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[330] Das Stück, welches den ebenso neuen wie verlockenden Titel: »Die Räuber des Schwarzwaldes« trug, war ein bemerkenswertes Werk. Im Einklange mit den klassischen Regeln der dramatischen Kunst verfaßt, fußte es auf der Einheit der Zeit, der Handlung und des Ortes. Seine Introduktion charakterisierte deutlich die handelnden Personen, seine Verwicklung war geschickt durchgeführt und seine Lösung war, wenn auch vorauszusehen, darum nicht minder effektvoll. Es fehlte nicht einmal die kräftige »Inscenierung«, welche von dem zähesten der modernen Kritiker verlangt wird, und dieselbe ließ nichts zu wünschen übrig.
Des Ferneren hätte man von Cäsar Cascabel keines jener Stücke nach heutigem Geschmack verlangen dürfen, in denen alle Einzelheiten des Privatlebens auf die Bühne gebracht werden, – eines jener Stücke, in welchen, wenn schon nicht das Verbrechen siegt, die Tugend doch jedenfalls nicht hinreichend belohnt wird. Nein! im letzten Auftritt der »Räuber des Schwarzwaldes« wurde die Unschuld formell anerkannt und das Laster in geziemendster Weise bestraft. Die Gendarmen erschienen in dem Augenblick, wo man alles verloren wähnte, und als sie den Verbrecher beim Kragen packten, erzitterte der Cirkus vom Applaus.[330]
Unzweifelhaft wäre dieses Stück in einem einfachen, festen, persönlichen Stil geschrieben worden, voller Achtung vor der Grammatik, frei von den hochtrabenden Neologismen, den dokumentarischen Ausdrücken, den realistischen Wörtern der neuen Schule – wenn man es geschrieben hätte. Aber man hatte es nicht geschrieben. Daher konnte diese Pantomime auch an allen Theatern und auf allen Bühnen der beiden Weltteile aufgeführt werden. Ein ungeheurer Vorzug mimischer Darstellungen, abgesehen von der Leichtigkeit, mit welcher man in diesem Genre von Litteratur grammatikalische und anderweitige Fehler vermeiden kann.
Vorstehend hieß es: Man hätte von Cäsar Cascabel keines jener Stücke nach heutigem Geschmacke verlangen dürfen und so weiter.... Cäsar Cascabel war nämlich der Verfasser dieses Jahrmarktsmeisterwerkes. Meisterwerk ist das rechte Wort dafür, da es auf dem alten und neuen Festlande zusammen dreitausendeinhundertsiebenundsiebzig Vorstellungen erlebt hatte. Mit Ausnahme des im Cirkus Franconi gegebenen Stückes: Der Bär und die Schildwache – welches den größten aller in den Annalen des Dramas bekannten Erfolge errungen –, hat kein Stück diese Zahl überstiegen. Aber selbst dieses olympische Werk ist unstreitig von geringerem litterarischen Werte, als »Die Räuber des Schwarzwaldes.«
Zudem war dieses Stück eigens dazu erdacht worden, um die speciellen Talente der Familie Cascabel hervorzuheben, so bedeutende und mannigfaltige Talente, daß ein solches Künstler-Ensemble noch niemals von dem Direktor einer stationären oder ambulanten Truppe dem Publikum vorgeführt worden war.
Die Meister des heutigen Dramas haben sehr richtigerweise den Grundsatz aufgestellt: »Im Theater muß man die Leute immer zum Lachen oder zum Weinen bringen, sonst gähnen sie.« Nun, wenn hierin die ganze Kunst des Dramaturgen liegt, so verdienten die »Räuber des Schwarzwaldes« hundertmal die Bezeichnung als Meisterwerk. Man lachte dort bis zu Thränen und weinte – ebenfalls bis zu Thränen. Es gab dort keine Scene, nicht einmal den geringsten Teil einer Scene, angesichts deren der gleichgültigste Zuschauer das Bedürfnis empfunden hätte, den Mund zum Gähnen zu öffnen. Und hätte ihn selbst infolge irgend einer Verdauungsschwierigkeit ein Gähnen angewandelt, so wäre dasselbe in einem Schluchzen oder Gelächter erstickt.
Wie jedes gut gezimmerte Stück, war dieses klar, kurz gefaßt, einfach erdacht und einfach durchgeführt. Die Thatsachen folgten einander logisch darin. So sehr, daß man sich fragen konnte, »ob das nicht wirklich geschehen sei!«
Man urteile darüber nach dieser Rezension, welche die meisten Kritiker sich zum Muster nehmen könnten.[331]
Es war die stark dramatisierte Geschichte zweier Liebenden, die einander vergötterten. Zum besseren Verständnis des Lesers erwähnen wir, daß Napoleone das junge Mädchen und Xander den jungen Mann spielte. Unglücklicherweise ist Xander arm, und Napoleonens Mutter, die hochmütige Cornelia, will nichts von dieser Heirat wissen.
Ganz neu ist dabei, daß jener Liebe auch das Vorhandensein eines argen Einfaltspinsels, Clou-de-Girofles, im Wege steht, der ebenso reich an Geld als arm an Geist ist und in Napoleone verliebt, dieselbe heiraten will. Und – vielleicht erreicht das erfinderische Genie des Verfassers hier seinen Höhepunkt – die Mutter, welche auf klingende Münze sieht, verlangt nichts besseres, als Clou ihre Tochter zu geben.
Es wäre wirklich schwer, eine Handlung geschickter einzuleiten und interessanter zu gestalten. Selbstverständlich kann der alberne Clou nicht den Mund öffnen, ohne eine Dummheit zu sagen. Er ist lächerlich in seiner Erscheinung, unbeholfen, mit einer ellenlangen Nase, die er in alles hineinzustecken pflegt. Und wenn er mit seinen Hochzeitsgeschenken angezogen kommt, dem gesichterschneidenden John Bull und dem Papagei Jako – dem einzigen unter den Künstlern, der im Stücke spricht –, so ist es rein, um sich zu wälzen.
Indessen verstummt das Gelächter bald vor dem tiefen Schmerz der beiden jungen Leute, die sich nur insgeheim, sozusagen bei »Nacht und Nebel«, sehen können.
Und nun ist gerade der Tag der Hochzeit angebrochen, zu welcher Cornelia ihre Tochter zwingen will. Napoleone hat ihren schönsten Putz angelegt, aber in Thränen zerfließend, in heller Verzweiflung! Und es ist wirklich abscheulich, wenn man bedenkt, daß dies hübsche Hühnchen einem so widerwärtigen Dorfhahn angehören soll!
All das spielt auf dem Kirchenplatze Die Glocke läutet, die Thüren der Kirche sind geöffnet, man braucht bloß hineinzugehen. Xander kniet auf den Stufen der Vorhalle!... Der Weg wird nur über seine Leiche gehen!... Es ist außerordentlich packend!
Plötzlich – und im ganzen dramatischen Repertoire der Comédie Française und des Ambigu ist vielleicht nie ein ähnlicher Theatercoup vorgekommen – plötzlich erscheint ein junger Militär mit solchem Affekt, daß die Leinwand im Hintergrunde zittert. Es ist Jean, der leibliche Bruder der unglücklichen Braut. Er kehrt aus einem Kriege zurück, wo er die Feinde besiegt hat, – Feinde, welche je nach dem Lande variieren können, wo das Stück aufgeführt wird; in Amerika sind es Engländer, in Deutschland Franzosen, in der Türkei Russen, und so weiter.
Der tapfere und sympathische Jean kommt gerade zur rechten Zeit. Er[332] wird seinem Willen Geltung zu verschaffen wissen. Er hat erfahren, daß Xander Napoleone liebt, und Napoleone Xander. Er stößt Clou mit kräftigem Arme zurück; er provoziert ihn zum Zweikampf; und dieser Tropf bekommt eine solche Angst, daß er sich beeilt, der Heirat zu entsagen.
Man sieht, wie packend das Stück ist, wie die Situationen in einander greifen!... Aber es kommt noch besser.
Denn als man Cornelia holt, welcher Clou ihr Wort zurückgeben will, ereignet sich ein Zwischenfall... Cornelia ist verschwunden!... Man eilt hierhin und dorthin!... Niemand!
Plötzlich dringt Geschrei aus den Tiefen des nahen Waldes. Xander erkennt die Stimme der Frau Cascabel, und obgleich es sich um seine zukünftige Schwiegermutter handelt. zögert er nicht... er fliegt ihr zu Hilfe... Offenbar ist die gebieterische Dame von der Fracassarschen Bande, vielleicht von Fracassar, dem berühmten Hauptmann der Räuber des Schwarzwaldes selber, entführt worden.
In der That ist es so, und während Jean bei seiner Schwester bleibt, um sie nötigenfalls zu beschützen, läutet Clou die Glocke und schreit um Hilfe. Ein Schuß fällt... Das Publikum schnappt nach Luft; man kann sich schwer vorstellen, daß die Aufregung im Theater jemals einen höheren Grad zu erreichen vermöchte.
Da erscheint Herr Cascabel im kalabrischen Kostüm des fürchterlichen Fracassar auf der Bühne, gefolgt von seinen Mitschuldigen, welche Cornelia trotz ihres Widerstandes einherschleppen... Aber der heldenmütige erste Liebhaber kommt an der Spitze einer Brigade bis an den Gürtel gestiefelter Gendarmen zurück... Seine Schwiegermutter wird befreit, die Räuber werden gefaßt, und der verliebte Xander heiratet seine Braut Napoleone.
Zu erwähnen ist noch, daß in Ermangelung hinreichenden Personals die Räuber sowohl als die Gendarmen nicht persönlich auf der Bühne erscheinen. Clou hat ihre verschiedenen Schreie in der Coulisse auszustoßen und macht die Sache täuschend. Was Herrn Cascabel betrifft, so ist er genötigt, sich die Handschellen selber anzulegen. Aber, man kann es nicht oft genug wiederholen, der Effekt dieser Lösung ist dank der so klaren Inscenierung ein außerordentlicher.
So war das aus dem mächtigen Schädel Cäsar Cascabels entsprungene Stück beschaffen, welches im Permer Cirkus aufgeführt werden sollte. Ohne Zweifel würde es dort seinen gewohnten Erfolg erzielen, wenn die Darsteller auf der Höhe ihrer Aufgabe standen.
Gewöhnlich war dies der Fall; Herr Cascabel gab sich sehr grimmig. Cornelia sehr eingebildet auf ihre Geburt und ihr Vermögen, Jean sehr ritterlich, Xander sehr sympathisch, Napoleone sehr rührend. Die Rollen trugen,[333] wie man zu sagen pflegt, die Künstler. Aber man muß gestehen, daß die Familie an jenem Tage nicht eben in begeisterter Stimmung war. Sie war sehr traurig und würde es auf der Bühne zu keinem rechten Schwung bringen. Das Mienenspiel würde ungewiß sein, die Gesten nicht hinreichend deutlich... Vielleicht würden die Thräneneffekte sicherer wirken, da jedermann Lust zu weinen hatte, aber mit den Lacheffekten würde es erbärmlich aussehen!
Und als man sich zum Gabelfrühstück setzte und den Platz des Herrn Sergius leer sah – was wie ein Vorgeschmack der nahen Trennung erschien – ward man noch betrübter... Niemand hatte Hunger, niemand hatte Durst... Es war herzzerreißend!
Nun! damit war der Direktor der Truppe nicht einverstanden. Er hatte für vier gegessen. Und nach beendeter Mahlzeit zögerte er nicht, seiner Unzufriedenheit Worte zu leihen.
»Heda!« rief er; »nimmt das kein Ende?... Ich sehe lauter ellenlange Gesichter!... Von dir angefangen, Cornelia, bis zu dir, Napoleone!... Clou ist wirklich der einzige, der etwas annehmbar aussieht!... Teufel! Das paßt mir nicht, Kinder, ganz und gar nicht!... Ich will, daß man heiter sei, daß man lebhaft spiele, daß man sein Bestes thue, daß die Geschichte gefalle; sonst werde ich verflixt böse werden!«
Und wenn Herr Cascabel diesen ihm eigentümlichen Ausdruck gebrauchte, so wagte niemand, sich den Folgen seines Zornes auszusetzen. Da blieb nichts übrig als zu gehorchen... und so gehorchte man.
Übrigens hatte dieser Mann von so erfindungsreichem Geiste einen ausgezeichneten Einfall gehabt, wie ihm deren unter ernsten Umständen immer welche kamen.
Er hatte beschlossen, sein Stück zu vervollständigen, oder eigentlich, seine Inscenierung zu verstärken – man wird schon sehen, wie.
Wir erwähnten, daß sich bisher, aus Mangel an hinreichenden Mitgliedern, die Räuber und Gendarmen nie dem Publikum gezeigt hatten. Wenngleich er nun das Räuberhandwerk ganz allein zu repräsentieren im stande war, so dachte Herr Cascabel sehr richtig, daß das Stück einen tieferen Eindruck machen würde, wenn die Figuranten bei der Lösung vollzählig wären.
So war er auf den Einfall gekommen, einige Gehilfen für diese Vorstellung zu dingen. Richtig! er hatte ja Ortik und Kirschef bei der Hand. Warum sollten diese beiden wackern Matrosen sich weigern, die Rolle der Räuber zu übernehmen?
Als man sich daher vom Tische erhob, wandte Herr Cascabel sich zu Ortik, erklärte ihm die Sachlage und fragte schließlich:
»Würde es Ihnen passen, sich alle beide als Figuranten an der Vorstellung zu beteiligen?... Das wäre mir ein großer Dienst, meine Freunde!«[334]
»Sehr gern!« antwortete Ortik, »Kirschef und ich wünschen uns nichts besseres!«
Da es in ihrem Interesse lag, mit der Familie Cascabel auf gutem Fuße zu stehen, so ist es begreiflich, daß sie diesen Vorschlag bereitwilligst annahmen.
»Vortrefflich, meine Freunde, vortrefflich!« antwortete Herr Cascabel. »Übrigens werden Sie nur mit mir zu erscheinen haben, wenn ich auftrete, nämlich ganz am Ende!... Sie werden es so machen, wie ich, dasselbe Augenrollen, dieselben Geberden, dasselbe Wutgebrüll!... Sie werden sehen, es geht ganz von selber, und ich garantiere Ihnen einen erstaunlichen Erfolg!...«
Nach einigem Nachdenken fügte er hinzu:
»Aber da fällt mir ein, daß Sie zu zweien doch nur zwei Räuber vorstellen können!... Das ist nicht genug!... Nein!... Fracassar hat eine ganze Bande unter sich und wenn ich Ihnen noch fünf bis sechs andere Biedermänner zugesellen könnte, so würde die Wirkung größer sein!... Könnten Sie mir nicht einige beschäftigungslose Herren in der Stadt auflesen, denen eine gute Flasche Wódka und ein halber Rubel annehmenswert erschiene?«
Ortik wechselte einen Blick mit Kirschef und erwiderte:
»Das wird gehen, Herr Cascabel. Gestern sind wir im Wirtshause mit einem halben Dutzend wackerer Leute bekannt geworden...«
»Bringen Sie sie her, Ortik, bringen Sie sie heute Abend und ich stehe für einen effektvollen Abschluß!«
»Abgemacht, Herr Cascabel.«
»Vortrefflich, meine Freunde!... Welch eine Vorstellung!... Welch eine Attraktion für das Publikum!«
Und als die beiden Matrosen davongegangen waren, wurde Herr Cascabel von einem solchen Lachkrampfe ergriffen, daß sein Gürtel in Stücke flog. Cornelia glaubte, er bekomme einen Ohnmachtsanfall.
»Cäsar, es ist nicht vernünftig, nach dem Frühstück so zu lachen!« sagte sie.
»Ich?... lachen, meine Gute?... Aber ich bin ja gar nicht dazu aufgelegt!... Wenn ich lache, so geschieht es unbewußt!... Im Grunde bin ich sehr traurig!... Bedenke doch, es ist ein Uhr, und der treffliche Herr Sergius ist noch immer nicht zurück!... Und er wird nicht zur Stelle sein, um als Taschenspieler der Truppe zu figurieren!... Welches Pech!«
Während Cornelia hierauf zu ihren Kostümen zurückkehrte, ging Cascabel aus, um einige Gänge zu thun, die ihm, wie er kurz sagte, unerläßlich erschienen.
Die Vorstellung sollte um vier Uhr beginnen – wodurch die Beleuchtung[335] überflüssig wurde, die im Permer Cirkus viel zu wünschen übrig ließ. War doch auch die junge Napoleone frisch genug und ihre Mutter selber hinreichend »wohl konserviert«, um das Tageslicht nicht scheuen zu müssen!
Man kann sich kaum vorstellen, welchen Eindruck das Plakat Cäsar Cascabels in der Stadt gemacht hatte, gar nicht zu reden von der Trommel Clou-de-Girofles, der seine erstaunlichsten Wirbel eine volle Stunde lang in allen Straßen erschallen ließ. Er wäre im stande gewesen, sämtliche Reußen auf einmal aus dem Schlafe zu trommeln!
Die Folge davon war, daß zur festgesetzten Stunde eine große Menge von Zuschauern zu den Eingängen des Cirkus strömte: der Gouverneur von Perm und seine Familie, eine gewisse Anzahl von Beamten, Offiziere der Citadelle, einige bedeutende Kaufleute des Ortes und auch viele jener kleinen Händler, welche zum Jahrmarkt gekommen waren, kurz, ein ungeheurer Andrang seitens des Publikums.
Am Eingange lärmten die Musikanten der Truppe, Xander, Napoleone, Clou, mit Klappenhorn, Posaune und Trommel, sowie Cornelia, die in fleischfarbenem Tricot und rosenrotem Gewande auf der großen Trommel polterte. Das gab ein wunderbares Getöse, ganz dazu angethan, die Ohren der Musiks zu entzücken.
Dazwischen schrie Cäsar Cascabel korrekt und verständlich auf Russisch:
»Herein!... Spazieren Sie herein, meine Herren und Damen!... Der Platz kostet vierzig Kopeken... ohne Unterschied!.. Spazieren Sie herein!«
Und sobald die Herren und Damen auf den Cirkusbänken Platz genommen hatten, verschwand das Orchester, um sich seiner programmmäßigen Rolle bei der Vorstellung zu widmen.
Der erste Abschnitt ging vorzüglich. Die kleine Napoleone auf dem straffen Seil, der junge Xander mit seinen Clown-Verrenkungen, die gelehrten Hunde, der Affe John Bull und der Papagei Jako mit ihren ergötzlichen Kunststücken, Herr und Frau Cascabel mit ihren Kraft- und Geschicklichkeitsproben, sie alle erzielten wahrhaft große Erfolge. Bei dem stürmischen Beifall, welcher diesen Künstlern ersten Ranges so gerechterweise zu teil wurde, ging auch Jean nicht leer aus. Vielleicht, da seine Gedanken bei anderen Dingen weilten, zauderte seine Hand, vielleicht waren seine equilibristischen Talente einen Augenblick beeinträchtigt... Aber das war nur dem Auge des Meisters sichtbar und das Publikum merkte nichts davon, daß der arme Junge nicht ganz bei der Sache sei!
Was die lebendige Pyramide betrifft, die dem Zwischenakte voranging, so wurde ihre Wiederholung einstimmig verlangt.
Im übrigen war Herr Cascabel von verblüffender Verve und guter Laune, indem er seine Künstler dem Publikum vorstellte und wohlverdiente[336] Hurrarufe für dieselben erbat. Nie hatte dieser hervorragende Mann glänzender bewiesen, wie weit eine energische Natur sich zu beherrschen vermag. Die Ehre der Familie Cascabel war gesichert Es war ein Name, den die Moskowiten stets mit Bewunderung und Achtung aussprechen würden.
Aber wenn das Publikum diesem Teile des Programms mit Interesse gefolgt war, mit welcher Ungeduld erwartete es nicht den zweiten! Während des Zwischenaktes sprach man in den Couloirs von nichts anderem.
Nach einer Pause von zehn Minuten, welche den Zuschauern gestattet hatte, sich draußen an der Luft zu erfrischen, kehrte die Menge zurück; kein Platz blieb unbesetzt.
Ortik und Kirschef waren bereits vor einer Stunde von ihrem Rundgange zurückgekehrt und hatten ein halbes Dutzend Gehilfen mitgebracht. Man errät, daß es eben jene früheren Spießgesellen von ihnen waren, die sie im Uralpasse wiedergefunden hatten.
Herr Cascabel musterte seine neuen Figuranten sehr aufmerksam.
»Güte Köpfe!...« rief er. »Gute Gesichter!... Schöner Bau!... Vielleicht von etwas zu anständigem Äußeren, um die Rolle von Räubern zu spielen!... Aber mit Hilfe von struppigen Perücken und schauerlichen Bärten werde ich schon etwas aus ihnen machen!«
Und da Herr Cascabel erst am Schlusse des Stückes auftrat, hatte er die nötige Zeit, um die Rekruten vorzubereiten, zu kostümieren, zu frisieren, mit einem Worte, um präsentable Räuber aus ihnen zu machen.
Dann klopfte Clou-de-Girofle dreimal auf den Fußboden. In einem gut eingerichteten Theater würde bei den letzten Klängen des Orchesters der Vorhang in die Höhe gegangen sein. Wenn es hier nicht so geschah, so war es, weil sich auf Reitbahnen keine Vorhänge zu befinden pflegen, selbst wo sie zu Bühnen dienen.
Man möge aber darum nicht glauben, daß es gänzlich an Dekorationen oder doch einem Anschein von Dekorationen fehlte. Rechts stellte ein Schrank mit darauf gemaltem Kreuze die Kirche vor oder vielmehr die Kapelle, deren Glockenturm vermutlich hinter den Coulissen stand; in der Mitte bildete die Reitbahn einen sehr natürlichen Dorfplatz; zur Rechten gaben einige geschickt gruppierte Stauden in Kübeln eine recht klare Idee vom Schwarzwalde.
Das Stück begann unter tiefem Schweigen. Wie niedlich Napoleone war in ihrem gestreiften, ein wenig verblichenen Kleidchen, den hübschen Hut wie eine Blume auf das blonde Haar gesetzt, mit ihrer so treuherzigen und zärtlichen Miene! Der erste Liebhaber, Xander, in orangefarbenem, an den Nähten verschossenem Wamms, hofierte ihr mit solch leidenschaftlichen Gesten, daß ein Dialog die Sache nicht verständlicher gemacht hätte! Und der Eintritt Clou-de-Girofles mit seiner albernen, strohgelben Perücke, den langen,[337] schlenkernden Beinen, der dummen und arroganten Miene, der bebrillten Nase! Und der Affe, der ihm Gesichter schnitt und der Papagei, dessen Geplapper so geistreich schien! Nichts konnte gelungener sein, als dieser Jahrmarktsnarr!
Nun erscheint Cornelia, eine Frau, die schrecklich sein wird, wenn sie einmal Schwiegermutter geworden ist. Sie bescheidet Xanders Werbung um Napoleone abschlägig; und dennoch fühlt man, daß unter ihren vornehmen, mittelalterlichen Flittern ein Herz pocht.
Große Sensation, als Jean als italienischer Carabinier auftritt. Er ist sehr traurig, sehr niedergeschlagen, der arme Junge! Er scheint eher an alles andere als an seine Rolle zu denken! Er möchte lieber an Xanders Stelle sein und Kayette zur Braut haben, so daß er sie direkt zum Altar führen könnte! Und wie viele verlorene Stunden, wo ihnen noch so wenige des Zusammenseins blieben!
Indessen war die dramatische Situation so packend, daß sie den Schauspieler mit sich fortriß. Es wäre unmöglich gewesen, in einer solchen Rolle kein ungeheures Talent an den Tag zu legen. Man bedenke! Ein Bruder, der in Carabinier-Uniform aus dem Kriege zurückkehrt und die Partei einer Schwester gegen die hochmütigen Befehle einer Mutter und die lächerlichen Ansprüche eines Gecken ergreift!
Prächtig, die Herausforderungsscene zwischen Jean und Clou-de-Girofle! Dieser Dummkopf zittert vor Furcht, daß er mit den Zähnen klappert, daß sein Blick unstet und seine Nase übermäßig lang wird, – so lang, als hätte ihm ein Degen den Kopf durchbohrt und stäke ihm beim Gesicht heraus.
Da ertönt diesmal vielstimmiges Geschrei hinter den Coulissen. Der junge Xander, von seinem Mute hingerissen, vielleicht mit der Absicht, den Tod zu suchen, da ihm das Leben zur Last ist, stürzt sich in die Tiefen des in Kübeln steckenden Waldes. Man hört einen sehr heftigen Kampf hinter der Scene, einen Schuß...
Im nächsten Augenblick tritt Fracassar, der Räuberhauptmann, auf. Er ist schrecklich anzusehen mit seinem verblichenen rosa Tricot und seinem rotgewordenen schwarzen Barte. Die ganze Bande von Bösewichtern begleitet ihn gestikulierend. Unter den Räubern figurieren Ortik und Kirschef, unkenntlich in ihren Perücken und Kostümen. Die in ihrer Ehre bedrohte Cornelia wird von dem fürchterlichen Hauptmann gepackt. Xander eilt, sie zu verteidigen und es scheint fast, als ob die gewöhnliche Lösung des Stückes an jenem Tag kompromittiert werden sollte, denn die Situation ist nicht mehr dieselbe.
In der That, als Herr Cascabel allein die ganze Räuberbande des Schwarzwaldes zu repräsentieren hatte, fiel es Jean, Xander, ihrer Mutter,[338] ihrer Schwester, samt Clou-de-Girofle nicht schwer, ihn bis zur Ankunft der fern hinter den Coulissen signalisierten Gendarmen in Respekt zu halten. Aber diesmal kommt der Räuberhauptmann Fracassar an der Spitze von acht Übelthälern in Fleisch und Bein, sichtbar, greifbar, mit denen man kein so leichtes Spiel haben wird... Man hatte also allen Grund, sich zu fragen, wie das enden werde, ohne daß die Wahrscheinlichkeit zu stark darunter litte....[339]
Plötzlich stürzt ein Trupp Kosaken auf die Bühne. Eine höchst unerwartete Wendung...
Herr Cascabel hat wirklich nichts versäumt, um dieser Vorstellung außerordentlichen Glanz zu verleihen; seine Figuranten sind vollzählig. Gendarmen oder Kosaken, das ist alles eins! Im Nu sind Ortik, Kirschef und ihre sechs Gefährten zu Boden geworfen, gebunden und das um so leichter, als ihre Rolle sie verpflichtet, sich überwältigen zu lassen...
Aber plötzlich ertönt ein Ruf:
»Ah! nicht mich, wenn's gefällig ist, brave Kosaken!... Die dort so viel ihr wollt!... Ich... ich bin nur als Lacher beteiligt!«
Und wer spricht also?... Es ist Fracassar, oder eigentlich Herr Cascabel, der sich mit freien Armen erhoben hat, während die regelrecht gefesselten Figuranten sich in den Händen der Polizei befinden.
Das war Cäsar Cascabels großartiger Einfall gewesen! Nachdem er Ortik und seine Mitschuldigen gebeten, die Rolle der Räuber zu übernehmen, hatte er sich mit den Behörden von Perm in Verbindung gesetzt und sie davon verständigt, daß sie einen prächtigen Fang machen könnten. Das erklärt das rechtzeitige Erscheinen des Kosakentrupps am Schlusse des Stückes.
Ah! dieser prächtige Streich war gelungen, in hohem Grade gelungen! Ortik und die übrigen waren allen Ernstes von den Agenten der Behörde erwischt worden.
Aber Ortik hat sich aufgerichtet und ruft, auf Herrn Cascabel deutend, dem Anführer der Kosaken zu:
»Ich denunziere diesen Mann!... Er hat einem politischen Sträfling zur Rückkehr nach Rußland geholfen!... Ah, du hast mich ausgeliefert, verfluchter Gaukler; nun liefere ich dich meinerseits aus!«
»Nur zu, mein Freund,« antwortete Herr Cascabel ruhig, indem er mit den Augen blinzelte.
»Und der Sträfling, der aus der Festung Jakutsk Entflohene, den er hergebracht hat, ist der Graf Narkine!«
»So ist es, Ortik!«
Cornelia, ihre Kinder und die herbeigeeilte Kayette standen wie vom Donner gerührt!...
Da erhebt sich einer der Zuschauer... Es ist Graf Narkine.
»Dort ist er!« schreit Ortik.
»Jawohl! Graf Narkine!« antwortet Herr Sergius.
»Aber der amnestierte Graf Narkine!« ruft Herr Cascabel und bricht in schallendes Gelächter aus.
Welch eine Wirkung auf das Publikum! All diese der Dichtung des Stückes beigemischte Wirklichkeit war von der Art, die ruhigsten Geister zu[340] erregen! Es ist nicht einmal gewiß, ob ein Teil der Zuschauer nicht die Überzeugung mit sich forttrug, daß die Räuber des Schwarzwaldes nie eine andere Lösung gehabt!
Seit die Familie Cascabel den Grafen Narkine an der alaskischen Grenze aufgenommen, waren dreizehn Monate vergangen, während deren er keinerlei Nachrichten aus Rußland erhalten hatte. Dieselben hätten ihm weder[341] bei den Indianern am Youkon, noch bei den Eingeborenen der Liakhossinseln zugestellt werden können. So ahnte er denn nicht, daß bereits vor sechs Monaten ein vom Zar Alexander II. erlassener Ukas jene politischen Sträflinge amnestiert hatte, welche sich in der Situation des Grafen Narkine befanden. Der Fürst, sein Vater, hatte ihm nach Amerika geschrieben, daß er nach Rußland zurückkehren könne, wo er seiner ungeduldig harre. Da er aber bereits abgereist gewesen, hatte der Graf nichts von diesem Briefe erfahren, und so war letzterer in Ermanglung eines Adressaten nach Schloß Walska zurückbefördert worden. Man begreift, welche Angst Fürst Narkine empfand, als er keine Nachricht mehr von seinem Sohne erhielt. Er wähnte ihn verloren... in der Verbannung gestorben. Seine Gesundheit litt darunter und war schon ernstlich gefährdet, als Herr Sergius im Schlosse eintraf. Welch eine Freude für den Fürsten Narkine, der fast daran verzweifelte, ihn jemals wiederzusehen!... Graf Narkine war frei!... Er hatte nichts mehr von der moskowitischen Polizei zu befürchten!... Und da er seinen Vater in seinem geschwächten Zustande nicht gleich nach dem Wiedersehen von neuem verlassen wollte, hatte er Herrn Cascabel jenen Brief gesandt, der ihm alles sagte und überdies sein Erscheinen im Permer Cirkus gegen Ende der Vorstellung versprach.
Da war Herrn Cascabel der bewußte triumphale Einfall gekommen und er hatte seine Maßregeln ergriffen, um Ortiks Bande am Schlusse des Stückes auszuliefern.
Als das Publikum von dem wahren Sachverhalt unterrichtet worden, brach es in stürmischen Jubel aus. Von allen Seiten erschollen Hurrarufe, während die Kosaken Ortik und seine Mitschuldigen abführten, die, nachdem sie so lange die Rolle von Räubern faktisch gespielt hatten, endlich – ebenfalls faktisch – für ihre Verbrechen büßen sollten.
Herr Sergius wurde sofort von dem Vorgefallenen unterrichtet, wie Kayette den gegen ihn und die Familie Cascabel ersonnenen Anschlag entdeckt hatte, wie sie den beiden russischen Matrosen in der Nacht vom sechsten Juli mit Gefährdung ihres Lebens heimlich gefolgt war, wie sie Herrn Cascabel alles erzählt und wie dieser endlich weder dem Grafen Narkine noch seiner Frau etwas davon sagen gewollt...
»Ein Geheimnis vor mir, Cäsar, ein Geheimnis!« sagte Frau Cascabel in vorwurfsvollem Tone.
»Das erste und das letzte, liebe Frau!«
Cornelia hatte ihrem Manne bereits verziehen und brach unwillkürlich in die Worte aus:
»Ah, Herr Sergius, ich muß Sie küssen!«
Dann sagte sie ganz verwirrt:
»Entschuldigen Sie, Herr Graf...«[342]
»Nein... Herr Sergius für euch, meine Freunde... stets Herr Sergius!... Und auch für dich, meine Tochter!« fügte er hinzu, indem er Kayette in seine Arme schloß.
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