IV. Großer Entschluß.

[31] Schufte!

Das war gewiß die Bezeichnung, die solchem Gesindel gebührte. Aber die Familie war darum nicht minder geplündert.

Bisher hatte Herr Cascabel jeden Abend nachgesehen, ob die Kasse sich auch an ihrem Platze befinde! Gestern aber hatte er, wie er sich jetzt erinnerte, infolge der schweren Anstrengungen des Tages schlaftrunken, seine gewöhnliche Vorsichtsmaßregel vergessen. Offenbar waren die beiden Führer, während er mit[31] Jean, Xander und Clou die zurückgelassenen Gegenstände holte, unbemerkt bis in die letzte Abteilung gedrungen, hatten sich der Handkasse bemächtigt und dieselbe in irgend einem Gestrüpp am Rande des Lagers versteckt. Das war auch der Grund ihrer Weigerung, die Nacht im Innern der Belle-Roulotte zu verbringen. Sie hatten abgewartet, bis die ganze Familie eingeschlafen war, und hatten sich dann mit den Pferden des Landwirts aus dem Staube gemacht.

Von sämtlichen Ersparnissen der kleinen Truppe war nichts übrig geblieben, mit Ausnahme einiger Dollars, die Herr Cascabel bei sich trug. Und dabei mußte man noch von Glück sagen, daß die Schurken nicht auch Vermout und Gladiator mit sich geführt hatten!

Die bereits seit vierundzwanzig Stunden an die Gegenwart der beiden Männer gewöhnten Hunde hatten nicht einmal angeschlagen und die Missethat war ohne Schwierigkeit verübt worden.

Wo sollte man die über die Sierra geflohenen Diebe suchen?... Wo das Geld wiederfinden?.. Und wie sollte man ohne dies Geld über den Atlantischen Ocean kommen?

Die Verzweiflung der Familie äußerte sich in den Thränen der einen, der Wut der andern. Anfangs war Herr Cascabel ganz außer sich und seine Frau und Kinder hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Aber als sein Zorn sich ausgetobt hatte, beherrschte er sich wie ein Mann, der seine Zeit nicht mit vergeblichen Rekriminationen verlieren darf.

»Verwünschte Kasse!« konnte Cornelia sich nicht enthalten, inmitten ihrer Thränen zu sagen.

»Das steht fest,« meinte Jean, »daß unser Geld, wenn wir keine Kasse gehabt hätten...«

»Jawohl... Ein hübscher Einfall, der mich dazu trieb, diese verteufelte Kiste zu kaufen!« rief Herr Cascabel. »Wenn man eine Kasse hat, so ist es entschieden vernünftig, nichts hinein zu thun! Was hilft's, daß sie feuerfest ist, wie der Verkäufer mir sagte, sobald sie keine Sicherheit gegen Räuber gewährt!«

Man muß gestehen, daß dies ein harter Schlag für die Familie war und es kann niemand wunder nehmen, wenn sie sich dadurch gebeugt fühlte, zweitausend so mühsam erworbene Dollars zu verlieren!

»Was thun?« sagte Jean.

»Was thun?« antwortete Herr Cascabel, dessen zusammengebissene Zähne die Worte zu kauen schienen. »Das ist sehr einfach!... Ohne Vorspann können wir den Paß nicht höher hinausgelangen... Daher schlage ich vor, in das Gehöft zurückzukehren... Vielleicht sind jene Lumpen dort...«

»Wenn sie nicht etwa einen anderen Weg eingeschlagen haben!« sagte Clou-de-Girofle.[32]

Und das war allerdings mehr als wahrscheinlich. Indessen, wie Herr Cascabel wiederholt sagte, mußte man umkehren, da man nicht vorwärts konnte.

So wurden denn Vermout und Gladiator eingespannt und der Wagen schlug den Rückweg durch den Sierra-Engpaß ein.

Ach! das fiel nur zu leicht! Man kommt schnell von der Stelle, wenn es nur bergab geht. Aber die Truppe schritt niedergeschlagen einher. Alles schwieg, bis auf Herrn Cascabel, der von Zeit zu Zeit eine Flut von Flüchen ausstieß.

Mittags hielt die Belle-Roulotte vor dem Gehöft. Die beiden Diebe waren nicht dahin zurückgekehrt. Als der Landwirt hörte, was geschehen war, geriet er in großen Zorn, ohne sich indessen sonderlich um die Familie zu kümmern. Hatte dieselbe ihr Geld eingebüßt, so war er um seine drei Pferde gekommen. Die Missethäter mußten über den Paß hinüber geflohen sein. Da war guter Rat teuer! In seiner Wut war der Landwirt nahe daran, Herrn Cascabel für den Raub seiner Tiere verantwortlich zu machen.

»Das ist doch stark!« sagte dieser. »Warum halten Sie solche Schurken in Ihrem Dienste und warum verdingen Sie dieselben an ehrliche Leute?«

»Wußte ich's denn?« entgegnete der Landwirt. »Ich hatte mich nie über sie zu beklagen gehabt!... Sie waren aus Britisch-Kolumbia gekommen...«

»Es waren Engländer?«

»Jawohl.«

»In diesem Falle warnt man die Leute, Herr, man warnt sie!« schrie Herr Cascabel.

Wie dem auch sein mochte, das Geld war gestohlen und die Lage eine äußerst ernste.

Aber wenn Frau Cascabel sich auch nicht so rasch zu fassen vermochte, so gewann doch ihr Mann mit der ihm eigenen Nomadenphilosophie bald seine Kaltblütigkeit wieder.

Und als sie aufs neue in der Belle-Roulotte versammelt waren, entspann sich ein Gespräch zwischen den Mitgliedern der Familie, ein Gespräch von hoher Wichtigkeit, »aus welchem ein großer Entschluß her vorgehen sollte,« wie Herr Cascabel mit feierlichem Nachdruck bemerkte.

»Kinder, es giebt Lebenslagen, in denen ein entschlossener Mensch wissen muß, was er will... Ich habe sogar bemerkt, daß dies besonders bei unangenehmen Lagen der Fall ist. So zum Beispiel bei derjenigen, in die wir uns durch die That jener Schurken jener Englishmen, versetzt sehen!... Es handelt sich darum, uns für den kürzesten Weg zu entscheiden, umsomehr, da es keinen längeren giebt... Es giebt nur einen, und diesen werden wir sofort einschlagen!«[33]

»Welchen?« fragte Xander.

»Ich werde euch gleich mit dem Plan bekannt machen, der mir durch den Kopf gefahren ist. Aber um zu wissen, ob derselbe ausführbar ist, muß Jean sein Dingsda mit den Landkarten bringen...«

»Meinen Atlas,« sagte Jean.

»Jawohl, deinen Atlas. Du mußt ja sehr stark in der Geographie sein!... Geh deinen Atlas holen.«

»Sogleich, Vater.«

Und als der Atlas auf dem Tische lag, fuhr Herr Cascabel folgendermaßen fort:

»Es ist selbstverständlich, Kinder, daß wir, trotzdem diese Schufte von Engländern – habe ich es nicht geahnt, daß es Engländer waren! – uns unsere Kasse gestohlen, – was habe ich auch den Einfall gehabt, eine Kasse zu kaufen! – es ist trotzdem selbstverständlich, sage ich, daß wir unsere Absicht, nach Europa zurückzukehren, nicht aufgeben...«

»Sie aufgeben?... niemals!« rief Frau Cascabel.

»Würdig gesprochen, Cornelia! Wir wollen nach Europa zurückkehren, und wir werden dahin zurückkehren. Wir wollen Frankreich wiedersehen, und wir werden es wiedersehen. Wenn wir durch Gesindel geplündert worden sind, so soll uns das nicht... Ich wenigstens, ich muß die Luft der Heimat atmen, sonst sterbe ich...«

»Und du sollst nicht sterben, Cäsar! Wir sind nach Europa aufgebrochen... wir werden trotz allem dahin gelangen...«

»Und auf welche Weise?« fragte Jean nachdrücklich. »Ja! auf welche Weise?«

»In der That, auf welche Weise?« versetzte Herr Cascabel, indem er sich die Stirne rieb. »Freilich können wir, wenn wir unterwegs Vorstellungen geben, von Tag zu Tag genug verdienen, um die Belle-Roulotte nach Newyork zu bringen... Aber einmal dort, giebt es für uns, ohne die zur Bezahlung der Überfahrt nötige Summe, kein Paketboot!... Und in Ermangelung eines Paketbootes könnte man höchstens schwimmend übers Meer gelangen... Was mir doch etwas schwierig scheint...«

»Sehr schwierig, Herr Direktor,« antwortete Clou, »wenn man nicht etwa Schwimmhäute...«

»Hast du welche?«

»Ich glaube nicht...«

»Nun, dann schweige und höre zu!«

Er wandte sich zu seinem Ältesten.


Der Wagen fuhr den Engpaß hinab. (Seite 33.)
Der Wagen fuhr den Engpaß hinab. (Seite 33.)

»Jean, schlage deinen Atlas auf und zeige uns die Stelle, wo wir uns soeben befinden!«[34]

Jean suchte die Karte von Nordamerika und breitete dieselbe vor seinem Vater aus. Alle betrachteten sie, während Jean mit dem Finger auf einen Punkt der Sierra Nevada, ein wenig östlich von Sakramento, deutete.

»Hier ist die Stelle,« sagte er.

»Wohl,« antwortete Herr Cascabel. »Wenn wir also auf der andern Seite des Gebirges angelangt wären, so müßten wir das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten bis Newyork durchmessen?«

»Ja, Vater.«

»Und wieviele Meilen macht das aus?«

»Gegen dreizehnhundert Meilen.«

»Wohl! Dann müßte man über den Ocean setzen?«

»Allerdings.«

»Wieviele Meilen beträgt dieser Ocean?«

»Ungefähr neunhundert bis Europa.«

»Und einmal in Frankreich angelangt, sind wir sozusagen gleich in unserer Normandie?«

»Sozusagen, ja!«

»Und das macht zusammen?«

»Zweitausendzweihundert Meilen!« rief die kleine Napoleone, die an ihren Fingern gezählt hatte.

»Seht doch das Jüngferlein!« sagte Herr Cascabel. »Das versteht sich bereits aufs Rechnen! – Also zweitausendzweihundert Meilen?...«

»Ungefähr, Vater,« antwortete Jean, »und ich glaube sie reichlich bemessen zu haben!«

»Nun denn, Kinder, dies Endchen Weges wäre kein Gegenstand für die Belle-Roulotte, wenn sich nicht zwischen Amerika und Europa ein Meer befände, ein verwünschtes Meer, das ihr hinderlich ist. Und dieses Hindernis kann man nicht ohne Geld bewältigen, das heißt ohne Paketboot...«

»Oder ohne Schwimmhäute!« wiederholte Clou.

»Er bleibt bei seinen Schwimmhäuten!« meinte Herr Cascabel achselzuckend.

»Also ist es augenscheinlich,« folgerte Jean, »daß wir im Osten nicht fortkommen!«

»Es ist unmöglich, wie du sagst, mein Sohn, absolut unmöglich! Aber... vielleicht im Westen?«...«

»Im Westen?« rief Jean, indem er seinen Vater ansah.

»Jawohl... Sieh ein wenig nach und zeige mir, welchen Weg man in westlicher Richtung nehmen müßte.«

»Man müßte vorerst Kalifornien, Oregon und das Gebiet von Washington bis zur nördlichen Grenze der Vereinigten Staaten durchziehen.«[36]

»Und dann?«

»Dann käme Britisch-Kolumbia...«

»Pfui!« machte Herr Cascabel. »Könnte man dies Kolumbia nicht umgehen?«


Man müsse vorerst Kalifornien durchqueren.
Man müsse vorerst Kalifornien durchqueren.

»Nein, Vater.«

»Sei's drum!... Dann?...«[37]

»Einmal an der Nordgrenze von Kolumbia angelangt, hätten wir die Provinz Alaska vor uns...«

»Die englisch ist?«

»Nein, russisch – wenigstens bis jetzt; denn es ist die Rede davon, daß sie annektiert werden soll...«

»Von England?«

»Nein... von den Vereinigten Staaten.«

»Vortrefflich!... Und was kommt nach Alaska?«

»Die Beringstraße, die Meerenge, welche die beiden Kontinente Amerika und Asien trennt.«

»Und wie viele Meilen hätten wir bis zu dieser Meerenge?«

»Elfhundert Meilen.«

»Merke dir's, Napoleone; du wirst dann zusammenzählen.«

»Und ich?...« fragte Xander.

»Du ebenfalls.«

»Also wie breit mag deine Meerenge sein, Jean?«

»An die zwanzig Meilen, Vater.«

»O! an die zwanzig Meilen!...« bemerkte Frau Cascabel.

»Ein Bach, Cornelia, sozusagen ein Bach!«

»Wieso!... Ein Bach?...«

»Ja... Übrigens, Jean, friert deine Meerenge nicht im Winter zu?«

»Doch, Vater! Sie ist vier bis fünf Monate hindurch fest gefroren...«

»Bravo! und dann kann man sie auf dem Eise passieren?«

»Man kann es und man thut es auch.«

»Ah! prächtige Meerenge!«

»Aber ist hernach kein Meer mehr im Wege?« fragte Cornelia.

»Nein! Man befindet sich auf dem asiatischen Festlande, welches sich bis an die europäisch-russische Grenze erstreckt.«

»Zeig uns das, Jean.«

Und Jean suchte in dem Atlas die Karte von Asien, welche Herr Cascabel aufmerksam musterte.

»Ei, das macht sich nach Wunsch,« sagte er, »wenn nicht zu viele wilde Gegenden in deinem Asien sind!...«

»Nicht allzu viele, Vater.«

»Und wo liegt Europa?«

»Dort,« antwortete Jean, den Finger auf die Uralgrenze legend.

»Und wie groß ist die Entfernung von jener Meerenge... jenem Beringbache... bis ins europäische Rußland?«

»Man zählt sechzehnhundert Meilen.«

»Und von dort nach Frankreich?«[38]

»Gegen sechshundert.«

»Und all das macht, von Sakramento aus?...«

»Dreitausenddreihundertzwanzig Meilen!« riefen Xander und Napoleone zugleich.

»Ihr bekommt beide eine gute Klassifizierung!« sagte Herr Cascabel. »Also in östlicher Richtung zweitausendzweihundert Meilen?...«

»Ja, Vater.«

»Und in westlicher cirka dreitausenddreihundert?«

»Ja; ein Unterschied von etwa elfhundert Meilen...«

»In westlicher Richtung,« schloß Herr Cascabel, »aber kein Meer auf dem Wege! Also, Kinder, wenn man auf einer Seite nicht weiter kann, so muß man sich nach der anderen wenden; und das ist es, was ich euch ganz einfach zu thun vorschlage!«

»Ei! Eine Reise nach rückwärts!« rief Xander.

»Nicht nach rückwärts, sondern nur in umgekehrter Richtung!«.

»Sehr wohl, Vater,« antwortete Jean. »Indessen möchte ich dir zu bedenken geben, daß wir bei der Länge des Weges dieses Jahr nicht mehr nach Frankreich kommen können, wenn wir die westliche Richtung wählen.«

»Warum denn nicht?«

»Weil elfhundert Meilen mehr doch keine Kleinigkeit für die Belle-Roulotte und ihr Gespann sind.«

»Nun denn, Kinder, wenn wir dieses Jahr nicht mehr nach Europa kommen, so werden wir nächstes Jahr dort eintreffen! Und dabei fällt mir ein, wenn wir schon durch Rußland müssen, so können wir die Messen von Perm, Kasan, Nischni besuchen, von denen ich so oft reden gehört; und ich stehe euch dafür, daß die berühmte Familie Cascabel dort einen guten Eindruck machen und auch reichliche Einnahmen erzielen wird!«

Was für Einwendungen kann man einem Manne machen, der auf alles eine Antwort hat?

In der That ist es mit der Seele wie mit dem Eisen. Unter wiederholten Schlägen zieht sie sich zusammen, wird sie zäh und widerstandsfähig! So war es auch bei diesen wackern Gauklern. Während ihres mühsamen und abenteuerlichen Nomadenlebens, das ihnen mancherlei Prüfungen auferlegt, hatten sie sich ohne Zweifel niemals in einer so peinlichen Lage befunden: – ihre Ersparnisse verloren, die Rückkehr ins Vaterland auf dem gewöhnlichen Wege unmöglich geworden. Aber das Unglück hatte ihnen diesen letzten Hammerschlag so rauh versetzt, daß sie nunmehr die Kraft in sich fühlten, allem Kommenden die Stirne zu bieten.

Frau Cascabel, ihre beiden Söhne und ihre Tochter spendeten im Chor den Vorschlägen des Vaters Beifall. Und doch war das wirklich der reinste[39] Unsinn und Herr Cascabel mußte auf die Rückkehr nach Europa arg versessen sein, um die Ausführung eines solchen Planes zu beschließen! Aber was war ihm eine Reise durch den Westen Amerikas und durch Sibirien, sobald Frankreich das Ziel derselben bildete?

»Bravo!... Bravo!...« rief Napoleone.

»Da capo!... da capo!...« fügte Xander hinzu, der keine bedeutsameren Worte fand, um seine Begeisterung auszudrücken.

»Sag doch, Vater,« fragte Napoleone, »werden wir den Kaiser von Rußland sehen?«

»Gewiß, wenn Seine Majestät der Zar die Gewohnheit hat, sich auf der Messe von Nischni amüsieren zu kommen.«

»Und wir werden vor ihm arbeiten?«

»Jawohl... falls es ihm Vergnügen macht...«

»Ah! wie gern ich ihn auf beide Wangen küssen möchte!«

»Vielleicht wirst du dich mit einer begnügen müssen, Töchterchen!« erwiderte Herr Cascabel. »Aber wenn du ihn umarmst, so gieb wohl acht, daß du ihm seine Krone nicht verdirbst!...«

Auch Clou-de-Girofle empfand die ungeteilteste Bewunderung für seinen Herrn und Gönner.

So würde denn die Belle-Roulotte der festgesetzten Reiseroute gemäß ihren Weg durch Kalifornien, Oregon und das Gebiet von Washington nach der anglo-amerikanischen Grenze nehmen. Es waren noch etwa fünfzig Dollars vorhanden – das Taschengeld, welches glücklicherweise nicht in der Handkasse verwahrt worden war. Da eine so geringe Summe indessen nicht die Reisekosten decken konnte, beschloß man, daß die kleine Truppe in Städten und Dörfern Vorstellungen geben werde. Die dadurch verursachten Verzögerungen brauchten kein Bedenken zu erregen. Mußte man doch warten, bis die Meerenge in ihrer ganzen Breite zufror und dem Gefährt den Übergang gestattete. Das aber konnte erst in sieben bis acht Monaten geschehen.

»Und es müßte doch mit dem Teufel zugehen,« sagte Herr Cascabel zum Schlusse, »wenn wir vor unserer Ankunft am äußersten Ende Amerikas nicht einige hübsche Einnahmen machten.«

Um die Wahrheit zu sagen, war es sehr problematisch, ob man in den oberen Gegenden Alaskas unter den wandernden Indianerstämmen »Geld machen« würde. Aber bis zur westlichen Grenze der Vereinigten Staaten, in jenem Teile des neuen Festlandes, welchen die Familie Cascabel noch nicht besucht hatte, würde das Publikum sie ohne Zweifel auf ihren bloßen Ruf hin nach Verdienst willkommen heißen.

Jenseits der Grenze lag dann freilich Britisch-Kolumbia, und obgleich es dort zahlreiche Städte gab, würde Herr Cascabel sich niemals, nein, niemals[40] dazu erniedrigen, Shillings oder Pence zu sammeln. Es war schon mehr als genug, es war schon zu viel, daß die Belle-Roulotte und ihr Personal über zweihundert Meilen weit den Boden einer britischen Kolonie unter den Füßen haben sollte!

Was Sibirien mit seinen weiten, unbewohnten Steppen betrifft, so würde man dort kaum einige jener Samojeden- oder Tschuktschentrupps antreffen, welche[41] selten die Küstengebiete verlassen. Dort standen allerdings keine Einnahmen in Aussicht. Übrigens würde man sehen, wenn man hinkäme.


Ja, Frau Direktor, eine prächtige Idee. (Seite 42.)
Ja, Frau Direktor, eine prächtige Idee. (Seite 42.)

Als alles verabredet war, entschied Herr Cascabel, daß die Belle-Roulotte sich gleich morgen bei Tagesanbruch auf den Weg machen solle.

Einstweilen galt es zu soupieren. Cornelia ging mit gewohntem Eifer an die Arbeit, und während sie am Herde hantierte, sagte sie zu ihrem Gehilfen Clou-de-Girofle:

»Es ist doch ein prächtiger Einfall, den Herr Cascabel da gehabt hat!«

»Jawohl, Frau Direktorin, ein prächtiger Einfall, wie übrigens alle, die in seinem Kessel kochen... will sagen, in seinem Hirn umgehen...«

»Und dann, Clou, kein Meer zu durchschiffen und keine Seekrankheit...«

»Wenn nicht etwa... das Eis in jener Meerenge schaukelt!«

»Genug Clou, keine bösen Prophezeiungen!«

Unterdessen führte Xander einige gefährliche Sprünge aus, die seinen Vater entzückten, während Napoleone anmutig tanzte und die Hunde um sie herum sprangen. Man hatte jetzt Grund, sich zu üben, da die Vorstellungen wieder aufgenommen werden sollten.

Plötzlich rief Xander:

»Und die Tiere haben wir nicht um ihre Meinung über unsere große Reise befragt!«

Er lief augenblicklich zu Vermout hin:

»Nun, mein alter Klepper, wird dir ein tüchtiger Trab von dreitausend Meilen behagen?«

Dann wandte er sich zu Gladiator:

»Was werden deine armen alten Beine dazu sagen?«

Die beiden Pferde wieherten, als wollten sie ihre Zustimmung geben.

Hierauf befragte Xander die Hunde:

»Und du, Wagram, und du, Marengo, wollt ihr euch hübsche Luftsprünge gestatten?

Freudiges, von bedeutsamen Sätzen begleitetes Gebell. Kein Zweifel, Wagram und Marengo würden auf einen Wink ihres Herrn die Reise um die ganze Welt antreten.

Jetzt war die Reihe, seine Meinung kundzuthun, an dem Affen.

»Höre, John Bull!« rief Xander, »schau nicht so kläglich drein! Du wirst fremde Länder sehen, mein Junge! Und sollte dirs zu kalt werden, so ziehen wir dir eine warme Jacke an! Wie steht's mit deinen Grimassen?... Ich hoffe doch, daß du deine Grimassen nicht vergessen hast?«

Nein! John Bull hatte sie nicht vergessen, und er schnitt so komische Grimassen, daß er die allgemeine Heiterkeit erregte.

Blieb noch der Papagei.[42]

Xander nahm ihn aus seinem Käfig, und der Vogel schritt auf und ab, mit dem Kopfe wackelnd und sich auf seinen Füßen wiegend.

»Nun, Jako,« fragte Xander, »du antwortest mir nicht?... Hast du etwa deine Stimme verloren?... Wir werden eine schöne Reise machen!... Bist du's zufrieden, Jako?«

Jako holte eine Anzahl von artikulierten Lauten aus dem Grunde seines Halses hervor, in denen die »r« rollten, als ob sie dem mächtigen Kehlkopfe des Herrn Cascabel entströmt wären.

»Bravo!« rief Xander. »Jako ist zufrieden!... Jako stimmt zu!... Jako hat ›ja‹ gesagt!«

Und die Hände auf der Erde, die Füße in der Luft, führte der junge Bursche eine Reihe von Purzelbäumen und Verrenkungen aus, welche ihm väterliche Bravorufe eintrugen.

In diesem Augenblicke erschien Cornelia.

»Zu Tische!« rief sie.

Eine Sekunde später saßen die Tischgenossen im Speisezimmer, wo das Mahl bis zur letzten Krume aufgezehrt wurde.

Alles schien bereits vergessen, als Clou das Gespräch auf die berüchtigte Geldkasse zurücklenkte.

»Aber da fällt mir ein, Herr Direktor!« sagte er, »jene zwei Schurken haben sich eigentlich gehörig angeschmiert!«

»Wieso?« fragte Jean.

»Da sie das Wort nicht kennen, werden sie die Kasse niemals öffnen können...«

»Und so werden sie dieselbe vermutlich zurückbringen,« antwortete Herr Cascabel laut auflachend.

Ganz in seinen neuen Plan vertieft, hatte dieser merkwürdige Mensch den Raub bereits verschmerzt.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 31-43.
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