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[217] Ich, der ich ein Ereigniß haben wollte, ich bin damit nach Wunsch bedient worden und kann dem Gott der Reporter nur danken, daß wir auf unsrer Seite keine Opfer zu beklagen hatten.
Ich bin aus der Katzbalgerei mit blauem Auge davongekommen. Bis auf kleine ganz unbedeutende Hautwunden[217] sind alle meine Nummern unversehrt. Nur meine Nummer 4 allein hat eine gegnerische Kugel bekommen ... und zwar durch den schönen Hochzeitshut.
Jetzt setze ich meine Hoffnung auf nichts Andres mehr, als auf die Heirat Bluett-Ephrinell und auf die Lösung des Abenteuers Kinko's. Ich bin versichert, daß die Rolle, die der Seigneur Faruskiar spielt, uns vor jeder weiteren Ueberraschung behüten wird. Deshalb kann man immer noch auf den lieben Zufall rechnen, da die Reise ja noch fünf Tage dauert. Unter Einrechnung der durch die Geschichte mit Ki-Tsang entstandenen Verzögerung macht das genau dreizehn Tage von Uzun-Ada aus.
Dreizehn Tage! ... Teufel! ... Ich habe in meinem Notizbuche auch gerade dreizehn Nummern verzeichnet .... Wenn ich nun abergläubisch wäre ...
Wir sind drei Stunden in Tcharkalyk geblieben. Die meisten Reisenden haben ihr Lager gar nicht verlassen. Hier beschäftigt man sich nur mit Erklärungen über den Anfall auf den Zug, mit den Todten, die von der chinesischen Regierung begraben werden sollten, mit den in Tcharkalyk zurückzulassenden Verwundeten u.s.w. Der Ort ist übrigens sehr volkreich, wie mir Pan-Chao gesagt hat, und ich bedaure, ihn nicht haben besuchen zu können.
Die Gesellschaft der Groß-Transasiatischen Bahn wird ohne Zögern Arbeiter entsenden, um die Strecke wieder ordentlich herzustellen, die Telegraphenstangen wieder aufzurichten, und binnen achtundvierzig Stunden wird der Verkehr wieder ungehindert sein.
Es versteht sich von selbst, daß sich der Seigneur Farusklar in seiner Eigenschaft als Verwaltungsrath der Gesellschaft an der Erfüllung der nöthigen Formalitäten in Tcharkalyk betheiligt hat. Ich kann ihn gar nicht genug loben. Uebrigens wurden ihm für seine guten Dienste von dem gesammten Personal des Bahnhofs die größten Ehrenbezeugungen zutheil.
Drei Uhr Morgens – Ankunft in Kara-Buran, wo der Zug nur wenige Minuten anhält.
Hier schneidet die Eisenbahn die Reiseroute Gabriel Bonvalot's und des Prinzen Heinrich von Orléans durch Tibet in den Jahren 1889 und 1890. Das war freilich eine vollständigere Reise als die unsre, weit beschwerlicher und gefahrvoller. Eine Rundreise von Paris bis Paris über Berlin, Petersburg, Moskau, Nijni, Perm, Tobolsk, Omsk, Semipalatinsk, Kuldja, Tcharkalyk, Batang, Yunnan, Honoï, Saïgon, Singapore, Ceylon, Aden, Suez und Marseille – eine Reise durch ganz Asien und Europa.[218]
Der Zug hält am Lob-Nor um vier Uhr und fährt um sechs weiter. Dieser See, dessen Ufer der General Pevtzoff 1889 bei der Rückkehr von seinem Zuge nach Tibet besucht hat, besteht nur aus einem ausgedehnten Sumpfe mit sandigen Inseln, die von kaum einen Meter tiefem Wasser umspült sind. Das Gebiet, durch das der Tarim sich langsam hinschleicht, war bereits von den Patres Huc und Gabet, den Forschern Prjevalsky und Carey bis zu dem hundertfünfzig Kilometer südlicher gelegenen Davana-Passe untersucht worden. Von diesem Passe aus aber wanderten Gabriel Bonvalot und der Prinz Heinrich von Orléans, die zuweilen in der Höhe von fünftausend Metern übernachteten, am Fuße der stolzen Himalaya-Kette durch jungfräuliches Land weiter.
Wir fahren jetzt in der Richtung nach Westen auf den Kara-Nor zu und streifen dabei den Abhang der Nan-Chan-Berge, hinter denen sich die Region des Tsaidam ausdehnt. Man hat nicht gewagt, die Eisenbahn in die bergige Gegend des Ku-Ku-Nor zu verlegen, und wir gelangen nur nach Durchmessung eines weiten Bogens um diesen Gebirgsstock nach der großen Stadt Lan-Tchen.
Ist das Land auch recht traurig, so haben die Insassen unsers Zuges doch keine Ursache, das ebenfalls zu sein. Ein Festtag bricht an mit der hell glänzenden Sonne, deren Strahlen weit hinaus die Landwüste von Gobi vergolden. Vom Lob-Nor bis zum Kara-Nor sind hundertfünfzig Kilometer zu durchmessen, und zwischen diesen beiden Seen soll nun die so unglücklich unterbrochene Trauung des Herrn Fulk Ephrjuell und der Miß Horatia Bluett vor sich gehen. Hoffentlich wird kein weiterer Unfall die glückliche Vereinigung der beiden Gatten noch einmal verzögern.
Ganz von früh an ist der Restaurationswagen wieder für diese Ceremonie hergerichtet; die Zeugen sind bereit, ihre Rolle zu spielen, und die beiden Zukünftigen dürften dazu doch gleichmäßig bereit sein.
Der Reverend Nathaniel Morse, der nun öffentlich verkündet, daß die Trauung um neun Uhr vorgenommen werde, übermittelt uns die Empfehlungen Fulk Ephrjuell's und der Miß Horatia Bluett.
Der Major Noltitz und ich, Pan-Chao und Herr Caterna werden zur bestimmten Stunde unter Waffen sein.
Herr Caterna glaubt, sein dörfliches Hochzeitskleid nicht wieder anlegen zu sollen, und auch Frau Caterna läßt ihr hübsches Costüm jetzt unbenutzt. Sie werden bei dem großen Diner nur in Gesellschaftstracht erscheinen – bei dem Diner, das Herr Fulk Ephrjuell seinen Trauzeugen und den Notablen der[219] ersten Classe geben wird. Unser Komiker, der die linke Wange dick aufbläst, meldet mir heimlich, zum Nachtisch werde es eine kleine Ueberraschung geben. Aus Discretion erkundige ich mich über diese nicht näher.
Kurz vor neun Uhr fängt die Tenderglocke an zu läuten – doch keineswegs um einen Unfall anzuzeigen; sie ruft uns vielmehr nur nach dem Diningcar und wir marschiren im Zuge nach dem Opferplatze.
Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett sitzen schon an dem kleinen Tische, dem würdigen Geistlichen gegenüber, und wir nehmen um sie herum Platz.
Auf den Plattformen drängen sich die Neugierigen, die sich nichts von der Traufeierlichkeit entgehen lassen wollen.
Der Seigneur Farnsklar und Ghangir, die eine persönliche Einladung erhalten hatten, stellen sich gleichfalls ein. Alle erheben sich respectvoll, sie zu begrüßen. Sie sollen den Ehecontract mit unterzeichnen. Das ist eine große Ehre, und wenn es sich um mich gehandelt hätte, ich wäre stolz gewesen, den berühmten Namen auf der letzten Seite meines Contractes glänzen zu sehen.
Die Ceremonie wird also wieder aufgenommen. Diesmal hat der Reverend Nathaniel Morse seinen Speech vollenden können, der zwei Tage vorher so bedauerlicherweise unterbrochen worden war.
Weder die Beisitzer noch er selbst wurden durch einen prämatrimonialen Stoß über den Haufen geworfen.
Die beiden Zukünftigen – noch haben sie ja ein Recht auf diese Bezeichnung – erheben sich nun, und der Geistliche fragt sie, ob sie willig sind, sich gegenseitig als Ehegatten zu betrachten.
Bevor Miß Horatia Bluett antwortet, wendet sie sich mit gespitzten Lippen an Fulk Ephrjuell:
»Also, wohlverstanden, das Haus Holmes-Holme wird an den Interessen unsers gemeinschaftlichen Geschäftes mit fünfundzwanzig Procent betheiligt sein ....
– Fünfzehn, erwidert Fulk Ephrinell, nur fünfzehn.
– Das wäre ungerecht, da ich dem Hause Strong Bulbul and Co. dreißig Procent gewähre ....
– Nun gut, sagen wir also zwanzig Procent, Miß Bluett.
– Einverstanden, Herr Ephrjuell.
– Das geschieht aber einzig Ihnen zu Liebe!« setzt Herr Caterna dazu, der mir diese Phrase ins Ohr flüstert.[220]
Wahrhaftig, ich sehe es schon kommen, daß die ganze Eheschließung an dem Unterschiede von fünf Procent scheitern soll!
Endlich ist Alles in schönster Ordnung. Die Interessen beider Häuser sind von Seiten der Betheiligten vortrefflich gewahrt. Der Reverend Nathaniel Morse wiederholt seine Frage.
Ein sehr trockenes Ja der Miß Bluett und ein kurzes Ja Fulk Ephrjuell's antworten ihm, und die beiden Leute werden hierdurch für verknüpft durch das Band der Ehe erklärt.
Das Protokoll wurde unterzeichnet, erst das junge Ehepaar, dann die Zeugen, hierauf der Seigneur Farusklar und endlich die übrigen Anwesenden. Zuletzt setzt noch der Geistliche seinen Namen nebst amtlichem Titel darunter – womit die Reihe der vorgeschriebenen Formalitäten abgeschlossen ist.
»Na, nun sind sie ja für's Leben zusammengeschweißt, bemerkt der Komiker mit einer leichten Schulterbewegung.
– Für das Leben, wie zwei Stücke Eisen! setzt die Soubrette lächelnd hinzu – nein, wie zwei Dompfaffen! – (Sie hat nämlich nicht vergessen, daß gerade diese Vögel wegen treuer gegenseitiger Anhänglichkeit besonders bekannt sind.)
– In China, läßt der junge Pan-Chao sich vernehmen, sind es nicht die Dompfaffen, sondern die Mandarinenvögel, die als Symptom der ehelichen Treue gelten.
– Ach was, Mandarinenvögel oder Dompfaffen, es kommt doch auf eins hinaus!« erwidert philosophisch Herr Caterna.
Die Feierlichkeit ist beendet. Man beglückwünscht das neue Ehepaar, dann geht Jeder wieder seiner Beschäftigung nach, Fulk Ephrjuell nimmt seine Rechnungen, Mistreß Ephrjuell ihre Arbeiten wieder vor. Im Zuge ist keine Veränderung eingetreten – er führt jetzt nur zwei Eheleute mehr mit sich fort.
Der Major Noltitz, Pan Chao und ich, wir begeben uns nach der Plattform, um ein wenig zu rauchen, und lassen dabei Herrn und Frau Caterna bei ihren Vorbereitungen, die so aussehen, als hielten sie in ihrer Ecke eine Probe ab. Das bezieht sich jedenfalls auf die abendliche Ueberraschung.
Die Landschaft ist kaum verändert. Immer die eintönige Wüste von Gobi mit den Humboldt-Bergen zur Rechten, die mit den Bergzügen von Nan-Chan in Verbindung stehen. Stationen nur selten, und dann doch immer nur ein Haufen von Hütten, neben denen ein Bahnwärterhäuschen wie ein Palast[221] aussieht. Gelegentlich wird bei einem solchen Wasser und Kohle eingenommen. Jenseits des Kara-Nor, wo es wieder mehr Ortschaften giebt, wird sich die Nähe des eigentlichen volkreicheren und arbeitsamen China deutlicher bemerkbar machen.
Dieser Theil der Wüste von Gobi gleicht nur wenig den Gebieten des östlichen Turkestan, durch die wir von Kaschgar aus gekommen sind. Das Land hier ist Pan-Chao und dem Doctor Tio-King ebenso neu wie uns Europäern.
Der Seigneur Farusklar hält sich jetzt nicht mehr so hochmüthig von unsrer Gesellschaft zurück. Er ist ein liebenswürdiger, unterrichteter, geistreicher Mann, mit dem ich nach unsrer Ankunft in Peking noch näher Bekanntschaft zu machen hoffe. Er hat mich bereits eingeladen, ihn in seinem Yamen zu besuchen, und das wird mir Gelegenheit zu einem eingehenden Interview bieten. Er ist viel gereist und scheint für französische Journalisten eine besondre Vorliebe zu haben. Er wird sich auch nicht weigern, auf das »XX. Jahrhundert« – in Paris 48, in den Departements 56, im Auslande 76 Francs – zu abonniren.
Während der Zug mit voller Dampfkraft dahinbraust, plaudern wir von Dem und Jenem. Bezüglich Kaschgariens erbot sich, als dieses genannt wurde, der Seigneur Farnsklar unaufgefordert, uns interessante Aufschlüsse über diese Provinz zu geben, die durch wiederholte Aufstandsversuche so arg mitgenommen worden war. Es war zur Zeit, wo die Hauptstadt, während sie der chinesischen Begehrlichkeit Widerstand leistete, noch nicht unter russische Oberhoheit gekommen war. Wiederholt wurden damals hier eine Menge Chinesen bei Gelegenheit der Empörung turkestanischer Häuptlinge hingemordet, und die Garnison mußte sich nach der Festung von Yanghi-Hissar zurückziehen.
Unter diesen Insurgentenführern gab es einen, jenen Ugli-Khan-Tulla, den ich schon gelegentlich der Erdrosselung Schlagintweit's erwähnte, der sich zeitweilig zum Herrn über Kaschgarien emporschwang. Es war das ein sehr verständiger, daneben aber unglaublich grausamer Mann. Der Seigneur Farnsklar erzählte uns einen Zug von ihm, der eine Idee von dem gefühllosen Charakter dieser Orientalen giebt.
»In Kaschgar, berichtete er, wohnte ein Waffenschmied, der in dem Wunsche, sich die Gunst Ugli-Khan-Tulla's zu erwerben, ein kostbares Schwert anfertigte. Als dieses vollendet war, beauftragte er seinen Sohn, einen zehnjährigen Knaben.[222]
das Schwert zu überbringen, in der Hoffnung, das Kind werde aus seiner königlichen Hand eine reiche Belohnung erhalten. Es erhielt freilich eine. Nachdem der Wütherich das Schwert betrachtet, fragte er, ob die Klinge auch gut gehärtet sei. ›Ja,‹ antwortet das Kind. – ›Tritt näher heran,‹ befahl Ugli-Khan-Tulla, und mit einem Hieb schlug er dem Knaben den Kopf ab und sandte diesen dem Vater gleichzeitig mit der Bezahlung für das Schwert zu, das er von vorzüglichster Qualität gefunden habe.«
Wenn diese Ueberlieferung auch vollständig auf Wahrheit beruhte, so glaube ich doch nicht, daß Herr Caterna, im Fall er dieselbe mit angehört hätte, mich veranlaßt haben würde, sie als Unterlage für eine turkestanische Operette zu verwenden.
Der Tag ist ohne Zwischenfall verlaufen. Der Zug hat sich mit der sehr mäßigen Geschwindigkeit von vierzig Kilometern die Stunde fortbewegt – eine mittlere Schnelligkeit, die auf achtzig gesteigert worden wäre, wenn man dem Drängen des Baron Weißschnitzerdörser nachgegeben hätte. In der That bemühten sich die chinesischen Maschinenführer und Heizer nicht im Mindesten, die zwischen Tcherichen und Tcharkalyk verlorene Zeit wieder einzubringen.
Um sieben Uhr Abends kommen wir am Kara-Nor an, um hier fünfzig Minuten zu halten. Dieser dem Lob-Nor an Größe nachstehende See nimmt das Wasser des von den Nan-Chan-Bergen herabströmenden Sule-Ho auf. Wir erblicken mit großem Vergnügen das dichte Grün, das sein südliches Ufer, von zahlreichen Vögeln belebt, umrahmt. Um acht Uhr, beim Verlassen des Bahnhofs, ist die Sonne schon hinter den sandigen Dünen zur Rüste gegangen, doch eine Art durch die Erhitzung der untern Luftschichten erzeugte Spiegelung verlängert die Dämmerung noch oberhalb des Horizonts.
Kaum abgefahren, geht es schon zu Tische. Der Dining-car hat sein gewöhnliches Aussehen wieder angenommen, doch wird der Hochzeitsschmaus die tägliche Speisekarte ersetzen. Gegen zwanzig Theilnehmer sind zu dieser Eisenbahnschmauserei eingeladen; in erster Linie natürlich der Seigneur Farusklar. Aus einem oder dem andern Grunde hat dieser aber geglaubt, Fulk Ephrjuell für seine Zuvorkommenheit danken zu müssen.
Das bedaure ich, denn ich hoffte auf das Glück, einen Platz neben ihm zu erobern.
Da kommt mir der Gedanke, daß dieser berühmte Name es doch verdiente, der Direction des »XX. Jahrhundert« übermittelt zu werden – der[223] Name und wenige Zeilen bezüglich des Angriffs auf den Zug und des Verlaufs unsrer Abwehr.
Gewiß war es noch nie vorher eine Nachricht so wie diese werth, durch Telegramme verbreitet zu werden, und wenn sich das auch noch so theuer stellte. Diesesmal laufe ich nicht Gefahr, mir eine lange Nase zu holen. Hier ist kein Irrthum möglich, wie jener in Bezug auf den todten Mandarinen Yen-Lou, den ich leider auf dem Gewissen habe:
freilich, das war im Lande der falschen Smerdis, das mag mir zur Entschuldigung dienen.[224]
Also abgemacht! Beim Eintreffen in Su-Tcheu werd' ich, da die Telegraphenleitung bis dahin wieder hergestellt ist, eine Depesche aufgeben, die die Aufmerksamkeit Europas dem glänzenden Namen Farusklar zulenkt.
Jetzt sitzen wir bei Tafel Fulk Ephrjuell hat Alles nach Möglichkeit bestens eingerichtet. In Voraussicht dieser Festmahlzeit sind in Tcharkalyk die Speisevorräthe erneuert worden. Nun ist es nicht mehr die russische, sondern die chinesische Küche, die von einem chinesischen Koch geleitet wird, der wir die Ehre anthun sollen. Glücklicherweise brauchen wir nicht mit Stäbchen zu essen,[225] denn bei den Mahlzeiten auf der Groß-Transasiatischen Bahn sind die Gabeln geduldet geblieben.
Ich habe meinen Platz zur Linken der Mistreß Ephrjuell, der Major zur Rechten Fulk Ephrjuell's. Die andern Theilnehmer wählen ihre Plätze nach Belieben. Der deutsche Baron, der kein Feind eines guten Bissens ist, gehört auch zur Gesellschaft. Sir Francis Trevellyan allein hat die an ihn gerichtete Einladung nicht einmal durch ein stummes Zeichen beantwortet.
Zur Einleitung giebt es Hühnersuppe und Kibitzeier; dann Schwalbennester in langen schmalen Schnitten, Krabbenschwänze als Ragout, ferner Sperlingsköpfe, gebratene Schweinsfüße, Lämmermark, gedämpfte Seeblasen, sehr gelatinöse Haifischflossen, endlich Bambusschößlinge mit Sauce, Wasserlilienwurzeln in Zucker – lauter ganz unerhörte Gerichte, die mit Chao-Hing-Wein begossen wurden, den man hier übrigens aus Theekesseln ziemlich warm genießt.
Beim Feste geht es sehr lustig, ja man kann sagen, sehr vertraulich zu ... bis auf den Umstand, daß der neubackne Ehemann sich um seine Gattin – und diese umgekehrt – nicht im Geringsten bekümmerte.
Da ließ aber unser Lustigmacher die Zügel schießen! Er hört nicht auf mit seinen von Vielen gar nicht verstandenen Späßen, mit antediluvianischen Wortspielen, mit Sticheleien, über die er selbst so herzlich lacht, daß man unwillkürlich mitlachen muß. Er will einige Worte chinesisch lernen, und nachdem ihm Pan-Chao gesagt hat, daß »tching-tching« so viel wie »ich danke« bezeichnet, »tching-tchingt« er sofort in den drolligsten Tonarten.
Dann ertönen französische, russische und chinesische Lieder – unter andern der »Shiang-Tuo-Tching«, das Lied vom Traume, von dem der junge Himmlische uns versichert, daß »die Blumen des Pfirsichs im dritten Monde, die des rothen Granatbaums im fünften Monde am köstlichsten duften.«
Das Fest dauert bis um zehn Uhr an. Da treten der Komiker und die Soubrette, die Beide vor dem Dessert heimlich verschwunden waren, wieder ein; der Eine im Kutschermantel, die Andre im Aufputz eines Kindermädchens, und beide spielen die »Sonnettes« mit einem Feuer, einer Lust, einem Taumel, der seinesgleichen sucht. Wahrlich, es wäre nicht mehr als gerecht, wenn Claretie, auf die Empfehlung Meilhac's und Halevy's hin, Beide unter die Pensionäre der Comédie-Française aufnähme.
Gegen Mitternacht geht das Festgelage zu Ende. Jeder von uns hat sein Coupé wieder aufgesucht. Wir hören nicht einmal die Stationen abrufen, die vor[226] Lan-Tcheu kommen, und zwischen vier und fünf Uhr Morgens hält uns eine Rast von vierzig Minuten auf dem Bahnhofe dieses Orts zurück.
Jetzt wechselt das Land allmählich das Aussehen, sobald der Zug nämlich unter dem vierzigsten Grade der Breite dahinjagt, um den östlichen Fuß der Nan-Chan-Berge zu umkreisen. Die Wüste verschwindet nach und nach, Dörfer sind weniger selten und die Dichtigkeit der Bevölkerung nimmt schon zu. An Stelle der sandigen Ebenen treten grüne Flächen und selbst Reisfelder, denn von den benachbarten Bergen strömt reichlich Wasser auf diese hochliegenden Theile des Himmlischen Reiches. Nach der Trostlosigkeit Kara-Korums und der Einöde von Gobi beklagen wir uns nicht über diese Veränderung. Vom Caspisee her folgte immer nur ein Wüstenstrich dem andern, mit Ausnahme des Hochlandes von Pamir. Von nun an fehlen längs der Bahn bis Peking hin weder malerische Landschaften, noch bergige Horizonte und tiefe Thäler. Wir gelangen nach China, in das ureigentliche China mit den Schirmen und dem Porzellan, in das Gebiet der großen Provinz Kin-Su.
Nach drei Tagen wird unser Reiseziel erreicht sein, und ich, ein einfacher Journalberichterstatter, der viel umhergeworfen zu werden gewohnt ist, bin es gewiß nicht allein, der sich über die lange Dauer der Fahrt beklagt. Die Beendigung derselben ist gut für den in seinen Kasten eingeschlossenen Kinko und für die hübsche Zinca Klork, die sich zu Hause in der Cha-Chuastraße vor Ungeduld verzehrt. In Su-Tcheu machen wir zwei Stunden lang Halt. Meine erste Sorge ist es, nach dem Telegraphenamte zu laufen, der gefällige Pan-Chao wird mir als Dolmetscher dienen. Der Beamte unterrichtet uns, daß die unterbrochene Leitung wieder in Ordnung gebracht ist und die Depeschen also auf dem gewöhnlichen Wege befördert werden.
Sofort entsende ich an das »XX. Jahrhundert« ein Telegramm folgenden Inhalts:
»Su-Tcheu, 25. Mai, 2 Uhr 25.
Zug zwischen Tchertchen und Tcharkalyk durch Bande des be rüchtigten Ki-Tsang überfallen. Reisende haben Angriff zurückgeschlagen und chinesischen Schatz gerettet. Todte und Verwundete aus beiden Seiten; Anführer getödtet durch mongolischen Seigneur Faruskiar, einen der Verwaltungsräthe der Bahngesellschaft, dessen Name Gegenstand allgemeinster Bewunderung zu sein verdient!«.[227]
Wenn mir diese Depesche keine Belohnung von meinem Director einbringt ...
Zwei Stunden, um Su-Tcheu zu besuchen, an dem nicht viel ist.
Bisher haben wir in Turkestan stets nur je zwei aneinander geklebte Städte, eine alte und eine neue, zu Gesicht bekommen. In China sind, wie mich Pan-Chao belehrt, allemal zwei, drei oder sogar vier, wie bei Peking, ineinander geschachtelt.
Hier z.B. bildet Taï-Tcheu die äußere und Le-Tcheu die innere Stadt. Zuerst fällt uns davon auf, daß beide merkwürdig verlassen aussehen. Ueberall Spuren von Feuersbrünsten, da und dort halb zerstörte Pagoden und Wohnhäuser, eine Anhäufung von Trümmern, die nicht das Werk der Zeit, sondern das der Kriegsfurie verrathen. Es rührt das daher, daß Su-Tcheu, einmal von den Muselmanen erstürmt und dann wieder von den Chinesen zurückerobert, alle Schrecknisse jener wilden Kämpfe gekostet hat, die hier mit der Zerstörung aller Bauwerke und mit der Niedermetzelung der Bewohner jedes Alters und Geschlechtes zu enden pflegen.
Freilich ersetzt sich im Himmlischen Reiche die Bevölkerung sehr schnell, jedenfalls schneller als die Bauten aus ihren Ruinen wieder erstehen. Auch Su-Tchen ist innerhalb seiner doppelten Mauer wie in den anliegenden Vororten wieder recht volkreich geworden. Der Handel steht in voller Blüthe, und bei einem Gange durch die Hauptverkehrsstraße bemerkt man eine große Menge reich ausgestatteter Läden neben vielen wandernden Händlern, die ihre Waare feilbieten.
Hier sahen Herr und Frau Caterna auch zwischen den Einwohnern, die mehr aus Furcht als aus Ehrerbietung zur Seite wichen, einen Mandarinen zu Pferde vorüberkommen, dem ein Diener mit fransenverbrämtem Sonnenschirm, dem amtlichen Zeichen der Würde seines Herrn, voraustrabte.
Eine weitere Merkwürdigkeit verdient schon allein den Besuch von Su-Tcheu: hier endet nämlich die bekannte Große Mauer des Himmlischen Reiches.
Erst südöstlich nach Lan-Tcheu verlaufend, wendet sich diese Mauer darauf mehr nach Nordost und überzieht die Provinzen Kian-Su, Chan-si und Petchili bis nach dem Norden von Peking. Hier besteht sie nur aus einer Art Erdwall, der von einzelnen Thurmbauten überragt wird, an vielen Stellen aber längst verfallen ist. Ich hätte meinen Beruf als Berichterstatter zu verfehlen gefürchtet,[228] wenn ich nicht wenigstens den Anfang dieses Riesenwerkes begrüßte, das alle neueren Vertheidigungsanlagen so ungeheuer übertrifft.
»Hat denn diese Chinesische Mauer auch einen thatsächlichen Nutzen? ... so fragt mich Major Noltitz
– Ob für die Chinesen, weiß ich nicht, hab' ich geantwortet; jedenfalls aber für die politischen Redner, denen sie als beliebter Vergleich dient, wenn sie ein Langes und Breites über Handelsverträge sprechen. Was sollte ohne jene Mauer denn aus der legislativen Beredtsamkeit werden?«
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