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[233] So war die Lage des Herrn Sergius und seiner Reisegefährten beschaffen, als man den ersten Januar 1868 schrieb. Schon sehr beunruhigend durch die Gefangenschaft bei den Liakhoff-Insulanern, wurde dieselbe durch die[233] Anwesenheit Ortiks und Kirschefs noch bedenklicher. Wer wußte, ob die beiden Bösewichter nicht den Versuch machen würden, aus dieser unerwarteten Begegnung Nutzen zu ziehen? Zum Glück wußten sie nicht, daß der von ihnen an der alaskischen Grenze Angegriffene Graf Narkine sei, ein politischer Flüchtling, der aus der Festung Jakutsk entwichen war und nun, unter das Personal einer Jahrmarktstruppe gemischt, nach Rußland zurückzukehren suchte. Hätten sie das gewußt, sie würden sicher nicht gezögert haben, sich das Geheimnis zu nutze zu machen, dem Grafen Narkine Geld zu erpressen, ihn sogar gegen eine ihnen zu gewährende Belohnung oder Prämie den moskowitischen Behörden auszuliefern. Aber mußte man nicht fürchten, daß der Zufall das Geheimnis enthüllen könnte, von dem bis jetzt nur die Eheleute Cascabel Kenntnis hatten?«
Übrigens setzten Ortik und Kirschef ihr abgeschiedenes Leben fort, wenngleich sie fest entschlossen waren, sich im gegebenen Falle den Bemühungen des Herrn Sergius anzuschließen, um ihre Freiheit wieder zu erlangen.
So viel war klar, während der Winterperiode des Polarjahres konnte man nichts unternehmen. Die Kälte war so außerordentlich geworden, daß der Atem sich in der Luft in Schnee verwandelte Das Thermometer sank zuweilen auf vierzig Grad Celsius unter Null herab. Selbst bei windstillem Wetter wäre es unmöglich gewesen, eine solche Temperatur zu ertragen. Cornelia und Napoleone wagten nicht mehr, die Belle-Roulotte zu verlassen, und übrigens würde man sie auch daran verhindert haben. Wie endlos ihnen diese Tage ohne Sonne, oder vielmehr diese vierundzwanzigstündigen Nächte schienen!
An das nordamerikanische Klima gewöhnt, scheute Kayette sich nicht, der Kälte draußen Trotz zu bieten. Dasselbe thaten die einheimischen Frauen. Sie gingen ihrer gewohnten Arbeit nach, in ein doppeltes Gewand aus Renntierfell gekleidet, in den Palsk aus Pelzwerk gehüllt, Pelzstrümpfe und Mokassins aus Seehundsleder an den Füßen, eine mit Hundsleder gefütterte Mütze auf dem Kopf. Nicht einmal ihre Nasenspitze war sichtbar – was übrigens nicht bedauerlich erschien.
Herr Sergius, Herr Cascabel, dessen beide Söhne und Clou-de-Girofle machten, fest in ihre Pelze gewickelt, täglich ihre obligatorische Aufwartung bei Tschu-Tschuk; desgleichen die beiden russischen Matrosen, die man mit warmen Decken versehen hatte.
Die Bewohner von Neusibirien gehen bei jedem Wetter ins Freie. Sie jagen auf der hartgefrorenen Oberfläche der weiten Ebenen, stillen ihren Durst mit Schnee und nähren sich vom Fleische der unterwegs getöteten Tiere. Ihre sehr leichten, aus Walfisch-Barten, -Rippen und -Kinnbacken angefertigten Schlitten ruhen auf Kufen, die sie kurz vor der Abfahrt durch Anfeuchtung[234] mit einer Eisschicht überziehen. Ihr Gespann besteht aus Renntieren, welche ihnen vorzügliche Dienste leisten. Was die samojedischen Hunde betrifft, so gleichen dieselben Wölfen an Gestalt und Wildheit; sie sind hochbeinig und mit dichtem, schwarzweißem oder gelbbraunem Pelze bedeckt.
Wenn die Neusibirier zu Fuße reisen, so legen sie den »Ski«, ihren langen Schneeschuh an, mit dem sie schnell über weite Strecken dahinfliegen, am Rande[235] der Kanäle, welche die verschiedenen Inseln von einander trennen, längs der, »Tundras«, Landstreifen, die man häufig vor die arktischen Meeresufer gelagert sieht.
In der Waffenfabrikation können die Liakhoff-Insulaner sich nicht im entferntesten mit den nordamerikanischen Eskimos messen. Bogen und Pfeile sind alles, was ihr offensives und defensives Arsenal aufzuweisen hat. Von Fischereigeräten besitzen sie Harpunen, mit welchen sie die Walfische angreifen und Netze, die sie unter den »Grundis«, einer Art Grundeis, wo die Seehunde sich fangen lassen, aufspannen. Sie benützen auch Lanzen und Messer in ihren Kämpfen mit den Walrossen – nicht ganz ungefährlichen Kämpfen, denn diese Säugetiere sind furchtbare Gegner.
Diese Einheimischen gaben Proben ihrer Tapferkeit. (Seite 236.)
Aber das Wild, dessen Nähe oder Angriff sie am meisten zu fürchten haben, ist der Eisbär, den die intensive Winterkälte und die Notwendigkeit, sich nach tagelangem Fasten ein wenig Nahrung zu verschaffen, manchmal bis in die Dörfer der Inselgruppe treibt. Man muß gestehen, daß die Eingeborenen sich bei solchen Anlässen tapfer zeigen; sie fliehen nicht vor dem gewaltigen Tiere, dessen unfreiwillige Enthaltsamkeit es nur noch grimmiger macht; sie werfen sich ihm entschlossen, mit dem Messer in der Hand, entgegen und der Kampf endigt meistens zu ihren Gunsten.
In der That waren die Cascabels mehrmals Zeugen eines derartigen Angriffes, bei welchem der Polarbär, nachdem er mehrere Männer schwer verwundet hatte, der Übermacht unterlag. Da eilte dann der ganze Stamm zusammen und das Dorf feierte ein Freudenfest. Welch ein Leckerbissen das Bärenfleisch für sibirische Magen zu sein schien! Die besten Stücke wanderten nach Gebühr auf den Tisch oder vielmehr in den Napf Tschu-Tschuks. Was seine ergebenen Unterthanen betrifft, so bekam jeder einen kleinen Teil von dem, was er ihnen zu überlassen geruhte. Das war eine gute Gelegenheit zu langmächtigen Trankopfern und der daraus entstehenden allgemeinen Trunkenheit – eine Trunkenheit, an welcher ein Getränk die Schuld trug, das man aus jungen Salix- und Rhodiolatrieben, Preißelbeeren und den in den wenigen Sommerwochen reichlich eingeernteten gelben Sumpfbeeren braute.
Eigentlich sind die Bären auf diesen Inselgruppen selten und so kann man nicht auf dieses Wild rechnen, dessen Erlegung überdies immer mit großer Gefahr verbunden ist. Darum bildet denn auch das Renntierfleisch den Hauptbestandteil der einheimischen Nahrung, und die Frauen bereiten aus dem Blute dieser Tiere eine Suppe, welche die Cascabels stets mit größtem Widerwillen erfüllte.
Fragt man, wie die Renntiere während des Winters zu leben vermögen, so erhält man die einfache Antwort, daß es ihnen keine Verlegenheit bereitet, ihre vegetabilische Nahrung selbst unter einer dicken Schneedecke zu suchen.[236]
Überdies werden ungeheure Futtervorräte vor dem Eintritte der Kälte eingeheimst, und das genügt, um die Tausende von Wiederkäuern zu ernähren, welche die Gebiete Neusibiriens umschließen.
»Tausende!... Und wenn man bedenkt, daß zwanzig hinreichen würden, um uns aus jeder Verlegenheit zu befreien!« sagte Herr Cascabel wiederholt, indem er nachsann, wie er sein Gespann ersetzen solle.
Hier ist nochmals zu betonen, daß die Liakhoff-Insulaner nicht nur Götzenanbeter, sondern auch äußerst abergläubisch sind, daß sie alles auf ihre Gottheiten beziehen und ihren mit eigenen Händen angefertigten Götzen blindlings gehorchen. Diese Götzenanbetung übersteigt jeden Begriff, und allen voran gab der große Häuptling Tschu-Tschuk sich seiner Religion mit einem Fanatismus hin, den seine Unterthanen bereitwillig teilten.
Tag für Tag begab Tschu-Tschuk sich in eine Art Tempel, oder vielmehr an eine heilige Stätte, welche den Namen »Vorspük« (Gebetgrotte) trug. Die einfach durch bemalte Pfosten dargestellten Götzen waren im Hintergrunde einer felsigen Höhle aufgepflanzt, in welcher die Eingeborenen sich der Reihe nach auf den Boden warfen. Sie trieben die Intoleranz nicht so weit, den Fremden den Eintritt ins Vorspük zu wehren; im Gegenteil, sie luden sie dahin ein. So konnten denn Herr Sergius und seine Gefährten ihre Neugierde befriedigen, indem sie den neusibirischen Götzen einen Besuch abstatteten.
Am oberen Ende dieser Pfosten grinsten abscheuliche Vögelköpfe mit runden, roten Augen, mächtigen, weit aufgesperrten Schnäbeln und knochigen, hornartig gebogenen Kämmen. Die Gläubigen legten sich vor diesen Pfosten auf die Erde, hielten ihr Ohr daran, verrichteten ihre Gebete; und obgleich die Gottheit ihnen niemals geantwortet hatte, gingen sie doch in der Überzeugung fort, ihre Antwort vernommen zu haben – eine Antwort, welche gewöhnlich mit den geheimen Wünschen der Anbeter im Einklang stand. Wenn es sich um irgend eine neue Abgabe handelte, welche Tschu-Tschuk seinen Unterthanen auferlegen wollte, so verfehlte der Schlaukopf nie, die himmlische Zustimmung einzuholen und kein einziger seiner Unterthanen würde sich einem so hohen Befehle widersetzt haben.
Einmal in der Woche fand eine wichtigere religiöse Ceremonie statt, zu welcher die Eingeborenen sich in großem Staate begaben. Mochte die Kälte noch so groß sein, der Schneesturm noch so heftig über die Ebenen hinrasen, niemand zögerte, Tschu-Tschuk ins Vorspük zu folgen. Und weiß man, wie Männer und Frauen sich seit der Ankunft der Belle-Roulotte zu diesen Feierlichkeiten herausstaffierten? Mit dem der Familie entwendeten Flitterstaate, den sie über ihren Kleidern trugen, den verblichenen Trikots des Herrn Cascabel, den zerknitterten Röcken Cornelias, den weiten Mänteln ihrer Kinder, dem federbuschgeschmückten Helm Clou-de-Girofles! Und das Klappenhorn,[237] in das einer von ihnen blies, bis ihm der Atem ausging, die Posaune, welcher ein anderer höchst unwahrscheinliche Töne entlockte, die Handtrommel, die große Trommel, sämtliche Instrumente des Jahrmarkts-Orchesters mußten mit ihrem betäubenden Lärm den Glanz des Festes erhöhen!
Da zeterte Herr Cascabel dann gegen diese Schurken, diese Räuber, die sich die Freiheit nahmen, seine Kostüme zu tragen, seine Instrumente zu ruinieren!
»Canaillen!.. Canaillen!« sagte er immer wieder, und selbst Herrn Sergius gelang es nicht, ihn zu beruhigen.
Indem sie sich derart in die Länge zog, begann die Situation entnervend zu wirken, die Tage und Wochen schlichen so langsam dahin! Und dann, wie würde das Ende sein, wenn es überhaupt ein Ende gab? Indessen ging die Zeit, die man nicht mehr auf Übungen verwenden konnte, – und Herr Cascabel fürchtete, daß sein Personal arg eingerostet nach Perm kommen werde, – diese Zeit ging nicht ganz nutzlos vorüber. Um der Entmutigung der Familie vorzubeugen, fesselte Herr Sergius seine Zuhörer unermüdlich mit Erzählungen und Belehrungen.
Dagegen hatte Herr Cascabel ihm mehrere Taschenspielerstückchen beigebracht – zu seinem Vergnügen, sagte er. Aber in Wahrheit konnte das Herrn Sergius nützlich werden, wenn er je die Rolle eines Gauklers spielen wollte, um die moskowitische Polizei zu täuschen. Was Jean betrifft, so war er damit beschäftigt, die Erziehung der jungen Indianerin zu vollenden. Unter der Anleitung ihres jugendlichen Lehrmeisters übte die Schülerin sich im Schreiben und Lesen. Kayette besaß einen so lebhaften Verstand und Jean war so eifrig bemüht, ihn auszubilden! War es denn vom Geschick bestimmt, daß dieser wackere Junge, der das Studieren so leidenschaftlich liebte, der so reich begabt war, nie etwas anderes als ein armer Jahrmarktsgaukler sein sollte, daß es ihm nie gelingen sollte, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter höher emporzuklimmen? Ah, das war ein Geheimnis, welches die Zukunft lösen würde; und welche Zukunft stand dieser Familie bevor, die sich an den äußersten Grenzen der bekannten Welt in der Gewalt eines wilden Stammes befand?
In der That schienen Tschu-Tschuks Forderungen nicht mäßiger werden zu wollen. Er würde seine Gefangenen nicht ohne Lösegeld ziehen lassen und es hatte nicht den Anschein, als ob ihnen von außen Hilfe kommen könnte. Wie aber sollte man sich das von dem habgierigen Beherrscher der Liakhoff-Inseln geforderte Geld verschaffen?
Freilich besaßen die Cascabels einen Schatz – ohne es selber zu wissen. Das war der Goldklumpen, der kostbare Goldklumpen des jungen Xander – wenigstens hegte der Bursche keinen Zweifel hinsichtlich seines Wertes. Wenn[238] ihn niemand sah, zog er das Erz aus seinem Versteck hervor, betrachtete es, rieb es, glättete es. Gewiß, er würde nicht gezögert haben, es zu opfern, um Tschu-Tschuk umzustimmen und seine Familie loszukaufen. Aber ein Stück Gold in Form eines Kiesels würde der Tuck-Tuck seines Vaters nie statt barer Münze annehmen. Dann hing auch Xander an seiner Idee, die Ankunft in Europa abwarten zu wollen. Dort würde er seinen Goldklumpen[239] schon gegen gemünztes Gold eintauschen und damit die in Amerika geraubten Dollars vorteilhaft ersetzen können!
Ein vortrefflicher Plan, wenn man nur die Ankunft in Europa zu bewerkstelligen vermochte. Es hatte wirklich nicht den Anschein, als ob es bald dazu kommen würde. Und mit dieser Frage beschäftigten sich auch die beiden Missethäter, welche die Mißgunst des Schicksals der Familie Cascabel in den Weg geführt hatte.
Eines Tages – am dreiundzwanzigsten Januar – erschien Ortik in der Belle-Roulotte, um sich mit Herrn Sergius, Jean und dessen Vater über ihre Rückkehr in die Heimat zu besprechen. Sein eigentlicher Zweck aber war, in Erfahrung zu bringen, was die Gefangenen zu thun gedächten, falls Tschu-Tschuk sie von der Insel entließe.
»Herr Sergius,« fragte er vor allem, »war es Ihre Absicht, als Sie Port-Clarence verließen, in Sibirien zu überwintern?«
»Ja,« antwortete Herr Sergius;»wir wollten irgend einen Marktflecken zu erreichen suchen, wo wir bis zum Anbruch der schönen Jahreszeit Aufenthalt genommen hätten. Warum fragen Sie das, Ortik?«
»Weil ich wissen möchte, ob Sie zu Ihrem anfänglichen Reiseplane zurückzukehren gedenken, falls diese verwünschten Eingeborenen uns freigeben...«
»Nein,« erwiderte Herr Sergius?« denn das hieße einen ohnedies langen Weg nutzlos verlängern. Meiner Ansicht nach wäre es besser, die Richtung nach der russischen Grenze zu nehmen, um einen der Uralpässe zu gewinnen...«
»Im Norden der Bergkette?...«
»Freilich, da wir den kürzesten Weg durch die Steppe einschlagen würden.«
»Und Ihr Wagen, Herr Sergius?« fuhr Ortik fort. »Würden Sie den zurücklassen?...«
Herr Cascabel hatte diese Frage augenscheinlich verstanden, denn er beeilte sich, zu erwidern:
»Die Belle-Roulotte zurücklassen!... Nein, gewiß nicht, wenn ich mir ein Gespann verschaffen kann; und in kurzem... hoffe ich...«
»Haben Sie einen Einfall?...« fragte Herr Sergius.
»Nicht den Schatten von einem Einfall; aber Cornelia sagt mir unaufhörlich, daß mir schon einer kommen wird, und Cornelia täuscht sich nie. Das ist eine hervorragende Frau, und sie kennt mich gut, Herr Sergius!«
Immer derselbe, dieser erstaunliche Cäsar Cascabel, immer seinem Sterne vertrauend und der entschiedenen Ansicht, daß vier Franzosen und drei Russen doch mit einem Tschu-Tschuk fertig werden müßten.
Herr Sergius hatte Ortik die Meinung des Herrn Cascabel in Bezug auf die Belle-Roulotte mitgeteilt.[240]
»Aber um Ihren Wagen mitzunehmen,« begann der russische Matrose wieder, beharrlich auf diesen Punkt zurückkommend, »werden Sie eines Renntiergespanns bedürfen...«
»Allerdings.«
»Und Sie glauben, daß Tschu-Tschuk Sie mit einem solchen versehen werde?«[241]
»Ich glaube, daß Herr Cascabel ein Mittel finden wird, ihn dazu zu zwingen.«
»Und dann werden Sie die sibirische Küste zu er reichen suchen, indem Sie über das Eisfeld fahren?«
»So ist's.«
»In diesem Falle wäre es notwendig, Herr Sergius, vor dem Eintritt von Tauwetter aufzubrechen, also vor Ablauf von drei Monaten...«
»Offenbar.«
»Und wie?«
»Vielleicht werden die Eingeborenen sich dann dazu verstehen, uns ziehen zu lassen...«
»Ich glaube nicht, da es unmöglich sein wird, das geforderte Lösegeld zu bezahlen.«
Herr Cascabel, dem Ortiks Bemerkung verdolmetscht wurde, antwortete sogleich:
»Wenn anders die Dummköpfe nicht dazu gezwungen werden!«
»Gezwungen?... Durch wen?« fragte Jean.
»Durch die Umstände!«
»Die Umstände, Vater?«
»Ja! Davon hängt alles ab... Die Umstände, mein Sohn, die Umstände!«
Und er kratzte sich den Kopf so heftig, daß er sich beinahe das Haar ausriß; aber es gelang ihm nicht, demselben einen Gedanken zu entlocken.
»Sehen Sie, meine Freunde,« sagte Herr Sergius, »die Hauptsache ist, für den Fall vorbereitet zu sein, wo die Eingeborenen uns nicht freigeben wollen. Werden wir nicht versuchen, ohne ihre Einwilligung ans Ziel zu gelangen?«
»Wir werden es versuchen, Herr Sergius,« antwortete Jean. »Aber dann werden wir gezwungen sein, unsere Belle-Roulotte im Stiche zu lassen!«
»Sprich nicht so, Jean!« rief Herr Cascabel. »Sprich nicht so; du brichst mir das Herz!«
»Aber bedenke, Vater...«
»Nein!... Die Belle-Roulotte ist unser wanderndes Haus!... Sie ist das Dach, unter welchem du das Licht der Welt erblickt haben könntest, mein Sohn!... Wir dürfen sie nicht der Willkür dieser Amphibien überlassen...«
»Mein lieber Cascabel,« versetzte Herr Sergius, »wir werden alles thun, was in unserer Macht liegt, um die Eingeborenen dazu zu bestimmen, daß sie uns die Freiheit schenken. Da sie sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach weigern werden, dies zu thun, so bleibt die Flucht unser einziger Ausweg. Nun, und wenn es uns gelingen soll, Tschu-Tschuks Wachsamkeit zu täuschen, so geht das nur, indem wir den Wagen preisgeben...«[242]
»Das Haus der Cascabels!« rief das Familienoberhaupt mit Donnerstimme.
»Vater,« meinte Jean, »vielleicht giebt es noch einen anderen Ausweg, um die Sache zu schlichten...«
»Welchen denn?«
»Warum sollte nicht einer von uns den Versuch machen, sich auf das Festland hinüberzuflüchten und die russischen Behörden zu verständigen?.. Herr Sergius, ich wäre gern bereit...«
»Niemals!« sagte Herr Cascabel lebhaft.
»Nein... thun Sie das nicht!« entgegnete Ortik nicht minder lebhaft als Herr Sergius ihm Jeans Vorschlag mitgeteilt hatte.
Herr Cascabel und der Matrose waren in diesem Punkte einer Meinung; aber während der eine nur an die Gefahr dachte, welche Graf Narkine laufen würde, wenn er mit der moskowitischen Verwaltung in Berührung käme, spürte der andere selbst keine Luft, ihren Beamten zu begegnen.
Übrigens betrachtete Herr Sergius die Sache von einem anderen Gesichtspunkte aus.
»Daran erkenne ich dich, mein wackerer Junge,« antwortete er, »und ich danke dir für dein Anerbieten, dein Leben für uns aufs Spiel zu setzen. Aber deine Opferwilligkeit kann zu keinem Ziele führen. Es wäre Thorheit, sich im tiefen Polarwinter über ein Eisfeld zu wagen, die hundert Meilen zurücklegen zu wollen, welche die Kotelnii-Insel vom Festlande trennen! Du würdest unterwegs umkommen, mein armer Junge! Nein, meine Freunde, trennen wir uns nicht! und wenn es uns auf die eine oder andere Weise gelingen soll, die Liakhoff-Inseln zu verlassen, so verlassen wir dieselben alle zusammen!«
»Das ist wohl gesprochen,« sagte Herr Cascabel; »und Jean muß mir sein Wort geben, daß er nichts ohne meine Erlaubnis unternehmen wird...«
»Ich verspreche dir's, Vater.«
»Und wenn ich sage, daß wir alle zusammen gehen werden,« fuhr Herr Sergius fort, indem er sich zu Ortik wandte, »so meine ich damit, daß auch Sie und Kirschef uns begleiten sollen... Wir werden Sie nicht in den Händen der Eingeborenen zurücklassen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Sergius,« erwiderte Ortik; »und Kirschef und ich werden uns auf der Reise durch Sibirien nützlich zu machen wissen. In diesem Augenblick ist nichts zu thun. Aber es ist von Wichtigkeit, daß wir uns bereit halten, vor dem Eisbruch, sobald die große Kälte nachläßt, zu fliehen.«
Mit diesen Worten zog Ortik sich zurück.
»Ja,« bemerkte Herr Sergius, »wir müssen uns bereit halten...«[243]
»Wir werden bereit sein,« erklärte Herr Cascabel. »Wie wir's anfangen werden?... Hol mich der Henker, wenn ich's weiß!«
In der That, die Frage, wie man sich mit oder ohne seine Einwilligung von Tschu-Tschuk verabschieden solle, beschäftigte alle und bildete sozusagen das Tagesgespräch. Die Wachsamkeit der Eingeborenen zu täuschen, würde zum mindesten sehr schwer fallen! Auf eine Umstimmung Tschu-Tschuks war kaum zu rechnen! Es gab also nur einen Ausweg: »ihn dranzukriegen«, wie Herr Cascabel zwanzigmal des Tages sagte.
Ja! das war es, worauf er sann! Aber er mochte sich lange »den Kopf zerbrechen«, wie einer seiner Lieblingsausdrücke lautete; der Januar ging zu Ende und er hatte es noch immer zu keinem Einfall gebracht!
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