Zwanzigstes Capitel.

[202] Binnen einer Minute sind alle Reisenden, mehr oder weniger verletzt und kaum ihrer Sinne mächtig, auf die Gleise hinuntergesprungen. Jetzt ertönen Fragen und Klagen in wenigstens vier Zungen unter der allgemeinsten Bestürzung.

Der Seigneur Farnsklar, Ghangir und die vier Mongolen sind als die ersten aus dem Zuge hinaus. Alle haben sich auf der Bahnstrecke aufgestellt und den Kandjiar mit der einen, den Revolver mit der andern Hand gepackt.

Richtig, auf die Länge von hundert Metern sind die Schienen ausgehoben und die Maschine ist, nachdem sie erst über die Schwellen gepoltert, vor einer Sandaufhäufung stehen geblieben.

»Ah! Die Eisenbahn ist noch gar nicht fertig ... und mir hat man ein Billet von Tiflis bis Peking verkauft? ... Und ich, ich habe diese Transasiatische Bahn benützt, um bei meiner Reise um die Erde neun Tage zu ersparen?«

An diesen in deutscher Sprache gegen Popof geäußerten Worten erkenne ich die wüthende Stimme des Barons. Diesmal hätte er seine Vorwürfe freilich bei andern als bei den Ingenieuren der Bahn anbringen sollen.[202]

Wir fragen Popof, während der Major den Seigneur Farusklar und die Mongolen unausgesetzt im Auge behält.

»Der Baron ist im Irrthum, erklärt uns Popos. Die Strecke ist vollständig fertig, und wenn hier hundert Meter Schienen fehlen, so sind sie in verbrecherischer Absicht aufgerissen worden ....

– Um den Zug zum Stehen zu bringen ... rufe ich.

– Und um den Schatz zu rauben, den er nach Peking befördert! ... setzt Herr Caterna hinzu.

– Ob das wohl Ki-Tsang nebst seiner Bande ist, mit dem wir's zu thun haben?« rufe ich laut.

Ki-Tsang! ... Dieser Name verbreitet sich jetzt unter den Reisenden und setzt Alle gewaltig in Schrecken.

Da raunt mir der Major zu:

»Warum denn Ki-Tsang ... vergessen Sie den Seigneur Farusklar?

– Er? ... Ein Verwalter der Transasiatischen Linie ....

– Sapperment, wenn's wahr ist, daß die Gesellschaft einige frühere Räuberführer in ihren Verwaltungsrath aufgenommen hat, um den Verkehr besser zu sichern ....

– Daran glaub' ich nimmermehr, Major!

– Nach Belieben, Herr Bombarnae Sicherlich wußte aber dieser Seigneur Farnsklar, daß der angebliche Leichenwagen so und so viele Millionen enthält ....

– Ich bitte Sie, Major, jetzt ist doch keine Zeit zum Scherzen! ...

– Nein, jetzt ist es Zeit, sich zu vertheidigen, und daran wollen wir's nicht fehlen lassen.«

Der chinesische Officier hat seine Leute rings um den Wagen mit dem Schatze aufgestellt Es sind ihrer zwanzig, und wir andern Reisenden, die Frauen nicht gerechnet, zählen auch noch zwanzig Mann. Popof vertheilt Waffen, die für den Fall eines Angriffs stets mitgeführt werden. Der Major Noltitz, Herr Caterna, Pan-Chao, Fulk Ephrjuell, der Maschinenführer und der Heizer, asiatische und europäische Reisende, Alle sind wir entschlossen, uns für das allgemeine Beste zu schlagen.

Rechts von der Bahnstrecke und etwa hundert Schritte von dieser erhebt sich ein dichtes und tiefes Gebüsch, eine Art verdächtiger Dschungel, worin die Banditen jedenfalls versteckt sind und nur den Moment ablauern, über den Bahnzug herzufallen.[203]

Plötzlich ertönt ein lautes Geschrei. Aus dem Dickicht springt ein darin verborgen gewesener Hause von etwa sechzig mongolischen Nomaden des Gobi.

Tragen diese Verbrecher den Sieg davon, so wird der Zug geplündert, der Schatz des Sohnes des Himmels gestohlen, und – was uns am meisten angeht – die Insassen desselben werden ohne Gnade und Mitleid niedergemacht.

Und der Seigneur Farnsklar, den der Major Noltitz so sehr in Verdacht hat? ... Ich sehe mir ihn an ... sein Gesichtsausdruck hat sich verändert, er ist todtenblaß geworden und richtet sich hoch auf, unter den unbeweglichen Lidern schießen Blitze hervor ....

Aha! Hab' ich mich auch bezüglich des Mandarinen Yen-Lou getäuscht, so hab' ich doch einen Verwaltungsrath der Groß-Transasiatischen Bahn nicht für den berüchtigten Banditen von Yunnan gehalten!

Bei dem Auftauchen der Mongolen hat Popof Frau Caterna, Miß Horatia Bluett und die andern turkmenischen und chinesischen Frauen ins Innere des Waggons zurückgetrieben. Wir haben Alles vorbereitet, daß sie darin in Sicherheit bleiben.

Als Waffe führe ich nur einen sechsläufigen Revolver, doch der soll nicht unbenützt bleiben.

Ah, ich wollte ja Zwischenfälle, Ereignisse, Reiseerlebnisse! ... Nun, dem Chronisten wird es jetzt an Stoff nicht fehlen, vorausgesetzt, daß er aus dem Scharmützel zu Ehren der Reportage und zum Ruhme des »XX. Jahrhundert« heil und gesund hervorgeht.

Doch liegt es nicht recht nahe, die Räuber dadurch in Verwirrung zu bringen, daß man dem Ki-Tsang zuerst den Schädel zerschmettert, wenn Ki-Tsang der Urheber dieser uns gestellten Falle ist? ... Das läge eigentlich auf der Hand.

Die Räuber schwingen ihre Waffen, nachdem sie diese nämlich auf uns abgefeuert haben. Die Pistole in der einen und den Kandjar in der andern Hand, hat sich der Seigneur Farnsklar auf sie gestürzt – seine Augen leuchten und ein leichter Schaum tritt auf seine Lippen. Ghangir hält sich an seiner Seite und ihm folgen die vier Mongolen, die er mit Hand und Wort anfeuert ....

Der Major und ich, wir werfen uns mitten unter die Angreifer. Herr Caterna ist uns schon vorangeeilt, den Mund geöffnet und die weißen Zähne[204] zum Beißen bereit, während er mit dem Revolver zielt. Der Komiker und erste Liebhaber hat wieder dem alten Seebären Platz gemacht, der noch nicht ganz in ihm erstorben ist.

»Diese Spitzbuben, ruft er, die wollen uns entern! ... Dieser Räuberhauptmann will uns in den Grund bohren! ... Vorwärts ... vorwärts, zur Ehre der Flagge! ... Feuer von Backbord! ... Feuer von Steuerbord! ... Feuer von allen Seiten!«

Und jetzt ist er nicht mit einem Theaterdolche bewaffnet, nicht mit einer jener Pistolen, die mit dem unschuldigen Pulver Eduard Philippe's geladen sind. Nein, einen Revolver in jeder Hand, dahinstürmend wie ein Fockmaat, schießt er nach rechts ... feuert er nach links ... und, wie er sagte, nach allen Seiten!

Mit einem Lächeln auf den Lippen geht auch der junge Pan-Chao muthig vor und reißt die andern chinesischen Reisenden mit sich fort. Popof und die Zugbediensteten thun wacker ihre Pflicht. Sogar Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall schlägt sich mit methodischer Kaltblütigkeit, während Fulk Ephrjuell in wahrer Yankeewuth dahinrast, obwohl er weniger über die Unterbrechung seiner Trauung, als wegen der Gefahren, die seinen zweiundvierzig Collis mit künstlichen Zähnen drohen, außer Rand und Band ist. Ja ich weiß nicht einmal, ob diese beiden Gefühle seinen nüchternen Geist zu gleichen Theilen füllen.

Kurz, die Räuberbande begegnet hier einem ernsteren Widerstande, als sie erwartet haben mochte.

Und der Baron Weitzschnitzerdörfer? ... Nun, der Baron ist einer der Allerwüthendsten. Er speit Feuer und Flammen, sein Zorn reißt ihn dahin, selbst auf die Gefahr hin, abgeschlachtet zu werden. Mehrmals haben ihm Andre zu Hilfe eilen müssen. Dieses Aufreißen der Schienen, diese Verspätung des Zuges, dieser Ueberfall in der Wüste von Gobi, die daraus sich ergebenden Verzögerungen ... bedeuten für ihn das Verfehlen des Dampfers nach Tien-Tsin, die Infragestellung seiner Reise um die Erde, die Unterbrechung seiner Reiseroute schon in deren erstem Viertel! Das erträgt sein germanischer Stolz nicht!

Der Seigneur Farusklar, mein Held – ich kann ihn gar nicht anders nennen – entwickelt eine Unerschrockenheit ohne Gleichen, drängt sich mitten in das Getümmel und kämpft, nachdem er die Ladungen seines Revolvers[205] er schöpft hat, mit seinem Kandjar wie ein Mann, der dem Tode schon manchmal nahe gewesen ist und ihm dreist in's Auge zu sehen gelernt hat.

Schon giebt es eine Anzahl Verwundeter auf beiden Seiten – vielleicht sogar Todte unter denen der Reisenden, die auf dem Gleise hingestreckt liegen. Mich selbst streifte eine Kugel an der Schulter. Einfache Hautschürfung, die ich kaum bemerkt habe. Der Reverend Nathaniel Morse hat nicht geglaubt, daß sein heiliger Charakter ihn verpflichte, hier nur die Arme zu kreuzen, und die Art und Weise, wie er die Waffe handhabt, läßt erkennen, daß das in seinem Leben nicht zum erstenmale ist. Herr Caterna bekommt eine Kugel durch den Hut, und zwar, man bedenke, durch seinen langhaarigen Hochzeitshut. Da entfährt ihm ein erz-seemännischer Fluch mit Donner und Wettern und sofort streckt er mit wohlgezieltem Schusse den nieder, der ihm seinen Hauptschmuck so unverzeihlicherweise durchlöchert hat.

Inzwischen dauert der Kampf seit zehn Minuten mit wechselndem Erfolge an. Auf beiden Seiten wächst die Zahl der Kampfunfähigen und der Ausgang ist noch zweifelhaft. Der Seigneur Farusklar, Ghangir und die Mongolen haben sich mehr nach dem werthvollen Wagen hingewendet, den die chinesischen Gendarmen nicht einen Augenblick verließen. Zwei oder drei von ihnen sind aber schon tödtlich verwundet und ihren Officier hat eine Kugel in den Kopf getroffen. Mein Held that nun alles Mögliche, um den Schatz des Sohnes des Himmels zu vertheidigen.

Die Verlängerung des Scharmützels beunruhigt mich. Es wird jedenfalls nicht eher aufhören, als bis der Anführer der Bande – ein schwarzbärtiger, großer Mann – seine Spießgesellen zur Erstürmung des Zuges antreibt. Bisher hat ihn unser Feuer zurückgehalten, doch trotz unsrer Anstrengung gewinnt der Feind an Terrain. Sollten wir nicht genöthigt sein, in die Wagen zu flüchten, uns hier wie in den Mauern einer Festung zu wehren und uns da verschanzen? Da zu kämpfen, bis der letzte Mann von uns gefallen ist? Das kann nicht lange ausbleiben, wenn es uns nicht gelingt, die Rückwärtsbewegung, die unsrerseits schon bemerkbar wird, aufzuhalten ....

In das Krachen der Schüsse mischt sich jetzt auch noch das Geschrei der Frauen, von denen einige wie toll auf den Plattformen umherlaufen, obwohl Miß Horatia Bluett und Frau Caterna sie zurückzuhalten suchen.

Freilich haben mehrere Kugeln auch die Wagenwände durchschlagen, und ich frage mich, ob nicht etwa auch Kinko im Packwagen getroffen worden ist.[206]

Der Major Noltitz, der sich neben mir befindet, sagt da:

»So geht die Sache nicht!

– Nein, so geht sie nicht, hab' ich geantwortet, und ich fürchte, es wird uns bald an Munition fehlen. Wir müssen den Anführer dieser Hallunken außer Gefecht setzen ... Kommen Sie, Major ....«

Doch was wir thun wollten, that in diesem Augenblicke schon ein Andrer.

Dieser Andre ist der Seigneur Farusklar. Nachdem er sich durch die Reihen der Angreifer geschlagen und sie trotz der nach ihm geführten Schläge von dem Gleise gedrängt hat, steht er jetzt vor dem Anführer der Banditen ... er hebt den Arm ... er stößt ihm den Kandjar mitten in die Brust ....

Sofort wendet sich die Rotte zum Rückzuge, sogar ohne ihre Todten mitzunehmen oder die Verwundeten aufzuheben. Die Einen laufen nach der Ebene zu, die Andern verschwinden unter dem Dickicht. Sie zu verfolgen hat keinen Zweck, da der Kampf zu unserm Vortheil entschieden ist .... Und, ja, ich wage es zu sagen, ohne den bewunderungswürdigen Muth des Seigneur Farusklar weiß ich nicht, ob Einer von uns übrig geblieben wäre, um diesen Vorgang zu erzählen.

Der Banditenführer ist jedoch noch nicht todt, obgleich ein dicker Blutstrom aus seiner Brust hervor quillt.

Da werden wir Zeuge einer Scene, die ich in meinem Leben nicht vergessen werde – eine Scene, die sich nur zwischen Personen dieses Schlages abspielen kann.

Der Räuberführer ist ins Knie zusammengebrochen, hat die eine Hand erhoben und stützt sich mit der andern auf die Erde.

Der Seigneur Farusklar steht vor ihm und überragt ihn weit mit seiner mächtigen Gestalt ....

Plötzlich rafft sich der Verwundete zu einer letzten Anstrengung auf ... sein Arm bedroht den Gegner ... er starrt ihn an ...

Da zerfleischt ihm ein letzter Stoß des Kandjar das Herz.

Jetzt wendet sich der Seigneur Faruskiar zurück und sagt in russischer Sprache mit ganz ruhiger Stimme:

»Ki-Tsang ist todt, und mögen wie er alle die umkommen, die die Waffen gegen den Sohn des Himmels erheben!«[207]

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 202-208.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die beiden Schwestern Julchen und Lottchen werden umworben, die eine von dem reichen Damis, die andere liebt den armen Siegmund. Eine vorgetäuschte Erbschaft stellt die Beziehungen auf die Probe und zeigt, dass Edelmut und Wahrheit nicht mit Adel und Religion zu tun haben.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon