Sechstes Capitel.

[60] Sitzt der Mensch zu Pferde, so unterscheiden sich seine Gedanken wesentlich von denen, die ihm kommen, wenn er zu Fuß ist; der Unterschied wird noch größer, wenn er mit der Eisenbahn fährt. Die Ideenverbindung, der Charakter der Schlußfolgerungen, die Aneinanderreihung der Thatsachen, die unter seinem Schädel vor sich geht, nehmen eine der des Zuges gleichkommende Schnelligkeit an. Es »rollt« ihm im Kopfe, wie er im Waggon dahinrollt. Ich empfinde gleichfalls eine besondere Geistesverfassung, die sich in einer Begierde, Alles zu beobachten, in dem Verlangen, mich zu unterrichten – und das mit der Geschwindigkeit von fünfzig Kilometer in der Stunde – ausspricht. Diese Kilometertaxe soll unser Zug durch Turkestan einhalten, um dann auf dreißig zurückzugehen, wenn er die Provinzen des Himmlischen Reiches durcheilt.

Das erfahre ich durch Nachschlagen in dem Fahrplan, den ich auf dem Bahnhofe gekauft hatte. Dem ist eine lange, mehrfach zusammengeschlagene Landkarte angeschlossen, die den ganzen Verlauf der Bahnlinie zwischen dem[60] Caspischen Meere und den Ostküsten von China vor Auge führt. Ich studire also nach der Abfahrt von Uzun-Ada meine Transasiatische Bahn ebenso, wie von Tiflis aus die Transgeorgische Strecke.

Das Gleis hat eine Breite von einem Meter sechzig zwischen den Schienen – die Spurweite aller russischen Bahnen, d.h. neun Centimeter mehr als alle übrigen europäischen Bahnen. Man erzählt sich, daß Deutschland schon eine ungeheure Menge Achsen von dieser Abmessung für den Fall habe herstellen lassen, daß es zu einem Einfall in Rußland genöthigt würde. Ich denke nur, die Russen werden nicht minder vorsichtig gewesen sein, wenn sie in die Lage kämen, die deutsche Grenze zu überschreiten.

An vielen Stellen erheben sich mächtige Dünen, durch die die Bahn von Uzun-Ada verläuft. Den Meeresarm, der die »Lange Insel« vom Festland trennt, überschreitet sie auf zwölfhundert Meter langem Damme, der durch soliden Steinunterbau gegen den Anprall der Wellen geschützt ist.

Wir haben bereits mehrere Stationen hinter uns, ohne anzuhalten, darunter Mikhaïlov, etwa eine Stunde von Uzun-Ada. Von hier ab liegen diese aber fünfzehn bis dreißig Kilometer auseinander. Diejenigen, die ich gesehen habe, zeigten das Aussehen von Villenbauten mit Ballustraden und italienischen Dächern.

Eine merkwürdige Erscheinung in Turkestan und in der Nachbarschaft von Persien. Die Wüste erstreckt sich bis in die Nähe von Uzun-Ada, und die Bahnstationen bilden ebensoviele, von der Hand des Menschen geschaffene Oasen. In der That ist der Mensch es gewesen, der hier die dürftigen, meergrünen Pappeln gepflanzt hat, denen jene Anlagen ein wenig Schatten verdanken; er hat mit großen Unkosten das frische Wasser hierhergeleitet, das in erquickendem Strahle in hübsche Sammelbehälter fällt. Ohne diese hydraulischen Arbeiten gäbe es keine Blumen, kein grünes Fleckchen in diesen Oasen. Sie sind die Nährquellen der Bahnlinie, und trockene Quellen können die Locomotiven nicht brauchen.

Ich habe wahrhaftig in meinem Leben nicht so nackte, dürre, jeden Pflanzenwuchs ausschließende Landstrecken gesehen, wie sie sich hier jenseits Uzun-Adas anscheinend über zweihundert Kilometer weit ausdehnen. Als der General Annenkof in Mikhaïlov seine Arbeiten begann, mußte er Wasser aus dem Caspisee destilliren lassen, wie man das an Bord der Oceandampfer mit dazu vorgesehenen Apparaten zu thun pflegt. Wenn es aber des Wassers bedarf, um[61] Dampf erzeugen zu können, so bedarf es auch noch der Kohle, um das Wasser zu verdampfen. Die Leser des »XX. Jahrhundert« werden sich wahrscheinlich fragen, wie es gelingt, die Maschinen in einem Lande zu heizen, wo es kein Stückchen Kohle zu schürfen, keinen Baumstamm zu fällen gibt. Man dürfte da annehmen, daß an den Hauptstationen der Transcaspischen Bahn große Vorräthe solcher Brennmaterialien aufgehäuft wären; doch auch das ist nicht der Fall. Man begnügt sich hier, einen Gedanken zu verwirklichen, den der große Chemiker Sainte-Claire Deville zur Zeit, wo man in Frankreich das Petroleum zu verwenden begann, bereits ausgesprochen hat.

Die Feuerkasten der Maschinen werden nämlich mit Hilfe eines Pulverisationsapparates mit den Rückständen gespeist, die die Reinigung der Naphta in Baku und Derbent in unerschöpflicher Menge liefert. An gewissen Punkten der Linie finden sich große Sammelbecken, die mit dem mineralischen Brennmaterial angefüllt sind, das man in die Tenderwandkasten entleert und das auf besonderen Rosten der Feuerbüchsen verbrannt wird. Es ist das dieselbe Naphta, die an Bord der Dampfer auf der Wolga und deren Zuflüssen Verwendung findet.

Daß die Landschaft hier keine reizvolle Abwechslung bietet, wird man mir ohne Versicherung glauben. Der in den sandigen Gegenden ziemlich flache Erdboden wird in den Alluvialgegenden, in denen ein salziges Wasser stagnirt, völlig horizontal. Dafür eignet er sich ganz besonders zur Anlage eines Schienenstranges. Hier gibt es keine Einschnitte, keine Viaducte, überhaupt keine »Kunstbauten«, um mich des Ausdrucks zu bedienen, der den Ingenieuren theuer ist und die auch meist selbst sehr »theuer« werden. Nur da und dort begegnet man manchmal einer zwei- bis dreihundert Schritte langen Holzbrücke. Unter solchen Verhältnissen ist es kein Wunder, daß die kilometrischen Kosten der Transcaspischen Bahn zweiundvierzigtausend Mark nicht übersteigen.

Die Einförmigkeit der Reise verspricht nur durch die großen Oasen von Merv, von Bukhara und von Samarkand unterbrochen zu werden.

Beschäftigen wir uns also mit den Passagieren, und das ist um so leichter, als man ja so bequem von einem Zugende zum andern gelangen kann. Mit einiger Einbildung könnte man sich in eine Art rollender Ortschaft versetzt glauben, deren Hauptstraße ich zu durchwandern im Begriffe wäre.

Ich erinnere mich nämlich daran, daß auf die Locomotive nebst Tender der Packwagen folgt, in dessen einer Ecke der geheimnißvolle Kasten steht, und[62] daß das Dienstcoupé Popof's die linke Seite der Plattform des ersten Waggons einnimmt.

Im Innern dieses Waggons bemerke ich verschiedene Sarthen von stolzem Aussehen, in der lebhaft gefärbten Landestracht, langen Röcken, unter denen die mit Schnüren besetzten Stiefeln hervorlugen. Sie haben schöne Augen, einen prächtigen Bart, gebogene Nasen, und man würde sie überhaupt für große Herrn halten, wüßte man nicht, daß das Wort »Sarthe« nur »Krämer, Trödler« bedeutet, und die Leute hier begeben sich gewiß nach Taschkend, wo es von solchen Trödlern wimmelt.

In demselben Waggon haben auch die beiden Chinesen Platz genommen und sitzen hier einander gegenüber. Der jüngere Sohn des Himmels blickt durch das Fenster hinaus. Der alte Zopfträger – ein Ta-lao-ye, das heißt ein bejahrter Mann – quält sich unablässig mit den Blättern seines Buches ab. Dieser Band in 32°, ähnlich einem Jahrbuch des »Längenbureaux«, ist mit plüschartigem Tuch, wie das Breviarium eines Chorherrn, überzogen und wird, wenn geschlossen, von einem Kautschukbande zusammengehalten. In Verwunderung setzt mich nur, daß der Besitzer genannten Schmökers nicht von rechts nach links zu lesen scheint. Sollte dasselbe nicht in chinesischer Schrift gedruckt sein? ... Das werd' ich noch festzustellen haben.

Auf zwei benachbarten Plätzen sitzen Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett. Sie plaudern, während Beide unablässig Ziffern niederschreiben. Ich weiß nicht, ob der praktische Amerikaner der praktischen Engländerin nicht den herrlichen Vers ins Ohr flüstert, der das Herz Lydias schneller schlagen machte:

Nec tecum possum vivere sine te!


Das Eine weiß ich dagegen bestimmt, daß Fulk Ephrjuell sehr wohl ohne mich leben kann. Ich bin sehr weise gewesen, auf seine Unterstützung zur Erhöhung des Vergnügens der Reise nicht zu rechnen. Dieser Teufel von Yankee hat mich im Austausch gegen die hagere und knochige Tochter Albions völlig an die Luft gesetzt.

Ich komme nach der Plattform, überschreite die Laufbrücke und stehe vor dem Eingang zum zweiten Waggon.

In der rechten Ecke zeigt sich hier der Baron Weißschnitzerdörser. Seine lange Nase – der Teutone ist kurzsichtig wie ein Maulwurf – streift die Zeilen des Buches, das er durchblättert; es ist das Buch mit den Fahrplänen. Der[63] ungeduldige Gast sieht nach, ob der Zug zur vorgeschriebenen Zeit auf den Stationen eintrifft. Wenn er sich verspätet, knurrt er von neuen Schadenansprüchen und Drohungen gegen die Transcaspische Bahngesellschaft.

Dieser Waggon befördert auch das Ehepaar Caterna, die sich's hier recht bequem gemacht hatten. In froher Laune schwatzt der Ehemann unter lebhaften Bewegungen, ergreift manchmal die Hand seiner Frau oder legt den Arm um ihre Taille; dann wendet er den Kopf oder erhebt ihn und flüstert ihr einige zärtliche Worte zu. Frau Caterna dagegen biegt sich nieder, macht ein verlegenes Gesicht, drückt sich mehr in die Ecke des Coupés und scheint ihrem Gatten mehr zu schmollen, als ihm zu antworten. Gerade als ich hinausgehe, höre ich noch einen Operettenrefrain, den Herr Caterna trällert.

Im Innern des dritten Waggons, der von mehreren Turkmenen und von drei oder vier Russen besetzt ist, bemerke ich den Major Noltitz. Er unterhält sich mit einem seiner Landsleute. Wenn sie mir Gelegenheit böten, würde ich mich gern in ihr Gespräch mischen. Es erscheint jedoch räthlicher, eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren; die Reise ist ja erst in ihrem Anfange.

Ich besuche nun den Restaurationswagen. Er ist um ein Drittel länger als die übrigen; hinten befindet sich an einer Seite eine Art Speisekammer, an der anderen eine Küche, in der der Koch und der Wirth, beide moskowitischer Abstammung, beschäftigt sind. Dieser Dining-car sieht recht zweckmäßig eingerichtet aus.

Nachdem ich ihn durchschritten, gelange ich zur zweiten Abtheilung des Zuges, in der die Passagiere zweiter Classe untergebracht sind. Kirghisen von wenig interessantem Aussehen, mit eingedrücktem Schädel, sehr hervorstehenden Kauwerkzeugen, kleinem Ziegenbart, platter Kosakennase und ziemlich brauner Haut. Diese armen Teufel von muselmanischer Religion gehören entweder der Großen Horde an, die längs der Grenze Sibiriens und Chinas umherzieht oder der Kleinen Horde, die zwischen den Uralbergen und dem Aralsee zerstreut ist.


Popof lächelt. (S. 68.)
Popof lächelt. (S. 68.)

Ein Wagen zweiter Classe, sogar ein solcher dritter, ist noch der reine Palast für diese an ihre Lager in der Steppe und die elenden Jurten der Dörfer gewöhnten Leute. Weder ihre Lagerstätten noch ihre Schemel können sich mit den Polsterbänken vergleichen, worauf sie mit völlig asiatischem Ernste sitzen.

Hier haben auch zwei oder drei Nogals, die sich nach dem östlichen Turkestan begeben, Platz genommen. Von höher stehender Rasse als die Kirghisen, nämlich[64] von tatarischer Abkunft, gehen aus ihnen die weisen Männer und die Lehrer hervor, die die reichen Städte Bukhara und Samarkand als Ort ihrer Thätigkeit bevorzugen. Doch die Wissenschaft und die Unterweisung in derselben sichern Einem nur mangelhaft die Existenz, selbst wenn man sich aufs Nöthigste beschränkt, auch hier in den centralen Provinzen Asiens. Deshalb suchen sich die Nogaïs vielfach als Dolmetscher nützlich zu machen. Seit der weiteren Ausbreitung der russischen Sprache lohnt jedoch auch das nicht mehr besonders.[65]

Jetzt kenne ich also den Ort meiner Nummern und weiß diese gegebenenfalls wieder zu finden. Was die Weiterfahrt bis nach Peking betrifft, so bin ich mir ebenso Fulk Ephrjuell's, wie der Miß Horatia Bluett, ebenso des deutschen Barons, wie der beiden Chinesen und des Majors Noltitz, ebenso des Ehepaars Caterna, wie auch des hochmüthigen Gentleman, dessen mächtiges Profil ich in einer Ecke des zweiten Waggons erblicke, sicher. Was die »Travellers« angeht, die die Grenze nicht mit überschreiten werden, so entbehren diese für mich jeder Bedeutung. Jedenfalls sehe ich aber unter meinen Reisengefährten noch immer nicht den Helden meiner zukünftigen Chronik .... Hoffen wir, daß er unterwegs erscheint.

Ich beabsichtige, mir Stunde für Stunde Notizen zu machen .... Was sag' ich, ich will meine Reise auf die Minute detailliren! Ehe es Nacht wird, begebe ich mich nach der andern Plattform, um noch einen Blick auf die umgebende Landschaft zu werfen. Eine Stunde Cigarre wird hinreichen, bis zum Bahnhof Kizil-Arwat zu gelangen, wo der Zug sich eine Zeit lang aufhalten soll.

Als ich von dem zweiten Wagen nach dem ersten hinübergehe, kreuze ich mich mit dem Major Noltitz. Ich trete achtungsvoll bei Seite. Er grüßt mich mit der Gewandtheit, die den Russen aus besseren Kreisen auszeichnet. Ich grüße natürlich wieder. Unsere Begegnung beschränkt sich zwar auf diesen Austausch von Höflichkeiten, doch der erste Schritt ist ja nun gethan.

Popof befindet sich jetzt nicht in seinem Coupé. Da die Thür des Packwagens offen steht, schließe ich, daß unser Zugführer zum Maschinenführer gegangen sein wird, um mit diesem zu sprechen. Links im Packwagen steht der geheimnißvolle Kasten. Da es erst um einhalbsieben Uhr ist, ist es noch zu hell, als daß ich wagen könnte, meine Neugier zu befriedigen.

Der Zug fliegt jetzt durch die reine Wüste, den Kara-Korum, die »Schwarze Wüste«. Diese erstreckt sich jenseits Khiva durch den ganzen Theil von Turkestan, zwischen der persischen Grenze und dem Laufe des Amu-Darja. In Wirklichkeit ist der Sand des Kara-Korum ebensowenig schwarz wie das Schwarze Meer schwarz, so wenig wie das Weiße Meer weiß, wie das Rothe Meer roth und der Gelbe Fluß gelb ist. In der Landschaft muß das Auge auf Farben achten. Ist die Geographie nicht auch Landschaft?

Es hat hier den Anschein, als ob diese Wüste ehemals von einem großen Centralbassin eingenommen gewesen wäre. Das ist ausgetrocknet, wie der Caspisee austrocknen wird, und diese gewaltige Verdunstung erklärt sich[66] durch die energische Wirkung der Sonnenstrahlen auf diesen Gebieten, die sich zwischen dem Ural und dem Hochplateau von Pamir ausdehnen.

Der Kara-Korum besteht aus sandigen Dünen mit eigenthümlicher Bewegung, die von den Hauptwinden immer weiter vorgeschoben werden. Die »Barkanen« – so nennen sie die Russen – wechseln in der Höhe von zehn bis dreißig Metern. Sie bieten den furchtbaren Nordstürmen breite Angriffsflächen und werden durch diese allmählich nach Süden verdrängt; man fürchtet deshalb ernstlich für die Sicherheit der Transcaspischen Bahn. Es handelt sich also darum, diese in wirksamer Weise zu schützen, und der General Annenkof wäre gewiß in arge Verlegenheit gekommen, wenn die vorsorgliche Natur, während sie ihm ein günstiges Terrain zur Anlegung des Schienenweges darbot, ihm nicht auch Mittel an die Hand gegeben hätte, der Ortsveränderung der Barkanen Halt zu gebieten.

Auf der Rückseite der Dünen wachsen nämlich vielfach stachliche Büsche, Gruppen von Tamarinden, Sterndisteln und jenes »Haloxylonamodendron«, den die Russen minder wissenschaftlich »Saksaul« nennen. Seine tiefreichenden, kräftigen Wurzeln sind besonders geeignet, den Boden festzuhalten, wie der »Hippophaerhamnoïdes«, ein Busch aus der Familie der Zwergweiden, der im Norden Europas zur Bindung des Sandes verwendet wird.

Den Anpflanzungen der Saksauls haben die Linieningenieure an verschiedenen Stellen noch eine Bekleidung von gemahlenem Thon und Lettig und längs der bedrohtesten Partien eine Palissadenlinie hinzugefügt.

Gewiß eine nützliche Vorsicht, doch wenn damit die Strecke geschützt ist, so sind es die Reisenden noch nicht, wenn der Sand wie Graupelkörner umherfliegt und der Wind die weiße Decke des Bodens, die sich durch Ausschwitzung bildet, loslöst und forttreibt.

Es ist ein Glück, daß wir jetzt nicht die Zeit der größten Hitze haben, und ich würde Niemand rathen, sich in den Monaten Juni bis Mitte August der Groß- Transasiatischen Bahn zu bedienen.

Ich bedaure lebhaft, daß der Major Noltitz kein Verlangen zu haben scheint, auf der Laufbrücke die frische Luft des Kara-Korum einzuathmen. Ich hätte ihm eine jener vorzüglichen Londres angeboten, mit denen meine Cigarrentasche überfüllt ist. Er hätte mir mitgetheilt, ob die Stationen, die der Fahrplan mir angiebt, Balla-Ischem, Aïdine, Pereval, Kansandjik und Uschak, interessante Punkte der Bahnlinie sind – was übrigens nicht der Fall sein[67] dürfte. Ich darf mir aber nicht erlauben, seine Siesta zu stören. Und wie unterhaltend wäre eine solche Plauderei gewesen, da sein Beruf als russischer Militärarzt ihm ja gestattet hat, den Feldzügen der Generale Skobeleff und Annenkof beizuwohnen. Wenn unser Zug dann durch die kleinen Stationen hinbrauste, die er nur im Vorüberfliegen mit einem Tone der Dampfpfeife begrüßt, hätte mich der Major darüber belehrt, ob dieser oder jener der Schauplatz kriegerischer Ereignisse gewesen war. Ich hätte mich in meiner Eigenschaft als Franzose berechtigt geglaubt, ihn über jenen Zug der Russen durch Turkestan zu fragen, und zweifle gar nicht, daß mein Reisegefährte sich beeilt haben würde, meine russenfreundliche Neugier zu befriedigen. In der That kann ich ja nur auf ihn oder auf Popof rechnen.

Warum mag sich denn auch Popof nicht in seinem Coupé befinden? Auch er würde ja gegen das Angebot einer guten Cigarre nicht unempfindlich gewesen sein. Mir scheint, seine Verhandlung mit dem Maschinenführer will gar kein Ende nehmen.

Da erscheint er auf dem Vorderrand des Packwagens, durchschreitet diesen, tritt daraus hervor, schließt dessen Thür wieder und verweilt einen Augenblick auf der Plattform; schon will er weiter gehen ... da streckt sich eine Hand, die eine Cigarre hält, gegen ihn aus. Popof lächelt, und bald mischen sich seine wohlduftenden Rauchwolken wollüstig mit den meinigen.

Es sind schon fünfzehn Jahre her, wie ich bereits erwähnt zu haben glaube, daß unser Zugführer sich im Dienste der Transcaspischen Gesellschaft befindet. Er kennt das Land bis zur chinesischen Grenze, und fünf- oder sechsmal hat er auch die große Strecke, die den Namen der Groß-Transasiatischen Bahn führt, mit befahren.

Popof begleitete also bereits die Züge der zuerst ausgeführten Abtheilung der Linie zwischen Mikhaïlov und Kizil-Arvat – deren Bau im December 1880 begann und die binnen zehn Monaten, im November 1881, vollendet wurde. Fünf Jahre später, am 14. Juli 1886, fuhr die erste Locomotive in Merv ein und acht Monate nachher begrüßte man sie in Samarkand. Heutzutage sind die Schienengleise Turkestans mit denen des Himmlischen Reiches vermischt, und dieses eiserne Band dehnt sich vom Caspisee bis nach Peking ohne Unterbrechung aus.

Als mir Popof diese Mittheilungen gemacht, fragte ich ihn, was er etwa von unseren Reisegefährten wisse – das heißt von denen, die bis nach China fahren, und vor Allem von dem Major Noltitz.[68]

»Der Major, erzählt Popof, hat lange Zeit in den Provinzen Turkestans gelebt, und wenn er sich jetzt nach Peking begiebt, so geschieht das, um dort ein Krankenhaus für unsere Landsleute einzurichten – natürlich mit Genehmigung des Czars.

– Er gefällt mir, dieser Major Noltitz, geb' ich zur Antwort, und ich hoffe, bald seine Bekanntschaft zu machen.

– Wie er nicht minder die Ihrige, versicherte Popos.

– Und kennen Sie auch die beiden Chinesen, die den Zug in Uzun-Ada bestiegen haben?

– Nein, Herr Bombarnae, ich weiß nur ihre Namen aus der Aufschrift der Gepäckkiste.

– Und diese sind, Popof?

– Der Jüngere heißt Pan-Chao, der Aeltere Tio-King. Wahrscheinlich sind sie mehrere Jahre in Europa umhergereist, doch bin ich außer Stande, zu sagen, woher sie jetzt kommen mögen. Ich glaube, der junge Pan-Chao muß der Sohn einer reichen Familie sein, denn er befindet sich in Begleitung seines Arztes.

– Jenes Tio-King? ...

– Ja, des Doctors Tio-King.

– Sprechen die Beiden nur chinesisch?

– Wahrscheinlich, ich habe sie wenigstens bis jetzt sich nie einer anderen Sprache bedienen hören ....«

Nach dieser Aufklärung durch Popof geb' ich die Nummer 9 dem jungen Pan-Chao und schreibe hinter die Nummer 10 den Namen des Doctors Tio-King.

»Was den Amerikaner betrifft ... fährt Popof fort.

– Fulk Ephrjuell, rufe ich, und die Engländerin Miß Horatia Bluett? ... O, über diese Beiden brauch' ich keine weitere Auskunft. Ich weiß, woran ich mit ihnen bin.

– Darf ich Ihnen verrathen, was ich von dem Paar denke, Herr Bombarnae?

– Legen Sie sich keinen Zwang auf, Popos.

– Nun, wenn die Leute in Peking eintreffen, dürfte sich Miß Bluett wohl in Mistreß Fulk Ephrjuell verwandeln ....

– Gott segne ihren Bund, Popof, die Beiden sind wirklich für einander geschaffen!«[69]

Ich sehe, daß wir, Popof und ich, über diese Frage derselben Meinung sind.

»Und jene beiden Franzosen ... das zärtliche Ehepaar, frage ich, wer sind diese?

– Das haben sie Ihnen noch nicht gesagt?

– Nein, Popos.

– Beruhigen Sie sich, die kommen schon noch allein, Herr Bombarnae. Doch wenn Sie es zu wissen wünschen, ihr Stand und ihr Beruf ist auf den Gepäcksstücken des Mannes und der Frau in deutlichen Buchstaben angegeben.

– Und das sind also?

– Schauspieler, die in China Vorstellungen geben wollen.«

Schauspieler? ... Das erklärt freilich das Auftreten und Mienenspiel, die Beweglichkeit des Gesichtes und die ausdrucksvollen Gesten des Herrn Caterna, doch seine seemännische Sprachweise erklärt es noch nicht.

»Und wissen Sie vielleicht auch, welchem Fache diese Künstler angehören? frage ich Popos.

– Der Mann ist jugendlicher Held und Komiker zugleich.

– Und die Frau?

– Erste Liebhaberin.

– Und wohin begiebt sich das lyrische Pärchen?

– Nach Shangai, wo Beide am Theater der französischen Niederlassung engagirt sind.«

Das trifft sich ja herrlich. Da kann ich über das Theater, über Coulissengeschichten und tausenderlei Anderes plaudern, und wie Popof sagt, wird ja die Bekanntschaft mit dem lustigen Komiker und der reizenden Liebhaberin bald zu Stande kommen. Doch auch in ihrer Gesellschaft finde ich schwerlich den romanhaften Helden, das Ziel meiner Wünsche.

Was den hochmüthigen Gentleman betrifft, so weiß unser Zugführer von ihm weiter nichts, als daß sein Reisegepäck folgende Aufschrift trägt: Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall, Trevellyanshire.

»Ein Herr, der nicht antwortet, wenn man ihn fragt!« setzt Popof hinzu.

Gut also, so erhält meine Nummer 8 eine stumme Rolle und jedenfalls mit Recht.

»Kommen wir auf den Deutschen, nehme ich wieder das Wort.

– Den Baron Weißschnitzerdörser?

– Der fährt mit bis Peking, glaub' ich?[70]

– Bis Peking und auch noch weiter, Herr Bombarnae.

– Noch weiter?

– Ja, er ist auf einer Reise um die Erde.

– Um die Erde?

– In neununddreißig Tagen.«

Nach der Mistreß Bisland also, die diese Fahrt in dreiundsiebzig Tagen vollendet hat, nach der Miß Nellie Bly, die dazu zweiundsiebzig brauchte, und nach Seiner Ehren dem Herrn Train, der sie in siebzig Tagen bewältigte, behauptet dieser Deutsche, mit neununddreißig auszukommen? ...

Freilich, die Verkehrsmittel sind jetzt wesentlich vervollkommnet, die Fahrlinie mehr gerade und unter Benützung der Groß-Transasiatischen Bahn, die Peking mit der Hauptstadt Preußens in Verbindung setzt, kann der Baron die frühere Reisedauer über Suez und Singapore wohl um die Hälfte abkürzen.

»Der kommt nimmermehr an! rufe ich.

– Und warum nicht? fragt Popos.

– Weil er sich stets verspätet. In Tiflis hat er schon den Zug beinahe versäumt und das Dampfboot in Baku war auch bereits im Abgehen, als er sich einstellte ....

– Aber in Uzun-Ada war er rechtzeitig auf dem Platze.

– Thut nichts, Popof; es sollte mich doch sehr wundern, wenn dieser Deutsche die Amerikaner und Amerikanerinnen im Wettlaufe der ›Globe-trotters‹ besiegte.«

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 60-71.
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