IV. Vierzehn Tage.

[206] Es war auf Grund der von ihm angestellten Berechnungen, daß Herr Sergius sich auf der Höhe jener Inselgruppe zu befinden glaubte. Bei seinen täglichen Beobachtungen hatte er dem Treiben der Eistafel Rechnung getragen, dessen durchschnittliche Geschwindigkeit er auf cirka fünfzehn Meilen per vierundzwanzig Stunden schätzte.[206]

Jene für ihn nicht sichtbare Inselgruppe liegt laut den Seekarten unter dem einhundertfünfzigsten Länge- und dem fünfundsiebzigsten Breitegrade etwa hundert Meilen vom Festlande entfernt.

Herr Sergius täuschte sich nicht. Am sechzehnten November befand die Eistafel sich im Süden von den Anjou-Inseln. Aber in welcher Entfernung? Selbst mit Zuhilfenahme der Instrumente, deren die Seefahrer sich zu bedienen pflegen, hätte man das höchstens annähernd zu bestimmen vermocht. Im Anschluß an die Sonne, deren Scheibe bloß wenige Minuten lang durch die Nebel des Horizonts sichtbar wurde, hätte die Beobachtung zu keinem Ergebnis geführt Man war jetzt von der langen Nacht der Polarregion umgeben.

Das Wetter war abscheulich, wenn auch zu strengerer Kälte neigend. Die Thermometersäule schwankte ein wenig unter Null. Aber diese Temperatur war noch nicht niedrig genug, um das Aneinanderfrieren der über die Meeresfläche verstreuten Eisberge zu bewirken; folglich wurde die schwimmende Eistafel durch kein Hindernis aufgehalten.

Indessen bildeten sich in den Ufereinschnitten bereits jene vereinzelten Eisstöße, welchen die in der Polarregion Überwinternden den Namen »Bayices« beilegen, falls sie ihren Ursprung in engen Buchten nehmen. Im Vereine mit Jean beobachtete Herr Sergius unermüdlich diese Formationen, die sich bald über die ganze Oberfläche des Meeres ausbreiten sollten. Dann würde die Eisperiode völlig eingetreten sein und die Lage der Schiffbrüchigen sich bessern – wenigstens hofften sie es.

Während der letzten vierzehn Tage des November fiel der Schnee unaufhörlich und in außerordentlicher Menge.

Von den Stürmen getrieben, lagerte er sich in dichten Massen gegen den um die Belle-Roulotte aufgeführten Wall und hatte denselben bald beträchtlich erhöht.

Übrigens bildeten diese Anhäufungen keinerlei Gefahr und boten der Familie Cascabel sogar noch besseren Schutz gegen die Kälte. Cornelia konnte in der That mit dem Petroleum sparen, es gänzlich für die Erfordernisse der Küche aufheben. Das war gewiß ernster Beachtung wert; wie sollte man diese Mineralflüssigkeit ersetzen, wenn sie aufgebraucht sein würde?

Übrigens blieb die Temperatur glücklicherweise im Innern der Abteilungen erträglich – drei bis vier Grad über Null. Sie stieg sogar, als die Belle-Roulotte von Schneemassen eingehüllt wurde. Unter diesen Umständen war es nicht die Wärme, welche ihren Bewohnern abzugehen drohte, sondern vielmehr die Luft, der bald jeder Eingang verwehrt sein würde.

Da mußte man sich denn ans Schneeschaufeln begeben, und alle, beteiligten sich an dieser ermüdenden Arbeit.[207]

Herr Sergius begann damit, daß er den auf der Innenseite des Walles belassenen Gang freimachen ließ. Dann wurde ein Weg gebahnt, um den Ausgang ins Freie zu sichern. Man trug Sorge, die Achse desselben gen Westen zu richten. Denn ohne diese Vorsicht würde er von dem östlichen Schneetreiben verweht worden sein.

Trotzdem aber war nicht alle Gefahr beseitigt, wie man bald sehen wird.

Selbstverständlich verließen die Schiffbrüchigen die Belle-Roulotte weder bei Nacht noch bei Tage. Sie bot ihnen ein sicheres Obdach gegen die Winterstürme und gegen die Kälte, die sich, wie das langsame und stetige Sinken des Thermometers bewies, immer strenger anließ.

Nichtsdestoweniger stellten Herr Sergius und Jean nach wie vor ihre täglichen Beobachtungen in dem Augenblicke an wo ein undeutlicher Schein jenen Horizont färbte, hinter welchem die Sonne bis zur Sonnenwende am einundzwanzigsten Dezember immer tiefer hinabgehen würde. Und immer wieder jene getäuschte Hoffnung, irgend einen Walfischfahrer zu erspähen, der in diesen Strichen überwinterte, oder einem Hafen in der Beringstraße zustrebte! Immer wieder jene getäuschte Hoffnung, die Eistafel endgültig an irgend ein Eisfeld stoßen zu sehen, das mit der sibirischen Küste in Verbindung stände! Dann kehrten sie beide ins Lager zurück und suchten auf der Karte die vermutliche Richtung ihrer Fahrt in Evidenz zu halten.

Wie bereits erwähnt, hatte die Jagd seit dem Aufbruche von Port-Clarence aufgehört, die Küche der Belle-Roulotte mit frischem Wildbret zu versorgen. Was hätte Cornelia mit jenen Schneevögeln anfangen sollen, deren öliger Beigeschmack so schwer zu beheben ist? Ihrer kulinarischen Begabung zum Trotze würden die Gäste Schneehühnern und Sturmvögeln keinen guten Empfang bereitet haben. Jean hütete sich denn auch, sein Pulver und Blei an jenes Geflügel von allzu arktischer Herkunft zu vergeuden. Indessen unterließ er es nie, seine Flinte mitzunehmen, wenn sein Dienst ihn ins Freie rief; und eines Tages, am Nachmittag des sechsundzwanzigsten November, hatte er Gelegenheit, sich derselben zu bedienen. Der Schall eines Schusses drang in das Lager und gleich darauf ertönte Jeans Ruf um Hilfe.

Das erregte natürlich ein gewisses, mit Besorgnis vermischtes Staunen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Xander und Clou stürmten, von den beiden Hunden gefolgt, hinaus.

»Herbei!... Herbei!...« schrie Jean.

Dabei lief er hin und her, als wolle er irgend einem Tier den Rückzug abschneiden.

»Was giebt's?« rief Herr Cascabel.

»Ich habe einen Seehund verwundet und er wird uns entkommen, wenn wir ihn das Meer erreichen lassen!«[208]

Es war wirklich ein Tier von großem Umfang, das, in die Brust getroffen, den Schnee mit seinem Blute rötete und das ohne Zweifel entkommen sein würde, wären Herr Sergius und seine Gefährten nicht rechtzeitig herbeigeeilt. Clou stürzte sich tapfer auf das Tier, welches den jungen Xander gleich zu Anfang mit einem Schlage seines Schwanzes umgeworfen hatte. Der Seehund wurde, nicht ohne Mühe, überwältigt, und Jean tötete ihn, indem er ihm den Lauf seiner Flinte an den Kopf setzte, durch einen zweiten Schuß.

Das war nun zwar auch kein leckerer Bissen für Cornelias Stammgäste, aber es war doch ein bedeutender Reservevorrat an Fleisch für Wagram und Marengo. Hätten die beiden Hunde die Gabe der Rede besessen, sie würden Jean für diesen willkommenen Zuschuß gedankt haben.

»Warum reden die Tiere eigentlich nicht?« fragte Herr Cascabel aus diesem Anlasse, als alle um den Mittagstisch versammelt waren.

»Aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie nicht intelligent genug dazu sind,« antwortete Herr Sergius.

»Also glauben Sie,« fragte Jean, »daß der Mangel der Sprache einem Mangel an Intelligenz zuzuschreiben ist?«

»Allerdings, mein lieber Jean, wenigstens bei den höheren Tierarten. So besitzt zum Beispiel der Hund einen Kehlkopf, der mit dem des Menschen identisch ist. Er könnte also sprechen, und wenn er es nicht thut, so ist es, weil seine Intelligenz nicht hinreichend entwickelt ist, um seine Eindrücke in Worte zu kleiden.«

Eine zum mindesten diskutierbare These, die Herr Sergius da aufstellte! – die aber von einigen modernen Physiologen zugestanden wird.

Es ist erwähnenswert, daß sich allmählich eine günstige Wandlung im Geiste des Herrn Cascabel vollzog. Wenn er sich auch noch immer die Schuld an der Situation beimaß, so gewann seine Philosophie doch wieder die Oberhand. Gewöhnt, sich aus den ärgsten Verlegenheiten zu ziehen, konnte er nicht recht daran glauben, daß sein guter Stern erloschen sein sollte.... Nein! höchstens ein wenig umwölkt. Überdies war die Familie Cascabel bisher nicht stark von physischen Prüfungen heimgesucht worden. Allerdings aber konnte, wenn die Gefahren, wie zu erwarten stand, dringender wurden, ihre moralische Stimmung darunter leiden.

Herr Sergius war denn auch im Hinblick auf die Zukunft unablässig bestrebt. den kleinen Kreis bei gutem Mute zu erhalten. Während der langen Mußestunden saß er beim Lampenschein am Tische, plauderte, lehrte, erzählte die verschiedenen Einzelheiten seiner Reisen in Europa und Amerika. Neben einander sitzend, hörten Jean und Kayette ihm zu und zogen vielfachen Vorteil aus seinen belehrenden Antworten auf ihre Fragen. Zum[209] Schlusse entlehnte er seiner Erfahrenheit dann die Berechtigung zu tröstlichen Aussprüchen.

»Sehen Sie, meine Freunde,« sagte er eines Tages, »es ist kein Grund zum Verzweifeln da. Der Eisblock, der uns trägt, ist solid; und nun die Kälte regelrecht eingetreten ist, wird er nicht mehr zerbrechen. Beachten Sie überdies, daß er die Richtung einhält, in welcher wir reisen wollten, und daß wir ohne Ermüdung, wie auf einem Schiffe, fortkommen. Ein wenig Geduld und wir fahren in einen sicheren Hafen ein.«

»Wer von uns verzweifelt denn, wenn ich bitten darf?« antwortete Herr Cascabel. »Wer nimmt sich denn die Freiheit, zu verzweifeln, Herr Sergius? Wer ohne meine Erlaubnis verzweifelt, der wird auf trockenes Brot gesetzt.«

»Es ist kein Brot da!« warf der schelmische Xander ein.

»Nun, dann auf trockenen Zwieback, abgesehen davon, daß ihm das Ausgehen untersagt wird!«

»Man kann ohnehin nicht hinaus!« bemerkte Clou-de-Girofle.

»Still!... Ich habe gesprochen!«

Während der letzten Novemberwoche hatte der Schneefall fabelhafte Dimensionen angenommen. Die Menge der Flocken war so ungeheuer, daß man keinen Schritt weit vor die Thür gehen konnte – was eine ernste Katastrophe herbeiführte.

Als er am dreißigsten November zu sehr früher Stunde erwachte, gewahrte Clou mit Erstaunen, daß er nur sehr mühsam zu atmen vermöge, als wäre die Luft ungeeignet für seine Lungenthätigkeit.

Die übrigen lagen noch in ihren Abteilungen in so schwerem und peinlichem Schlafe, als ob sie dem Ersticken nahe wären.

Clou wollte die äußere Thür öffnen, um frische Luft einzulassen... Es gelang ihm nicht.

»Holla! Herr Direktor!« schrie er mit so lauter Stimme, daß er die ganze Einwohnerschaft der Belle-Roulotte weckte.

Herr Sergius, Herr Cascabel und dessen beide Söhne fuhren empor und Jean rief:

»Man erstickt hier!... Wir müssen die Thür öffnen!«

»Ich habe es vergebens versucht...« antwortete Clou.

»Nun, dann die Fensterläden?...«

Aber da diese Läden nach außen zu öffnen waren, leisteten sie ebenfalls Widerstand.

In wenigen Minuten hatte man die Thür ausgehängt, und nun begriff man, warum man sie nicht zu öffnen vermochte.

Der um die Belle-Roulotte ausgeschaufelt gewesene Gang war mit vom[210]

Winde hineingewehten Schneemassen angefüllt; desgleichen der Gang. welcher über den Eiswall hinüber ins Freie geführt hatte.

»Sollte der Wind sich gedreht haben?« fragte Herr Cascabel.

»Das ist nicht wahrscheinlich,« antwortete Herr Sergius. »Es würde nicht soviel Schnee gefallen sein, wenn der Wind aus Westen wehte.«

»Dann muß die Eisscholle sich gedreht haben,« bemerkte Jean.


Man grub einen zweiten Gang aus. (Seite 212.)
Man grub einen zweiten Gang aus. (Seite 212.)

»Ja... so wird es sein,« erwiderte Herr Sergius. »Aber denken wir vor allem an das dringendste... Es handelt sich darum, nicht aus Mangel an atembarer Luft zu ersticken.«

Sofort gingen Jean und Clou, mit einer Hacke und einer Schaufel bewaffnet, daran, den Gang frei zu machen. In der That eine schwere Arbeit, denn der hart[211] gefrorene Schnee füllte ihn gänzlich aus und mochte sogar die Belle-Roulotte bedecken.

Um schnell zu arbeiten, mußte man sich ablösen. Da man den Schnee nicht nach außen befördern konnte, war es notwendig, ihn in die erste Abteilung des Wagens zu schaufeln, von wo er, unter der Einwirkung der Temperatur in Innern fast augenblicklich zerschmelzend, nach außen abfloß.

Nach Verlauf einer Stunde hatte die Hacke die kompakte Masse im Gange noch nicht durchbrochen. Es war unmöglich, hinaus zu gelangen, unmöglich, das Innere des Wagens zu lüften, und das Atmen wurde dort immer schwerer durch den Mangel an Oxygen und das Übermaß von Kohlensäure.

Vergeblich rangen alle keuchend nach einem Hauche reiner Luft in dieser unerträglichen Atmosphäre. Kayette und Napoleone fühlten sich dem Erstickungstode nahe. Frau Cascabel schwebte sichtlich in der größten Gefahr. Kayette überwand ihr Mißbehagen und versuchte, ihr Erleichterung zu verschaffen. Aber das einzig Wirksame wäre gewesen, eines der Fenster zu öffnen, um frische Luft einzulassen, und das machte der draußen aufgeschichtete Schnee unmöglich.

»Mut!... Mut!« wiederholte Herr Sergius. »Wir sind schon sechs Fuß weit durch die Masse gedrungen... die Schicht kann jetzt nicht mehr sehr dick sein!«

Nein, sie konnte es nicht sein, wenn der Schneefall aufgehört hatte... Aber vielleicht dauerte er auch jetzt noch fort!

Da kam Jean auf den Gedanken, in die oberhalb des Ganges befindliche, vielleicht nicht mehr dicke und wahrscheinlich weniger harte Schneedecke ein schachtähnliches Loch zu hauen.

In der That ging diese Arbeit leichter von statten und eine Viertelstunde später – es war die höchste Zeit! – drang durch die hergestellte Öffnung frische Luft ein.

Die Inwohner der Belle-Roulotte fühlten sich augenblicklich erleichtert.

»Ah! wie gut!« rief die kleine Napoleone, tief aufatmend.

»Ja!« antwortete Xander, der seine trockenen Lippen mit der Zunge befeuchtete. »Es ist noch besser als Konfekt!«

Es vergingen mehrere Minuten, bevor Cornelia, die bereits einer Ohnmacht nahe gewesen, sich einigermaßen zu erholen vermochte.

Dann erweiterte man die Öffnung und die Männer kletterten an die[212] Oberfläche hinaus. Es schneite nicht mehr, aber alles war weiß bis an die äußersten Grenzen des Gesichtskreises. Die Belle-Roulotte war ganz und gar unter ihrer Schneehülle verschwunden, die einen ungeheuren Höcker im Centrum des schwimmenden Eisblockes bildete.

Mit Hilfe des Kompasses konstatierte Herr Sergius, daß der Wind noch immer aus Westen blies, daß aber die Eisscholle sich gedreht hatte, – wodurch die weniger geschützte Seite der Belle-Roulotte dem Schneetreiben ausgesetzt worden und die Verwehung des Ganges herbeigeführt worden war.

Das Thermometer zeigte im Freien nur sechs Grad unter Null und das Meer war nicht zugefroren, soweit man das inmitten der fast völligen Dunkelheit beurteilen konnte. Übrigens ist zu erwähnen, daß die Eisscholle sich zwar, wahrscheinlich unter dem Drucke irgend einer Gegenströmung, halb gedreht hatte, aber darum doch in unverändert westlicher Richtung weiter trieb.

Da dieser Zufall sich wiederholen und solch bedenkliche Folgen nach sich ziehen konnte, glaubte Herr Sergius, eine neue Vorsichtsmaßregel ergreifen zu sollen. Auf seinen Rat wurde auf der dem Gange entgegengesetzten Seite ein zweiter Gang durch den Eiswall gegraben. Wie sich also auch die Lage der Eisscholle gestalten mochte, die Verbindung mit dem freien Raume blieb gewahrt und man hatte keinen Luftmangel mehr zu befürchten.

»Es ist denn doch ein vermaledeites Land,« sagte Herr Cascabel, »ein ganz vermaledeites Land... höchstens gut für Seehunde, und mit einem Klima, das sich nicht mit dem der Normandie vergleichen kann!«

»Das gebe ich gern zu,« antwortete Herr Sergius. »Aber was wollen Sie; man muß es eben nehmen wie es ist.«

»Ich nehme es gar nicht, Herr Sergius... nicht einmal geschenkt!«

Nein, wackerer Cascabel, es ist nicht einmal das Schwedens, Norwegens, Finnlands während ihrer Wintersaison. Es ist das Klima des Pols, mit seiner vier Monate währenden Nacht, seinen wütenden Stürmen, seinen endlosen Schneefällen und dichten, alle Umrisse tilgenden Nebelschleiern.

Und wie beängstigend die Zukunft aussah! Welchen Entschluß sollte man fassen, wenn nun das Treiben ein Ende erreichte, die Eistafel festlag und das Meer ein einziges ungeheures Eisfeld bildete? Sollte man die Belle-Roulotte verlassen und die Strecke von mehreren Hundert Meilen bis an die sibirische Küste ohne sie zurücklegen? Der Gedanke war wahrhaft schrecklich! Herr Sergius fragte sich, ob es nicht ratsam sein würde, an dem Orte, wo der schwimmende Block stehen blieb, zu überwintern, um wenigstens bis zur Rückkehr der milden Jahreszeit den Schutz jenes rollenden Hauses zu genießen, das zweifelsohne nie mehr rollen würde. Ja! im schlimmsten Falle würde es nicht unmöglich sein, die Zeit der großen Kälte auf solche Weise zu verbringen! Aber ehe die Temperatur wieder stiege, ehe das Eisfeld in Trümmer[213] ging, würde man das Winterquartier räumen und die tauende Eisdecke überschreiten müssen.

Übrigens waren die Schiffbrüchigen noch nicht so weit und man würde gegen Ende des Winters hinlänglich Zeit haben, sich darüber zu beraten. Man würde mit der Entfernung rechnen müssen, in der man sich vom asiatischen Festlande befand, – wenn es nämlich gelang, diese Entfernung zu schätzen. Herr Sergius hoffte, daß sie nicht sehr bedeutend sein werde, da die Eisscholle eine unverändert westliche Richtung eingehalten hatte, nachdem sie die Kaps Kekurnii, Scheliagskoi und Baranoff, die Long-Straße und den Golf von Kolyma hinter sich gelassen.

Warum hatten sie nicht am Eingange dieses Meerbusens Halt gemacht! Von dort aus wäre es noch immerhin leicht gewesen, die Provinz der Jukaghiren zu erreichen, in welcher Kabatschkowa, Nischni-Kolymsk und andere Marktflecken die Schiffbrüchigen gastlich aufgenommen haben würden. Man hätte mit einem Renntiergespann zurückkehren und die Belle-Roulotte aufs Festland herüberbringen können. Aber angesichts der starken Strömung begriff Herr Sergius wohl, daß man längst an dieser Bucht, sowie auch an den Mündungen der Tschukotschia und Alazeja vorübergekommen sein müsse. Die Karte wies kein anderes Hindernis mehr auf, als jene Inselgruppen, welche unter den Namen Anjou-Inseln, Liakhoff-Inseln und Long-Inseln bekannt sind. Und wie sollte man auf diesen zumeist unbewohnten Inseln Mittel zur Überführung des Personals und des Materials finden? Aber schließlich würde es doch besser sein, als sich in die äußersten Striche der Polarregion zu verirren!

Der November war zu Ende. Neununddreißig Tage waren vergangen, seit die Familie Cascabel von Port-Clarence aufgebrochen, um sich über die Beringstraße zu wagen. Wäre der Eisbruch nicht dazwischen gekommen, so würde sie schon vor fünf Wochen in Numana gelandet sein und jetzt in irgend einem Marktflecken Südsibiriens ein sicheres Obdach gegen den arktischen Winter gefunden haben.

Indessen konnte das Treiben nicht mehr lange dauern. Die Kälte wurde allmählich strenger und das Thermometer sank ohne Schwankungen. Eine von Herrn Sergius vorgenommene Besichtigung der Eisinsel ergab, daß sie täglich infolge des Anfrierens von Schollen, durch die sie sich einen Weg bahnte, an Umfang zunahm. Ihre Oberfläche hatte sich um ein Dritteil vergrößert und in der Nacht vom dreißigsten November auf den ersten Dezember fror sogar ein ungeheurer Eisblock an sie an. Der Block hatte einen ziemlich bedeutenden Tiefgang und die Strömung verlieh ihm eine so große Geschwindigkeit, daß die Eistafel eine halbe Wendung machen mußte und wie im Schlepptau hinter ihm herschwamm.

Seit dem Eintritt strengerer und trockenerer Kälte war der Himmel vollkommen klar geworden.


Es erregte ihre höchste Verwunderung. (Seite 216.)
Es erregte ihre höchste Verwunderung. (Seite 216.)

Der Wind blies jetzt aus Nordosten – ein günstiger Umstand, da er auf die sibirische Küste zu wehte. Die funkelnden Sterne des nördlichen Himmels erhellten die langen Polarnächte und häufig überflutete das[214] Nordlicht mit seinem fächerförmigen Strahlenschimmer den Raum. Der Blick flog bis an den äußersten Horizont, der von den ersten Staffeln der Eisbarriere gesäumt war. Von dem helleren Hintergrunde hob sich jene ewige[215] Eiskette mit ihren Zacken und Kuppeln, ihren Wäldern von Spitzen und Rissen lebhaft ab. Es war ein herrlicher Anblick und die Schiffbrüchigen vergaßen auf Augenblicke ihre kritische Lage, um jene dem hohen Norden eigene Naturerscheinung anzustaunen.

Seit der Wind sich gedreht hatte und das Eis nur der Strömung gehorchte, trieb es langsamer vorwärts. Es war also wahrscheinlich, daß die Eistafel nicht mehr viel weiter nach Westen getragen werden würde, denn das Meer war stellenweise mit Eisbergen besäet. Allerdings gab dieses »youngice«, wie die Walfischfänger es nennen, zur Zeit noch dem geringsten Stoße nach. Und wenn die Eistafel auch in den von den verstreut schwimmenden Blöcken freigelassenen, engen Kanälen manchmal an bedeutende Massen anstieß, so setzte sie nach mehrstündiger Unbeweglichkeit doch wieder ihren Weg fort. Indessen war ein sehr naher Stillstand vorauszusehen, der dann den ganzen Winter dauern würde.

Am dritten Dezember hatten Herr Sergius und Jean sich gegen Mittag an den vorderen Rand der Eistafel begeben. Durch große Pelze gegen die empfindliche Kälte verwahrt, hatten Kayette, Napoleone und Xander sie begleitet. Im Süden deutete ein kaum merklicher Schimmer an, daß die Sonne den Meridian durchschnitt. Die ungewisse Helle, die durch den Raum flutete, rührte ohne Zweifel von einem fernen Nordlicht her.

Da lenkten die Bewegungen der Eisberge, ihre bizarren Formen, ihr Aneinanderprallen und auch das Umschlagen einiger Blöcke, die durch das vom Meerwasser bewirkte Abbröckeln ihrer Grundfläche das Gleichgewicht verloren, die gespannteste Aufmerksamkeit auf sich.

Plötzlich schwankte ein höchstens zwei Tage alter Eisberg, stürzte um und zerschlug in seinem Falle den Rand der Eistafel, die er mit einem ungeheuern Wasserschwall übergoß.

Alle waren jählings zurückgewichen; aber im nächsten Augenblick erscholl ein Ruf:

»Hilfe!... Hilfe!... Jean!«

Es war Kayette... Sie befand sich auf dem abgebrochenen Eisstück, welches die schäumende Flut davontrug.

»Kayette!... Kayette!...« schrie Jean.

Aber das Eisstück trieb, von einer Seitenströmung ergriffen, immer weiter, während die Eistafel unter der Wirkung des Zusammenstoßes still stand. Noch einige Sekunden und Kayette würde inmitten der nach drängenden Eisberge verschwunden sein.

»Kayette!... Kayette!...« schrie Jean.

»Jean!... Jean!« wiederholte die junge Indianerin zum letztenmale.


»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!... Jean!« (Seite 216.)
»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!... Jean!« (Seite 216.)

Auf diese Rufe waren Herr Cascabel und Cornelia herbeigeeilt.... Nun[216] standen sie schreckensstarr neben Herrn Sergius, der nicht wußte, was er zur Rettung des unglücklichen Kindes thun sollte.

Auf einen Augenblick brachte die unaufhörliche Verschiebung der Eisblöcke unter einander Kayettens Scholle wieder näher heran; da nahm Jean einen Anlauf und sprang, bevor man ihn zurückhalten konnte, mit einem gewaltigen Satze zu ihr hinüber...[217]

»Mein Sohn!... Mein Sohn!...« jammerte Frau Cascabel.

Es war unmöglich, die beiden zu retten. Jeans Sprung hatte der Eisscholle einen heftigen Stoß gegeben. Er und Kayette verschwanden zwischen den Eisbergen und bald verhallten auch ihre Rufe im unendlichen Raume.

Nach langen Stunden des Harrens in der vollends hereingebrochenen Dunkelheit mußten Herr Sergius, Herr Cascabel, Cornelia und ihre Kinder in das Lager zurückkehren. Welche Nacht die armen Leute verbrachten! Sie irrten ruhelos um die Belle-Roulotte umher, während die Hunde kläglich winselten.

Jean und Kayette... von den Wellen fortgerissen, obdachlos, ohne Nahrung... verloren! Cornelia war in Thränen aufgelöst; Xander und Napoleone weinten mit ihr. Von diesem neuen Schlage niedergeschmettert, vermochte Herr Cascabel nur unzusammenhängende Worte auszustoßen, in denen er sich die bittersten Vorwürfe machte, all dies Unglück über seine Familie gebracht zu haben. Und Herr Sergius wußte ihnen keinen Trost zu spenden, da er selber untröstlich war.

Am folgenden Tage, dem vierten Dezember, setzte die Eistafel sich wieder in Bewegung. Zwar verfolgte sie dieselbe Richtung, in welcher Jean und Kayette verschwunden waren; aber letztere hatten einen Vorsprung von achtzehn Stunden, und so mußte man jeder Hoffnung entsagen, sie einzuholen oder aufzufinden. Auch waren sie von zu vielen Gefahren umringt, als daß sie denselben heil und ganz entrinnen konnten; wie sollten sie der heftigen Kälte, dem nicht zu stillenden Hunger, dem Anprall der Eisberge, deren leichtester Stoß ihre Scholle zertrümmern mußte, Trotz bieten?...

Der Schmerz dieser unglücklichen Cascabels läßt sich nicht schildern. Trotz des Sinkens der Temperatur mochten sie nicht in ihre Zimmer zurückkehren, sondern riefen draußen nach Jean, nach Kayette, die sie nicht hören konnten....

Der Tag verging, ohne daß die Lage sich gebessert hätte; dann kam die Nacht und Herr Sergius bestand darauf, daß Vater, Mutter und Kinder in der Belle-Roulotte Obdach suchten, wo aber niemand eine einzige Sekunde den Schlummer fand.

Plötzlich, gegen drei Uhr morgens, erschütterte ein so furchtbarer Stoß den Wagen daß er beinahe umgestürzt wäre. Was bedeutete das?... War irgend ein großer Eisberg an die Eistafel angefahren?... hatte er sie vielleicht gar zertrümmert?...

Herr Sergius stürzte hinaus.

Ein schwacher Nordlichtschein erhellte den Raum und man vermochte die Dinge auf eine halbe Meile im Umkreis zu unterscheiden.

Herr Sergius spähte nach allen Seiten aus.[218]

Weder Jean noch Kayette waren in Sicht.

Der Stoß aber war durch das Anfahren der Eistafel an ein Eisfeld verursacht worden. Dank dem neuerlichen Sinken der Temperatur – auf nahezu zwanzig Grad Celsius unter Null – war die Meeresfläche gänzlich zugefroren.

Dort, wo noch am vergangenen Tage alles in Bewegung gewesen, war starre Ruhe eingetreten. Mit dem letzten Stoße hatte das Wandern der Eistafel sein Ende erreicht.

Herr Sergius kehrte sofort in den Wagen zurück und verkündete der Familie, daß die Eistafel endgültig festliege.

»Also ist das ganze Meer vor uns zugefroren?« fragte Herr Cascabel.

»Ja,« antwortete Herr Sergius; »auf allen Seiten.«

»Nun, so machen wir uns denn auf den Weg, um Jean und Kayette zu suchen!... Es ist kein Augenblick zu verlieren...«

»Gehen wir!« antwortete Herr Sergius.

Da Cornelia und Napoleone nicht in der Belle-Roulotte bleiben wollten, wurde diese in Clous Obhut zurückgelassen, und alle eilten über das Eisfeld dahin, während die beiden Hunde spähend vorausliefen.

Man ging schnellen Schrittes über den granitharten Schnee gen Westen hin. Wenn Wagram und Marengo auf die Fußspuren ihres jungen Herrn stießen, so würden sie dieselben gewiß erkennen. Aber nach Verlauf einer halben Stunde hatten sie noch immer nichts gefunden. Man mußte schließlich Halt machen, denn die intensiv eisige Luft erschwerte das Atemholen.

Das Eisfeld, das sich gegen Norden, Süden und Osten unabsehbar ausdehnte, war im Westen von einigen Höhen begrenzt, welche nicht die Form gewöhnlicher Eisberge hatten. Waren es etwa die Küstenumrisse irgend einer Insel oder eines Festlandes?

Plötzlich schlugen die Hunde heftig an und rannten auf eine weißliche Anhöhe zu, von der sich eine gewisse Anzahl schwarzer Punkte abhob.

Man eilte wieder vorwärts und bald sah Xander, daß jene Punkte menschliche Wesen waren und daß zwei von ihnen winkten.

»Jean!... Kayette!...« schrie er, hinter Wagram und Marengo herstürmend.

Es waren wirklich Jean und Kayette, heil und unversehrt!...

Sie waren nicht allein. Ein Trupp von Eingeborenen umgab sie, und diese Eingeborenen waren Bewohner der Liakhoff-Inseln.[219]

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 206-220.
Lizenz:

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