|
[11] Cascabel!... Ein in den fünf Weltteilen »und anderwärts« bekannter und sogar berühmter Name, sagte stolz der Mann. der diesen Namen so ehrenvoll trug.
Cäsar Cascabel, gebürtig aus Pontorson inmitten der Normandie, war in allen Kniffen des Normannenlandes wohlbewandert. Aber so schlau und geschickt er auch sein mochte, er war ein ehrlicher Mensch geblieben und man würde unrecht thun, ihn unter die Mitglieder der gewöhnlichen Marktschreiergilde zu zählen. Als Familienvater machte er durch seine persönlichen Tugenden die Niedrigkeit seiner Herkunft und die Unregelmäßigkeiten seines Berufes wett.
Zu jener Zeit war Herr Cascabel so alt wie er aussah, fünfundvierzig Jahre, nicht mehr und nicht weniger. Zu einem unsteten Leben geboren, hatte er keine andere Wiege als das Hausierbündel gekannt, welches sein Vater auf den Messen und Märkten der normännischen Provinz umherschleppte. Seine Mutter war, kurz nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, gestorben, und als er einige Jahre später seinen Vater verlor, wurde er sehr zur rechten Zeit von einer wandernden Gauklerbande aufgenommen. Dort verbrachte er seine Jugend mit Purzelbäumen, Verrenkungen und gefährlichen Sprüngen, den Kopf nach unten, die Beine in der Luft. Dann wurde er nach der Reihe Clown, Gymnastiker, Akrobat, Jahrmarktsherkules – bis er sich endlich, als Vater dreier Kinder, zum Direktor jener kleinen Familie emporschwang, die er mit Frau Cascabel, gebornen Cornelia Vadarasse, aus Martigues in der Provence, gegründet hatte.
Intelligent und scharfsinnig, von auffallender Körperkraft und ungewöhnlicher Geschicklichkeit, gaben seine moralischen Eigenschaften seinen physischen nichts nach. Freilich setzt sich an einen rollenden Stein kein Moos an, aber[11] er reibt sich wenigstens an den Unebenheiten der Straßen, er glättet sich, er schleift seine Kanten ab, er wird rund und glänzend. So hatte Cäsar Cascabel sich denn auch während fünfundvierzig Jahren des Rollens so gründlich gerieben, geschliffen und abgerundet, daß er das Leben durch und durch kannte und sich über nichts mehr wunderte. Da er Europa von Jahrmarkt zu Jahrmarkt durchzogen und sich sowohl in Amerika als auch in den holländischen und spanischen Kolonieen akklimatisiert hatte, verstand er so ziemlich alle Sprachen und war derselben mehr oder weniger mächtig, »sogar derjenigen, die er nicht konnte«, wie er zu sagen pflegte, denn er stand nicht an, sich durch Gesten verständlich zu machen, wenn ihm die Worte ausgingen.
Cäsar Cascabel war etwas über Mittelgröße gewachsen, – breite Brust, sehr geschmeidige Glieder, Gesicht mit etwas vorstehenden Kinnbacken (was auf Energie deutet), kräftiger Kopf mit struppigem Haar, von den Wettern und Sonnengluten aller möglichen Zonen gebräunt, Schnurrbart ohne Spitzen unter einer mächtigen Nase, ein wenig Backenbart auf kupferigen Wangen, blaue, sehr lebhafte, sehr durchdringende, gutmütig blickende Augen, ein Mund, in dem man noch keinen künstlichen Zahn hätte anbringen können, ohne die übliche Zahl von zweiunddreißig zu überschreiten. Vor dem Publikum ein Fréderic Lemaitre mit grandiosen Gesten, phantastischen Posen und hochtrabenden Phrasen, war er im Privatleben sehr einfach, sehr natürlich, und betete seine Familie an.
Von äußerst robuster Gesundheit, war er, wenngleich sein Alter ihm jetzt den Beruf eines Akrobaten untersagte, noch immer bemerkenswert bei den Kraftproduktionen, welche »Muskel erfordern«. Überdies besaß er außerordentliches Talent zu jenem Zweige der Jahrmarktsindustrie, der Bauchrednerei, der Wissenschaft des Engastrymismus, die aus sehr alten Zeiten stammt, da nach Aussage des Bischofs Eustachius die Hexe von Endor nichts anders als eine Bauchrednerin war. So oft er es wollte, stieg ihm die Stimme aus der Kehle in den Bauch hinab. Hätte er allein ein Duett singen können?... O! er hätte sich nicht lange bitten lassen!
Schließlich wollen wir noch zur Vervollständigung seines Porträts erwähnen, daß Cäsar Cascabel eine Schwäche für die großen Eroberer hatte – besonders für Napoleon. Ja, er liebte den Helden des ersten Kaiserreiches ebenso sehr, wie er seine Henker, jene Söhne Hudson Lowes, jene abscheulichen John Bulls, haßte. Napoleon, das war »ein Mann für ihn«! Er hatte sich denn auch nie vor der Königin von England produzieren wollen, »obgleich sie ihn durch Vermittlung ihres Majordomus darum ersucht hatte«, wie er gern und zwar so häufig erzählte, daß er es schließlich selber glaubte.
Herr Cascabel war kein Cirkusdirektor, kein Franconi, Renz oder Schumann, an der Spitze einer Truppe von Kunstreitern, Kunstreiterinnen,[12] Clowns und Taschenspielern. Nein! ein einfacher Jahrmarktsgaukler, der sich auf den Marktplätzen, bei schönem Wetter unter freiem Himmel, bei Regen in einem Zelte sehen ließ. Bei diesem Gewerbe, dessen bedenklichen Wechselfällen er ein Vierteljahrhundert lang die Stirne geboten, hatte er, wie man weiß, jenes runde Sümmchen erspart, welches jetzt unter einem Kombinationsschlosse verwahrt wurde.
Welche Arbeit, welche Anstrengungen, welches zeitweilige Elend das repräsentierte! Jetzt war das Schwerste überstanden. Die Familie Cascabel bereitete sich zur Rückkehr nach Europa vor. Nachdem sie die Vereinigten Staaten durchzogen, sollte sie sich auf einem französischen oder amerikanischen – nur keinem englischen! – Paketboote einschiffen.
Übrigens war Cäsar Cascabel nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Hindernisse existierten nicht für ihn. Höchstens Schwierigkeiten. Er verstand es, sich durchs Leben zu winden und zu schlagen. Er würde ruhig mit dem Herzog von Danzig, einem der Marschälle seines großen Mannes, gesagt haben:
»Bohrt mir ein Loch, so krieche ich hindurch!«
Und er war in der That schon durch viele Löcher gekrochen!
»Frau Cascabel, geborne Cornelia Vadarasse, eine Vollblut-Provençalin, die unvergleichliche Hellseherin, die Königin der elektrischen Frauen, mit allen Reizen ihres Geschlechtes ausgestattet, mit all den Tugenden geziert, welche einer Familienmutter zur Ehre gereichen, war siegreich aus den großen Wettkämpfen hervorgegangen, zu welchen Chicago die ersten, Athletinnen der Welt' geladen hatte.«
Mit diesen Ausdrücken pflegte Herr Cascabel die Gefährtin seines Lebens vorzustellen. Er hatte sie zwanzig Jahre zuvor in Newyork geheiratet. Hatte er bezüglich dieser Heirat die Meinung seines Vaters eingeholt? Nein! Und zwar erstens, weil sein Vater ihn auch bei der seinigen nicht um seine Meinung befragt hatte, und zweitens, weil der wackere Mann schon damals nicht mehr dieser Welt angehörte. Die Sache hatte sich, das darf man mir glauben, sehr einfach gemacht, ohne all jene präliminären Förmlichkeiten, welche im alten Europa die Vereinigung zweier für einander geschaffener Wesen so ärgerlich verzögern.
Eines Abends, als er sich in der Eigenschaft eines Zuschauers in Barnums Theater auf dem Broadway befand, erstaunte Cäsar Cascabel über die Anmut, die Kraft, die Gewandtheit, welche eine junge französische Akrobatin, Fräulein Cornelia Vadarasse, am Reck entfesselte. Der Gedanke, die Talente dieser anmutigen Künstlerin mit den seinigen zu verbinden, ihre beiden Existenzen zu einer zu verschmelzen, eine künftige Familie kleiner, ihres Vaters und ihrer Mutter würdiger Cascabels zu gründen, lag für den wackeren Gaukler auf der Hand. Während eines Zwischenaktes auf die Bühne stürzen, sich Cornelia[13] Vadarasse vorstellen, ihr mit geziemenden Worten unter Hinweis auf ihre Zusammengehörigkeit als Franzosen einen Heiratsantrag machen, einen im Zuschauerraume anwesenden ehrsamen Clergyman erspähen, denselben ins Foyer schleppen und auffordern, eine so wohl begründete Ehe einzusegnen, das war in dem glücklichen Lande der Vereinigten Staaten Amerikas eine Kleinigkeit. Und sind diese per Dampf geschlossenen Ehen deshalb weniger glückliche Wenigstens sollte die des Cäsar Cascabel mit Cornelia Vadarasse eine der glücklichsten sein, die jemals auf dieser niederen Welt geschlossen worden.
Zur Zeit, wo diese Erzählung ihren Anfang nimmt, zählte Cornelia Vadarasse vierzig Jahre. Sie war schön gewachsen, vielleicht ein klein wenig voll, mit schwarzen Augen und Haaren, lächelndem Munde, und gleich ihrem Manne im Besitze ihrer sämtlichen Zähne. Was ihre ungewöhnliche Kraft betrifft, so hatte man dieselbe bei jenen denkwürdigen Wettkämpfen ermessen können, wo sie »einen Ehren-Chignon« erhalten. Erwähnen wir, daß Cornelia ihren Mann noch wie am ersten Tage ihrer Ehe liebte und ein unerschütterliches Vertrauen in das Genie dieses außerordentlichen Menschen setzte, der eine der merkwürdigsten Typen des Normannenlandes repräsentierte.
Erstgeborner aus dieser Jahrmarktskünstlerehe: Jean, dermalen 19 Jahre alt. Wenn er von Natur aus nicht zu Kraftproduktionen, gymnastischen Leistungen, Clown- und Akrobatenkünsten beanlagt war, so ersetzte er diesen Mangel durch eine erstaunliche Gewandtheit mit den Händen und eine Sicherheit des Blickes, welche ihn zum anmutigsten und elegantesten Taschenspieler machten, der übrigens nicht sehr stolz auf seine Erfolge war. Er war ein sanftes, sinniges Wesen, brünett wie seine Mutter, aber mit blauen Augen. Wißbegierig und zurückhaltend, suchte er sich, wo und wann er konnte, zu unterrichten. Er schämte sich keineswegs des Berufes seiner Eltern, aber er begriff, daß man doch besseres thun könne, als dem Publikum Kunststückchen vormachen, und er gedachte dieses Gewerbe aufzugeben, sobald er in Frankreich sein würde. Aber da er tiefe Zuneigung zu seinen Eltern hegte, beobachtete er in Bezug auf diesen Gegenstand die äußerste Zurückhaltung. Wie sollte er übrigens auch dahin gelangen, sich eine andere Stellung in der Welt zu schaffen?
Zweiter Sohn: Ah, dieser, der Zweitgeborene, der Verrenkungskünstler der Truppe, der war wirklich das logische Produkt der Cascabelschen Verbindung! Zwölf Jahre alt, behend wie eine Katze, geschickt wie ein Affe, flink wie ein Aal, ein kleiner, drei Fuß sechs Zoll hoher Clown, der, wenn man seinem Vater glauben wollte, schon als Säugling den »großen Sprung« gemacht, ein wahrer Gassenjunge an Schelmerei und Possen, von schlagfertigem Witze, aber gut geartet, verdiente er manchmal einen Backenstreich und lachte, wenn er ihn erhielt, da er nie sehr nachdrücklich gegeben wurde.[14]
Man wird bemerkt haben, daß der älteste Cascabel sich Jean nannte. Und weshalb dieser Name? Die Mutter hatte darauf bestanden, zu Ehren eines ihrer Großonkel, eines Marseiller Seemannes, Jean Vadarasse, der von den Karaiben verspeist worden – worauf sie sehr stolz war. Offenbar würde der Vater, welcher das Glück hatte, Cäsar zu heißen, einen anderen, historischeren,[15] besser mit seiner geheimen Bewunderung für Kriegshelden in Einklang stehenden Namen vorgezogen haben.
Aber er hatte seiner Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes nicht entgegen sein wollen und dem Namen Jean zugestimmt, indem er sich vornahm, sich bei der möglichen Ankunft eines weiteren Sprößlings dafür zu entschädigen.
Und so wurde der zweite Sohn Alexander getauft, nachdem er beinahe zu den Namen Hamilkar, Attila oder Hannibal gekommen wäre. Zur vertraulichen Abkürzung aber hieß man ihn Xander.
Nach dem ersten und dem zweiten Knaben hatte die Familie sich um ein kleines Mädchen vermehrt, welches Frau Cascabel gern Hersilla genannt hätte, welches aber zu Ehren des Märtyrers von Sankt Helena den Namen Napoleone erhielt.
Napoleone zählte derzeit acht Jahre. Sie war ein niedliches Kind, welches sehr hübsch zu werden versprach und das Versprechen auch wirklich hielt. Blond und rosig, mit lebhaften und beweglichen Zügen, sehr graziös und sehr geschickt, war sie bereits in alle Geheimnisse des Seiles eingedrungen; ihre Füßchen glitten und trippelten auf dem Drahtseil dahin, als ob das leichte kleine Ding von Flügeln gehalten würde.
Selbstverständlich war Napoleone der verhätschelte Liebling der Familie Alle beteten sie an und sie war auch anbetungswürdig. Ihre Mutter gefiel sich in dem Gedanken, daß Napoleone eines Tages irgend eine glänzende Partie machen werde. Ist dies doch eine der mit dem nomadischen Gauklecleben verknüpften Chancen! Warum sollte Napoleone, wenn sie groß und hübsch geworden, nicht einem Prinzen begegnen, der sich in sie verlieben und sie heiraten würde?
»Wie in den Märchen?« antwortete Herr Cascabel, der positiver angelegt war als seine Frau.
»Nein, Cäsar, wie im Leben.«
»Ach, Cornelia! Die Zeiten sind vorüber, wo Könige Schäferinnen heirateten, und ich weiß auch nicht einmal, ob die Schäferinnen heutzutage einwilligen würden, Könige zu heiraten!«
So war die Familie Cascabel beschaffen, Vater, Mutter und drei Kinder. Vielleicht wäre es, im Hinblick auf gewisse Figuren der lebenden Pyramide, wo die Künstler sich paarweise aufeinander aufbauen, besser gewesen, wenn noch ein vierter Sprößling hinzugekommen wäre. Aber dieser Vierte blieb aus.
Glücklicherweise war Clou-de-Girofle da und durchaus zur Mitwirkung bei erstaunlichen Schaustellungen geeignet.
In der That, Clou ergänzte die Cascabels vorzüglich. Die Truppe war seine Familie. Er gehörte in jeder Hinsicht dazu, obgleich er amerikanischen Ursprungs war. Einer jener armen Teufel, ohne Verwandte, geboren kein Mensch weiß wo – kaum daß sie's selber wissen –, von der Barmherzigkeit großgezogen, vom Zufall ernährt, die gut ausfallen, wenn sie eine gute Natur und angeborene Moral haben, die ihnen gestatten, dem bösen Beispiel und den bösen Einflüsterungen des Elends zu widerstehen.
Und sollte man nicht einiges Mitleid mit diesen Unglücklichen haben, wenn sie, wie es am häufigsten geschieht, auf Abwege geraten oder ein übles Ende nehmen?[16]
Aber letzteres war nicht der Fall bei Ned Harley, dem Herr Cascabel zum Spaß den Spitznamen Clou-de-Girofle gegeben, was in seiner Muttersprache ein artiges Wortspiel zuließ, bei dem die zahlreichen Ohrfeigen, zu deren Entgegennahme während der Vorstellung er engagiert war, die Pointe bildeten.
Vor zwei Jahren, als Herr Cascabel während seiner Rundreise durch die Vereinigten Staaten auf Ned Harley gestoßen, war dieser Unglückliche dem Hungertode nahe gewesen. Die Akrobatentruppe, der er angehört, hatte sich eben nach der Flucht des Direktors aufgelöst. Er spielte dort die »Minstrels«. Ein trauriges Gewerbe, selbst wenn es den ihm Obliegenden halb und halb ernährt! Sich mit Wichse beschmieren, um einen Neger vorzustellen, einen schwarzen Frack und eine schwarze Hofe, eine weiße Weste und weiße Kravatte anlegen und in Gesellschaft von vier bis fünf Parias seines Schlages possenhafte Lieder singen und dazu auf einer lächerlichen Fiedel herumkratzen, welch ein Amt im menschlichen Gemeinwesen! Nun, und um dieses Amt war Ned Harley gekommen; so war er überglücklich, der Vorsehung in Gestalt des Herrn Cascabel in den Weg gelaufen zu sein.
Dieser hatte gerade seinen Gehilfen davongejagt, dem die komischen Rollen in den Paradescenen gewöhnlich zugefallen waren. Sollte man's glauben? Dieser Hanswurst hatte sich für einen Amerikaner ausgegeben, und er war englischen Ursprungs! Ein John Bull in der wandernden Truppe! Ein Landsmann jener Henker, die... Sie kennen ja das Lied. Eines Tages erfuhr Herr Cascabel durch Zufall, welcher Nation der Eindringling angehörte.
»Herr Waldurton,« sagte er zu ihm, »da Sie Engländer sind, so werden Sie sich augenblicklich packen, oder ich werfe Ihnen meinen Stiefel an den Kopf, ein so tüchtiger Hanswurst Sie auch sein mögen!«
Und ein so tüchtiger Hanswurst er auch war, Herr Waldurton würde den Stiefel an die bezeichnete Stelle bekommen haben, wenn er sich nicht eiligst aus dem Staube gemacht hätte.
So kam denn Clou an seine Stelle. Der Ex-minstrel verpflichtete sich zu allem, sowohl zu der Parade auf den Brettern, als auch zur Wartung der Tiere und zu Handleistungen in der Küche, so oft Cornelia derselben bedürfen sollte. Selbstverständlich sprach er französisch, aber mit äußerst prononciertem Accent.
Im ganzen genommen war er ein trotz seiner fünfunddreißig Jahre naiv gebliebener Bursche, ebenso heiter, wenn er das Publikum durch seine drolligen Späße ergötzte, wie er im Privatleben melancholisch war. Er sah die Dinge mehr von ihrer düsteren Seite an, und das war, aufrichtig gesagt, nicht erstaunlich, da er sich kaum zu den Glücklichen dieser Erde zählen konnte Sein spitzer Kopf, das lange, eingefallene Gesicht, das gelbliche Haar, die[18] runden, kindlichen Augen, die unmäßig lange Nase, auf welche er ein halbes Dutzend Brillen setzen konnte – großer Lacheffekt –, die abstehenden Ohren und der magere, von Skelettbeinen getragene Rumpf machten ihn zu einem bizarren Wesen. Übrigens pflegte er sich nicht zu beklagen, wenn nicht etwa, – dies »wenn nicht etwa« war die Verwahrungsformel, die er seinen Äußerungen anzuhängen pflegte – das Schicksal ihm Anlaß zu Klagen gab. Schließlich hatte er sich seit seinem Dienstantritte bei den Cascabels sehr an diese Familie gewöhnt, die ihrerseits ihren Clou-de-Girofle nicht mehr zu entbehren vermocht hätte.
So war das, wenn man sich so ausdrücken darf, menschliche Element dieser Gauklertruppe beschaffen.
Das tierische Element vertraten zwei wackere Hunde, ein Wachtelhund, sehr tüchtig auf der Jagd, sehr zuverlässig als Hüter des rollenden Hauses, und ein Pudel, gelehrt und geistreich, zum Mitglied der französichen Akademie bestimmt, sobald es eine französische Akademie für Hunde geben wird.
Nach den zwei Hunden geziemt es sich, dem Publikum einen kleinen Affen vorzustellen, der es im Grimassenwettstreit so erfolgreich mit Clou selber aufnehmen konnte, daß die Zuschauer in großer Verlegenheit gewesen wären, zu entscheiden, welchem von beiden der Preis gebühre. Des weiteren gab es einen Papagei, Jako, auf Java zu Hause, der dank der Lektionen seines Freundes Xander zehn Stunden von zwölfen hindurch sprach, plapperte, sang und schrie. Schließlich sind noch zwei Pferde zu erwähnen, zwei brave alte Gäule, welche den Jahrmarktswagen zogen; der Himmel weiß, daß ihre mit dem Alter etwas steif gewordenen Beine manche Meile Weges zurückgelegt hatten!
Und man will wissen, wie diese beiden trefflichen Tiere sich nannten? Das eine hieß Vermout, wie der Sieger des Herrn Delamarre, das andere Gladiator, wie der Sieger des Grafen v. Lagrange. Ja sie trugen diese auf dem französischen Turf berühmten Namen, ohne daß es ihnen je in den Sinn gekommen wäre, sich für den Grand Prix de Paris nennen zu lassen.
Was die beiden Hunde betrifft, so hörte der Wachtelhund auf Wagram, der Pudel auf Marengo, und man wird unschwer erraten, welchem Paten sie diese historisch berühmten Namen verdankten.
Der Affe aber war John Bull getauft worden – ganz einfach wegen seiner Häßlichkeit.
Was wollen Sie? Man muß Herrn Cascabel diese Manie nachsehen, die ihren Ursprung schließlich in einem sehr verzeihlichen Patriotismus hatte – verzeihlich selbst in einer Epoche, wo derartige Sympathien keine eigentliche Existenzberechtigung mehr besitzen.
»Wie sollte man,« sagte er manchmal, »nicht den Mann vergöttern, der[19] inmitten eines Kugelregens rief: Folgt meinem weißen Helmbusch, ihr werdet ihn immer u. s. w.!«
Und als man ihm einmal bemerkte, daß diese schönen Worte von Heinrich IV. herrührten, antwortete er:
»Möglich; aber Napoleon wäre ganz im stande gewesen, einen solchen Ausspruch zu thun.«
Buchempfehlung
1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.
84 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro