen passieren zu müssen. In der That nahm sein Bett an Breite und seine Strömung an Schnelligkeit zu. je weiter er sich gegen Westen ausdehnte.
Es war Herr Sergius, der hierzu riet, nachdem er den Lauf des Youkon, welcher die Reiseroute zwei hundert Meilen vor Port-Clarence durchschnitt, auf der Karte studiert hatte.
So brachte denn eine Fähre mit Hilfe der Agenten und der in der Umgebung des Fort Selkirk ansässigen, vom Fischfang lebenden Indianer die Belle-Roulotte auf das rechte Flußufer hinüber.
Die Ankunft der Familie erwies sich diesen Indianern als sehr nützlich; denn sie vermochte deren Hilfeleistungen durch einen Dienst zu vergelten, dessen Größe dieselben zu würdigen wußten.
Der Häuptling des Stammes war gerade schwer erkrankt – oder schien es wenigstens zu sein. Als Arzt und Arzneien aber standen ihm nur der traditionelle Zauberer und die bei den Eingeborenen üblichen Wundermittel zur Verfügung. So lag der Häuptling denn schon eine Weile auf dem Dorfplatze, wo Tag und Nacht ein großes Feuer brannte. Die um ihn versammelten Indianer beschworen den großen Manitu in Chorgesängen, während der Zauberer seine besten Künste probierte, um den in den Körper des Kranken gefahrenen bösen Geist zu verjagen. Um des besseren Erfolges willen suchte er den genannten Geist in seinen eigenen Körper zu locken; dieser aber war zäher Natur und wollte nichts von dem Wohnungswechsel hören.
Zum Glück konnte Herr Sergius, der sich ein wenig auf Medizin verstand, dem Indianerhäuptling eine Behandlung angedeihen lassen, welche seinem Zustand entsprach.
Als Herr Sergius den erlauchten Patienten untersucht hatte, stellte er seine Diagnose ohne große Mühe und nahm die kleine Reise-Apotheke in Anspruch, um ihm ein energisches Vomitiv einzugeben, welches alle Beschwörungen des Zauberers nicht ersetzt hätten.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte der Häuptling sich nämlich eine Magenverstimmung ersten Ranges zugezogen, und die Menge Thee, die er konsumierte, erwies sich als machtlos dagegen.
So aber blieb er zur großen Befriedigung seines Stammes am Leben, – was die Familie Cascabel um den Anblick der Ceremonien brachte, welche die Beerdigung eines Herrschers begleiten. Nebenbei gesagt, ist das Wort Beerdigung nicht zutreffend, wenn es sich um eine indianische Totenfeier handelt. Denn der Tote wird einige Fuß über der Erde in der Luft aufgehängt. Auf dem Grunde seines Sarges liegen, als sollten sie ihm im Jenseits dienen,[118] seine Pfeife, sein Bogen, seine Pfeile, seine Schneeschuhe und die mehr oder weniger kostbaren Pelze, die er im Winter trug. Und der Wind schaukelt ihn während seines ewigen Schlafes wie ein Kind in der Wiege.
Die Familie Cascabel verbrachte nur vierundzwanzig Stunden bei Fort Selkirk, verabschiedete sich dann von den Indianern und den Beamten und nahm eine ausgezeichnete Erinnerung an jenen ersten Aufenthalt am Ufer des[119] Flusses mit sich fort. Sie mußte längs des Pelly-River stromaufwärts ziehen, auf einem ziemlich schwierigen Wege, den das Gespann nicht ohne Anstrengung zurücklegte. Endlich, am 27. Juli, siebzehn Tage nachdem sie Fort Selkirk verlassen, erreichte die Belle-Roulotte Fort Youkon.
Buchempfehlung
1587 erscheint anonym im Verlag des Frankfurter Druckers Johann Spies die Geschichte von Johann Georg Faust, die die Hauptquelle der späteren Faustdichtung werden wird.
94 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro