I. Die Beringstraße.

[168] Er bildet eine ziemlich enge Durchfahrt, dieser Beringkanal, welcher das gleichnamige Meer mit dem Polarmeere verbindet. Dem zwischen La Manche und der Nordsee gelegenen Pas-de-Calais ähnelnd, besitzt er eine dreimal so große Ausdehnung als dieser; denn während die Entfernung vom Kap Gris-Nez an der französischen bis zum South-Foreland an der englischen Küste höchstens sechs bis sieben Meilen beträgt, trennen cirka zwanzig Meilen Port-Clarence von Numana.

Und diesem Numana, als dem nächstgelegenen Punkte an der asiatischen Küste, strebte die Belle-Roulotte zu, nachdem sie ihren letzten Aufenthalt' in Amerika verlassen hatte.

Ohne Zweifel würde eine das Beringmeer schräg durchschneidende Reiseroute Cäsar Cascabel gestattet haben, unter einem wesentlich südlich vom Polarkreise gelegenen Breitegrade zu reisen. In diesem Falle würde man in südwestlicher Richtung bis zur St. Laurentius-Insel vorgedrungen sein – einer ziemlich bedeutenden Insel, deren aus zahlreichen Eskimostämmen bestehende Bevölkerung nicht weniger gastfreundlich ist wie die Einwohner von Port-Clarence. Jenseits des Golfes von Anadir wäre die kleine Truppe dann beim Kap Navarin ans Land gestiegen, um ihr Heil in den Gebieten Südsibiriens zu versuchen. Aber dadurch würde man den auf dem Meere, oder vielmehr auf jenem Eisfeld zurückzulegenden Teil der Reise verlängert und sich somit den auf Eisfeldern drohenden Gefahren länger ausgesetzt haben. Begreiflicherweise hatte die Familie Cascabel Eile, auf festen Boden zu gelangen. Es schien daher geboten, keinerlei Abänderungen des ursprünglichen Planes vorzunehmen, sondern über die inmitten der Meerenge gelegene Insel Diomedes, die auf ihrer felsigen Basis keinem Punkte des Festlandes an Solidität nachsteht, nach Numana zu reisen.

Hätte Herrn Sergius ein Schiff zur Beförderung der kleinen Karawane zur Verfügung gestanden, so hätte er eine andere Reiseroute gewählt. Er[168] würde das Fahrzeug nach der Beringinsel, einem südlicher gelegenen, sehr beliebten Überwinterungsorte der Seehunde und anderer Säugetiere des Meeres, und von dort nach irgend einer Hafenstadt Kamtschatkas, vielleicht gar nach Petropawlowsk, der Hauptstadt dieses Gouvernements, gelenkt haben. Aber in Ermangelung eines Schiffes mußte man den kürzesten Weg wählen, um das asiatische Festland je eher zu betreten.

Die Beringstraße ist nirgends sehr tief. Infolge der seit der Eisperiode konstatierbaren Anschwemmungen wäre es sogar möglich, daß sich in sehr ferner Zukunft eine Vereinigung Asiens und Amerikas an diesem Punkte vollzöge. Das wäre dann die von Herrn Cascabel geträumte Brücke, oder, genauer gesagt, ein den Reisenden zugänglicher Dammweg. Aber wenn auch nützlich für letztere, wäre er doch den Schiffern und besonders den Walfischfängern sehr unbequem, da er ihnen die Einfahrt ins Polarmeer wehren würde. So müßte dann schließlich ein neuer Lesseps kommen, um diesen Isthmus zu durchschneiden und den ursprünglichen Stand der Dinge wieder herzustellen. Die Erben unserer Urenkel werden sich mit dieser Eventualität zu befassen haben.

Auf Grund der an verschiedenen Punkten der Meerenge vorgenommenen Messungen konstatierten die Hydrographen, daß man längs der asiatischen Küste, in der Nähe der Tschuktschen-Halbinsel, im Bereiche der von Norden kommenden kalten Strömung, das tiefste Fahrwasser findet, während die warme Strömung durch die minder tiefe Durchfahrt an der amerikanischen Küste aufwärts fließt.

Im Norden dieser Halbinsel, bei der Koliutschin-Insel, in der gleichnamigen Bai, sollte zwölf Jahre später Nordenskjölds Schiff, die »Vega,« nachdem er die nordöstliche Durchfahrt entdeckt, während eines Zeitraumes von neun Monaten, vom sechsundzwanzigsten September 1878 bis zum fünfzehnten Juli 1879, im Eise gefangen liegen.

Die Familie Cascabel war also am einundzwanzigsten Oktober bei recht gutem Befinden aufgebrochen. Es herrschte strenge trockene Kälte. Der Schneefall hatte aufgehört; der schwächer werdende Wind blies aus Norden. Der Himmel war in mattes, einförmiges Grau gehüllt. Man ahnte die Sonne kaum hinter jenen Nebelschleiern, welche die infolge ihrer Schrägheit sehr geschwächten Strahlen nicht zu durchbrechen vermochten. Mittags, auf dem höchsten Punkte ihres Laufes, stand sie nur um drei bis vier Grade über dem südlichen Horizonte.

Vor der Abreise von Port-Clarence hatte man sich einstimmig für eine sehr vernünftige Maßregel entschieden: man würde nicht im Dunkeln fahren. Das Eisfeld zeigte hie und da große Risse, welche, wenn man sie nicht sah und vermied, irgend eine Katastrophe herbeiführen konnten. Man war übereingekommen, Halt zu machen, sobald der Gesichtskreis auf hundert Schritte weit beschränkt erschien. Besser, die zwanzig Meilen der Meerenge in fünfzehn[169] Tagen zurückzulegen, als bei ungenügender Beleuchtung blindlings vorwärts zu streben.

Der Schnee, der vierundzwanzig Stunden lang gefallen war und einen ganz dicken Teppich bildete, hatte sich unter der Einwirkung der Kälte krystallisiert. Diese Schicht erleichterte die Bewegung auf der Oberfläche des Eisfeldes. Wenn nicht etwa ein neuer Schneefall eintrat, würde der Übergang keine Schwierigkeiten bieten. Indessen stand zu befürchten, daß dort, wo die beiden in entgegengesetzter Richtung fließenden Strömungen einander begegneten, die während des Eistreibens zusammengestoßenen Eisschollen sich übereinander getürmt haben und die Reise durch zahlreiche Umwege verlängern würden.

Wie bereits erwähnt, hatten Cornelia, Kayette und Napoleone im Wagen Platz genommen. Um ihn möglichst wenig zu belasten, sollten die Männer ihn zu Fuß begleiten.

Der festgestellten Marschordnung gemäß war Jean als Vorhut mit der Rekognoscierung des Eisfeldes betraut; man durfte sich auf ihn verlassen. Er war mit einem Kompaß versehen und obgleich er dabei nicht sehr genau verfahren konnte, hielt er die westliche Richtung doch präcis genug ein.

Clou hielt sich bei den Pferden, bereit, Vermout und Gladiator beizuspringen, falls sie straucheln sollten, wovor sie übrigens auch der scharfe Beschlag ihrer Hufeisen und die absolute Ebenheit der Eisfläche schützte.

Neben dem Wagen schritten Herr Sergius und Cäsar Cascabel, mit Brillen versehen und gleich ihren Gefährten wohl vermummt, plaudernd einher.

Was den jungen Xander betrifft, so wäre es keine leichte Sache gewesen, ihm einen Platz anzuweisen, oder vielmehr, ihn zum Ausharren darauf zu bestimmen. Er ging und kam, lief und sprang wie die beiden Hunde, und gestattete sich sogar das Vergnügen langer Schleifpartieen. Indessen erlaubte sein Vater ihm nicht, die Eskimo-Schneeschuhe anzulegen, was ihn arg verdroß.

»Mit jenen Schlittschuhen,« sagte er, »könnte man in einigen Stunden über die Meerenge gelangen!«

»Was hilft uns das,« antwortete Cascabel, »da unsere Pferde sich nicht aufs Schlittschuhlaufen verstehen!«

»Ich werde sie's lehren müssen!« meinte der Junge, indem er einen Purzelbaum schlug.

Unterdessen waren Cornelia, Kayette und Napoleone in der Küche beschäftigt und ein leichter, vielverheißender Rauch stieg aus dem kleinen Ofenrohr in die Luft. Wenn sie im Innern der hermetisch verschlossenen Abteilungen nicht von der Kälte litten, so mußten sie um so sorglicher an die draußen Befindlichen denken. Das thaten sie denn auch, indem sie stets einige Schalen heißen Thees mit einem Zusatze von Wódka, jenem russischen Branntwein, der einen Toten neubeleben würde, bereit hielten.
[170]

Die zwei Bunde scheuchten Tausende von Vögeln auf. (Seite 172.)
Die zwei Bunde scheuchten Tausende von Vögeln auf. (Seite 172.)

Was die Pferde angeht, so war ihre Ernährung während des Überganges durch eine genügende Anzahl von Heubündeln gesichert, welche man sich von den Eingeborenen in Port-Clarence verschafft hatte. Wagram und Marengo erhielten reichlich Elentierfleisch, mit dem sie sich zufrieden zeigten.

Übrigens war das Eisfeld nicht so arm an Wild, als man glauben würde. Bei ihren Wettläufen stöberten die Hunde Tausende von Schnee- und[171] Wasserhühnern und anderen, der Polarregion angehörenden Vögel auf. Sorgfältig zubereitet und seines öligen Geschmackes entledigt, vermag dieses Geflügel noch immer ein eßbares Gericht zu liefern. Da Cornelias Speisekammer aber reichliche Vorräte barg, wäre es mehr als überflüssig gewesen, dasselbe zu erlegen, und so beschloß man, die Flinten während der Reise nach Numana ruhen zu lassen.

Was die in diesen Breiten sehr zahlreichen Amphibien, Seehunde und ähnliche Tiere betrifft, so erblickte man während des ersten Tagemarsches kein einziges Exemplar davon.

Wenn die Abreise bei froher Laune vor sich gegangen war, so empfanden Herr Cascabel und seine Gefährten doch bald jene undefinierbare Wehmut, welche über grenzenlosen Ebenen, über unabsehbaren Schneeflächen schwebt. Schon gegen elf Uhr waren die hohen Felsen von Port-Clarence und sogar die Spitzen des Prince-of-Wales-Caps ihren Blicken in dunstiger Ferne entschwunden. Man vermochte nicht über eine halbe Meile hinaus zu sehen und folglich würde es lange dauern, bevor man die Höhen des Ostkaps auf der Tschuktschenhalbinsel erblickte. Und doch würden gerade diese Höhen einen vorzüglichen Orientierungspunkt für die Reisenden gebildet haben.

Die beinahe im Centrum der Meerenge gelegene Insel Diomedes wird von keiner felsigen Anhöhe beherrscht. Da ihre Masse sich kaum über die Meeresfläche erhebt, würde man sie erst in dem Augenblicke gewahr werden, wo die Räder durch die Schneeschicht hindurch auf dem felsigen Boden knirschten. Indessen lenkte Jean, seinen Kompaß zur Hand, die Belle-Roulotte ohne große Mühe, und wenn sie nicht schnell von der Stelle kam, so drang sie doch wenigstens in vollster Sicherheit vor.

Unterwegs plauderten Herr Sergius und Cäsar Cascabel mit Vorliebe über ihre gegenwärtige Lage. Dieses Überschreiten der Meerenge, das vor dem Aufbruche so einfach erschien, das nach der Ankunft nicht minder einfach erscheinen würde, war recht gefährlich, nun man darin begriffen war.

»Unser Unternehmen ist denn doch ein bißchen stark!« sagte Herr Cascabel.

»Ohne Zweifel,« antwortete Herr Sergius, »mit einem schweren Wagen über die Beringstraße setzen, das ist eine Idee, die nicht jedem gekommen wäre!«

»Ich glaub's, Herr Sergius! Aber was wollen Sie? Wenn man sich einmal in den Kopf gesetzt hat, in sein Vaterland zurückzukehren, so kann einen nichts zurückhalten. Ah! Wenn es sich bloß darum handelte, Hunderte von Meilen durch den Far-West oder Sibirien zu ziehen, so würde ich kein Wort darüber verlieren!... Man geht auf festem Boden und riskiert nicht, daß er einem unter den Füßen einstürzt!... Aber zwanzig Meilen Eismeer mit Gespann, Material und allem möglichen passieren!... Teufel! Ich möchte,


Die Eisfläche zeigte große Risse. (Seite 174.)
Die Eisfläche zeigte große Risse. (Seite 174.)

wir wären schon drüben!... Dann hätten wir den schwierigsten oder doch wenigstens den gefährlichsten Teil der Reise hinter uns.«[172]

»Gewiß, mein lieber Cascabel, besonders wenn die Belle-Roulotte jenseits der Meerenge die südlichen Gebiete Sibiriens schnell zu erreichen vermag. Der Versuch, während der großen Winterkälte längs der Küste vorzudringen, wäre ein sehr unvernünftiger. So werden wir uns denn gleich von Numana[173] aus nach Südwesten wenden müssen, um in einem der Marktflecken, die wir dort antreffen, ein gutes Winterquartier zu wählen.«

»Das ist unser Plan! Aber Sie müssen ja das Land kennen, Herr Sergius?«

»Ich kenne nur die Gegend zwischen Jakutsk und Ochotsk, durch die ich auf meiner Flucht gekommen bin. Was den Weg von der europäischen Grenze nach Jakutsk betrifft, so habe ich davon nur die Erinnerung an die entsetzlichen Anstrengungen behalten, welchen die Gefangenentransporte Tag und Nacht ausgesetzt sind! Welche Leiden!... Ich würde sie meinem ärgsten Feinde nicht wünschen!«

»Herr Sergius, haben Sie jede Hoffnung aufgegeben, in voller Freiheit, mit Bewilligung der Regierung, in Ihr Vaterland zurückzukehren?«

»Dazu müßte der Zar,« erwiderte Herr Sergius, »eine Amnestie proklamieren, die sich auf den Grafen Narkine und alle mit ihm verurteilten Patrioten erstreckte. Werden politische Ereignisse eintreten, welche einen derartigen Beschluß ermöglichen?... Wer weiß, mein lieber Cascabel!«

»Es ist doch traurig, in der Verbannung zu leben!... Man glaubt, aus seinem eigenen Hause gejagt worden zu sein!...«

»Jawohl!... fern von allen, die man liebt!... Und mein Vater, der schon sehr bejahrt ist... und den ich wieder sehen möchte...«

»Sie werden ihn wiedersehen, Herr Sergius! Glauben Sie einem alten Jahrmarktsfahrer, der beim Wahrsagen oft die Zukunft prophezeit hat! Sie werden mit uns in Perm einziehen!... Gehören Sie doch zu der Truppe Cascabel!... Es wird sich sogar bei Gelegenheit als nützlich erweisen, wenn ich Sie einige Taschenspielerstückchen lehre – abgesehen von dem, der moskowitischen Polizei durch die Finger zu schlüpfen!«

Und Cäsar Cascabel konnte nicht umhin, in schallendes Gelächter auszubrechen. Man denke doch! Graf Narkine, ein russischer Aristokrat, der Gewichte hebt, mit Flaschen jongliert, den Clowns repliziert – und damit Einnahmen erzielt!

Gegen drei Uhr nachmittags mußte die Belle-Roulotte Halt machen. Obgleich es noch nicht Nacht war, beschränkte ein dichter Nebel den Gesichtskreis. Jean kehrte um und riet zum Anhalten, da das Fahren unter diesen Umständen äußerst prekär erschien.

Zudem machten sich, wie Herr Sergius vorausgesehen hatte, in diesem von der östlichen Strömung beeinflußten Teile der Meerenge die Unebenheiten des Eisfeldes, die Kanten der Eisschollen unter dem Schnee bemerkbar. Das Fuhrwerk wurde von den heftigsten Stößen erschüttert. Die Pferde stolperten fast bei jedem Schritte. Ein halber Tagemarsch hatte genügt, sie der Ruhe bedürftig zu machen.


Jeder richtete sich für die Nacht ein. (Seite 176.)
Jeder richtete sich für die Nacht ein. (Seite 176.)


[175]

Im ganzen genommen, hatte die kleine Karawane an diesem ersten Tage höchstens zwei Meilen zurückgelegt.

Sowie der Wagen hielt, kamen Cornelia und Napoleone heraus – von Kopf zu Fuß sorgfältig vermummt, um sich vor den Folgen des jähen Überganges aus einer inneren Temperatur von zehn Grad über Null in eine äußere Temperatur von zehn Grad unter Null zu schützen. Was Kayette betrifft, so hatte sie, an die Rauheit des alaskischen Winters gewöhnt, nicht daran gedacht, sich in ihre warmen Pelze zu hüllen.

»Du mußt dich besser verwahren, Kayette!« sagte Jean zu ihr. »Du läufst Gefahr, dich zu erkälten!«

»O!« meinte sie, »ich fürchte die Kälte nicht; man ist im Youkonthale daran gewöhnt!«

»Trotzdem Kayette!«

»Jean hat recht,« mischte Herr Cascabel sich ein. »Geh ein tüchtiges Oberkleid anlegen, mein Vöglein. Und merke dirs, wenn du dich erkältest, so werde ich dich kurieren, und das wird schrecklich sein!... Ich werde nötigenfalls so weit gehen, dir den Kopf abzuschneiden, um dich am Niesen zu hindern!...«

Angesichts einer solchen Drohung blieb dem jungen Mädchen nichts übrig, als zu gehorchen, und das that es denn auch.

Dann beschäftigten sich alle mit den Vorbereitungen für die Nacht. Dieselben waren bald getroffen. Man brauchte kein Holz im Walde zu hacken, da kein Wald vorhanden war, kein Wachtfeuer anzuzünden, da es an Brennmaterial dazu fehlte, nicht einmal Gras für die Tiere zu schneiden. Die Belle-Roulotte war zur Stelle, mit ihrer gewohnten Behaglichkeit, ihren bereitstehenden Ruhelagern, ihrem gedeckten Tische, ihrer permanenten Gastfreundschaft.

Man brauchte nur Vermout und Gladiator mit einer Portion der von Port-Clarence mitgebrachten Fourage zu versehen. Dann hüllte man die beiden Pferde in dicke Decken ein und überließ sie bis zum morgigen Tage der Ruhe. Der Papagei in seinem Käfig, der Affe in seinem Hängekorbe wurden ebenso wenig vergessen wie die beiden Hunde, welche sich an gedörrtem Fleische gütlich thaten.

Endlich, als die Tiere versorgt waren, setzten Herr Sergius und seine Gefährten sich mit gutem Appetit zu Tische.

»Ei, ei!...« rief Herr Cascabel, »es ist vielleicht das erste Mal, daß Franzosen ein so trefflich serviertes Mahl inmitten der Beringstraße einnehmen!«

»Sehr wahrscheinlich,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich rechne darauf, daß wir binnen drei bis vier Tagen wieder einmal auf festem Boden zu Tische gehen werden.«[176]

»In Numana?...« fragte Cornelia.

»Nein, auf der Insel Diomedes, wo wir uns ein, zwei Tage aufhalten werden. Unser Gespann geht so langsam, daß es mindestens einer Woche bedürfen wird, um die asiatische Küste zu erreichen.«

Obgleich es erst fünf Uhr war, als man die Tafel aufhob, weigerte sich niemand, schlafen zu gehen. Eine lange Nachtruhe unter den Decken eines guten Bettes war nicht zu verachten nach dem mühseligen Marsche über Schnee und Eis. Herr Cascabel hielt es nicht einmal für nötig, über die Sicherheit des Lagers zu wachen. In einer solchen Einöde stand kein feindlicher Angriff zu befürchten. Auch würden die Hunde ihres Hüteramtes walten und Lärm schlagen, wenn etwaige Landstreicher – falls es deren gab – sich der Belle-Roulotte näherten.

Indessen erhob Herr Sergius sich zwei- bis dreimal, um den Zustand des Eisfeldes zu ermitteln, welchen ein jäher Temperaturwechsel immerhin verändern konnte: vielleicht war dies seine ernstlichste Sorge. Das Wetter schien sich gleich zu bleiben und eine kleine Brise aus Nordosten wehte über die Eisfläche.

Am folgenden Morgen wurde die Reise unter denselben Umständen fortgesetzt. Sie bot eigentlich keine Schwierigkeiten außer der Ermüdung. Bis zur Ruhestunde legte man drei Meilen zurück und traf dann dieselben Vorkehrungen wie am ersten Abend.

Am nächsten Tage – dem fünfundzwanzigsten Oktober – konnte man erst um neun Uhr morgens aufbrechen und auch da war es noch kaum hell.

Herr Sergius konstatierte, daß die Kälte weniger streng sei. Ein paar verworrene Wolken ballten sich am südöstlichen Horizonte zusammen. Das Thermometer zeigte eine gewisse Tendenz zu steigen, und der Luftdruck begann schwächer zu werden.

»Das gefällt mir nicht, Jean!« sagte Herr Sergius. »Solange wir uns auf dem Eisfelde befinden, dürfen wir nicht klagen, wenn eine noch so strenge Kälte eintritt. Aber leider beginnt das Barometer bei dem umspringenden Winde zu sinken. Was wir am meisten zu befürchten haben, ist ein Steigen der Temperatur. Beobachte wohl den Zustand des Eises, Jean; übersehe keinerlei Wahrzeichen, und kehre unverzüglich um, wenn du eine Veränderung bemerkst!«

»Rechnen Sie auf mich, Herr Sergius!«

Offenbar hätten die von Herrn Sergius befürchteten Veränderungen während des folgenden Monats und bis Mitte April, also im tiefen Winter, nicht eintreten können. Aber der heuer ohnehin verspätete Anbruch des Winters brachte Schwankungen zwischen Kälte und Tauwetter mit sich, die einen teilweisen Bruch des Eisfeldes herbeiführen konnten. Gewiß! es wäre besser gewesen,[177] während dieses Überganges über die Meerenge einer Temperatur von fünfundzwanzig bis dreißig Grad unter Null ausgesetzt zu sein.

Man machte sich im Halbdunkel auf den Weg. Die schwachen, sehr schräg fallenden Sonnenstrahlen vermochten den dichten Nebelschleier nicht zu durchbrechen. Dabei begann der Himmel sich mit langen, niederen Wolkenstreifen zu bedecken, welche der Wind ziemlich schnell gen Norden trieb.

Der voranschreitende Jean beobachtete sorgfältig die Schneedecke, die seit gestern ein wenig aufgeweicht war und unter jedem Schritte des Gespanns nachgab. Nichtsdestoweniger bewältigte man eine Etappe von zwei Meilen und die Nacht verlief ohne Zwischenfall.

Am folgenden Tage – dem siebenundzwanzigsten Oktober – fand der Aufbruch um zehn Uhr statt. Herr Sergius empfand lebhafte Unruhe, als er ein neues Steigen der Temperatur konstatiert hatte – eine wirklich anormale Erscheinung in dieser Jahreszeit und unter dieser Breite.

Da die Kälte weniger empfindlich war, wollten Cornelia, Napoleone und Kayette zu Fuße gehen! Mit Eskimo-Stiefeln versehen, schritten sie ganz munter einher. Alle hatten ihre Augen hinter indianischen Brillen verborgen und gewöhnten sich, durch die darin angebrachten engen Ritze zu sehen. Das machte dem mutwilligen Xander Spaß, der sich, keine Ermüdung scheuend, wie ein Zicklein in Luftsprüngen er ging.

Der Wagen kam durchaus nicht schnell von der Stelle. Die Räder sanken tief in den Schnee ein, was das Ziehen sehr mühsam machte. Wenn die Radfelgen an die Auswüchse und holperigen Kanten der Schollen ankamen, so entstanden Stöße, denen man nicht auszuweichen vermochte. Zuweilen versperrten auch ungeheure, über einander getürmte Blöcke den Weg und nötigten die Reisenden, sie in weitem Bogen zu umgehen. Aber das war bloß eine Verlängerung der Fahrt und man mußte sich glücklich schätzen, auf Unebenheiten statt auf Risse zu stoßen. Wenigstens wurde dadurch die Festigkeit des Eisfeldes nicht verringert.

Unterdessen stieg das Thermometer und sank das Barometer noch immer mit regelmäßiger Langsamkeit. Herr Sergius wurde immer besorgter. Kurz vor Mittag mußten die Frauen sich wieder in den Wagen zurückziehen. Der Schnee begann dicht zu fallen, in kleinen, durchsichtigen Flocken, als wäre er auf dem Punkte, sich in Wasser aufzulösen. Es war, als ob Tausende von Vögeln einen Schauer von leichten, weißen Flaumfedern herabgeschüttelt hätten.

Cäsar Cascabel forderte Herrn Sergius auf, in der Belle-Roulotte Schutz zu suchen; aber dieser weigerte sich. Konnte er nicht ebenso viel ertragen, wie seine Gefährten? Dieser in halbgeschmolzenem Zustande fallende Schnee beunruhigte ihn aufs äußerste; indem er zerfloß, würde er schließlich die Auflösung[178] des Eisfeldes nach sich ziehen. Man mußte sich schleunigst auf den unerschütterlichen Boden der kleinen Insel Diomedes retten.

Und dennoch gebot die Vernunft, nur mit allergrößter Behutsamkeit vorzudringen. Demzufolge schloß Herr Sergius sich Jean hundert Schritte weit vor dem Fuhrwerk an, während Herr Cascabel und Clou bei den häufig stolpernden Pferden blieben. Wenn dem Gefährt ein Unfall zustieß, so würde nichts anderes übrig bleiben, als es mitten auf dem Schneefeld im Stiche zu lassen – ein unersetzlicher Verlust.

Während er neben Jean herschritt, versuchte Herr Sergius, mit seinem Fernrohr bewaffnet, den im Schneegestöber verschwimmenden westlichen Horizont zu erforschen. Der Gesichtskreis war außerordentlich beschränkt. Man konnte die Richtung nur mehr erraten und Herr Sergius würde sicher das Zeichen zum Halten gegeben haben, wäre ihm die Festigkeit des Eisfeldes nicht ernstlich gefährdet erschienen.

»Koste es, was es wolle,« sagte er, »wir müssen die Insel Diomedes noch heute erreichen und dann dort den Eintritt neuer Fröste abwarten!«

»Wie weit glauben Sie, daß wir davon entfernt sind?« fragte Jean.

»Etwa anderthalb Meilen, Jean. Da wir noch zwei Stunden lang Tageslicht oder vielmehr jenes Halbdunkel haben werden, welches uns gestattet, die Richtung einzuhalten, so müssen wir unser möglichstes thun, um vor völliger Dunkelheit dort einzutreffen.«

»Herr Sergius, soll ich vorauseilen, um die Lage der Insel zu ermitteln?...«

»Nein, Jean, nein!« Du würdest Gefahr laufen, dich in diesem Schneegestöber zu verirren, und das wäre eine noch ärgere Verwicklung! Suchen wir uns nach dem Kompaß zu orientieren. Denn wenn wir die Insel Diomedes verfehlen sollten, so weiß ich nicht, was aus uns werden würde...«

»Hören Sie, Herr Sergius?« rief Jean, der sich gebückt hatte.

Herr Sergius folgte seinem Beispiel und vernahm ebenfalls das dumpfe, dem Brechen von Glas ähnliche Krachen, welches über das Eisfeld hinlief. War es der Vorbote eines Eisbruches oder doch einer teilweisen Auflösung? Trotzdem durchschnitt kein Riß die Fläche, soweit man sehen konnte.

Die Lage war äußerst gefährlich geworden. Wenn die Nacht sie unter diesen Umständen überraschte, so liefen die Reisenden Gefahr, irgend einer Katastrophe zum Opfer zu fallen. Die kleine Insel Diomedes war der einzig mögliche Zufluchtsort und man mußte um jeden Preis dort an Land gehen. Wie tief Herr Sergius bedauern mochte, sich nicht noch einige Tage in Port-Clarence geduldet zu haben!

Jean und Sergius kehrten zum Fuhrwerk zurück und Herr Cascabel wurde von der Sachlage unterrichtet. Es war überflüssig, die Frauen mit[179] der etwaigen Gefahr bekannt zu machen. Man würde sie unnütz erschreckt haben. Man beschloß also, sie im Wagen zu belassen, und die Männer stemmten sich an die Räder, um die erschöpften, im Winde schwitzenden Pferde zu unterstützen.

Gegen zwei Uhr ließ der Schneefall merklich nach. Bald fielen nur mehr einzelne Flocken, die der Wind durch die Luft wirbelte. So fiel es leichter, das Gefährt zu lenken. Man trieb die Pferde kräftig an. Herr Sergius war fest entschlossen, nicht eher Halt zu machen, als bis die Belle-Roulotte auf dem Felsen der Insel Diomedes ruhen würde.

Seiner Berechnung gemäß mußte die Insel jetzt kaum mehr eine halbe Meile gen Westen entfernt sein; und vielleicht würde man, wenn das Gespann tüchtig anzog, binnen einer Stunde das Ufer derselben erreichen.

Zum Unglück wurde das bereits unsichere Licht immer schwächer, bis kaum mehr ein matter Widerschein übrig blieb. War man auf dem rechten Wege oder nicht?... Sollte man die eingeschlagene Richtung verfolgen?... Wie konnte man's wissen?

In diesem Augenblick schlugen die Hunde heftig an. Meldeten sie die Nähe einer Gefahr? Hatten sie etwa eine auf dem Übergang begriffene Eskimo- oder Tschuktschenbande aufgespürt? In diesem Falle würde Herr Sergius nicht zögern, die Hilfe dieser Eingeborenen in Anspruch zu nehmen, sich wenigstens von der genauen Lage der kleinen Insel zu unterrichten.

Inzwischen hatte sich eines der Wagenfensterchen geöffnet und man hörte Cornelia fragen, warum Wagram und Marengo so wütend bellten.

Man antwortete ihr, daß man es noch nicht wisse, daß aber kein Grund zu Besorgnis vorhanden sei.

»Sollen wir aussteigen?« fügte sie hinzu.

»Nein, Cornelia!« antwortete Herr Cascabel. »Ihr seid da drinnen am besten geborgen!... Bleibt wo ihr seid!«

»Aber wenn die Hunde irgend ein Tier... zum Beispiel einen Bären... wittern?«

»Nun, dann werden wir es schon erfahren! Halte die Flinten in Bereitschaft! Aber steigt nicht aus!«

»Schließen Sie Ihr Fenster, Frau Cascabel,« sagte Herr Sergius. »Es ist keine Minute zu verlieren.... Wir fahren gleich weiter!«

Das Gespann, das beim ersten Gekläff der Hunde stehen geblieben war, setzte seinen mühseligen Weg fort.

Eine halbe Stunde konnte die Belle-Roulotte etwas schneller vorwärts kommen, da die Oberfläche des Eismeeres weniger holperig war. Die wirklich überarbeiteten Pferde zogen aus allen Kräften, mit gesenktem Kopfe und[180] gespanntem Knie. Man fühlte, daß das eine letzte Anstrengung war und daß sie bald unterliegen würden, wenn die Sache noch länger dauerte.

Es war fast ganz finster. Was noch von Licht durch den Luftraum zitterte, schien eher von der Eisfläche als vom Himmel herzurühren.

Und die beiden Hunde bellten unaufhörlich, indem sie vorausliefen, mit vorgestreckter Schnauze und unbeweglich erhobenem Schweife stehen blieben, und dann wieder zum Gespann zurückkamen.

»Es muß jedenfalls etwas Außerordentliches vor uns sein!« bemerkte Herr Cascabel.

»Die Insel Diomedes!« rief Jean.

Und er wies auf eine Felsenmasse, die einige hundert Schritte vor ihnen undeutlich emporragte.

Und den Beweis, daß Jean sich nicht irrte, lieferten zahllose schwarze Punkte, deren Farbe sich lebhaft von der Eisdecke der Felsen abhob.

»Es muß in der That die Insel sein,« sagte Herr Sergius.

»Ich meine, ich sehe die schwarzen Punkte sich bewegen!« rief Herr Cascabel.

»Sich bewegen?...«

»Jawohl!«

»Ohne Zweifel sind es mehrere Tausend Seehunde, die sich auf die Insel geflüchtet haben...«

»Mehrere Tausend Seehunde?« wiederholte Herr Cascabel.

»Ah! Herr Direktor,« rief Clou-de-Girofle aus, »welch ein Glücksfall, wenn wir uns derselben bemächtigen könnten, um sie auf den Märkten zu zeigen!«

»Und wenn sie Papa sagten!« fügte Xander hinzu.

War das nicht der Herzensschrei eines jungen Gauklers?

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 168-181.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon