Sechstes Capitel.
Worin die vielfachen Vorkommnisse dieser Erzählung in der Stadt Palma ihre Fortsetzung finden.

[78] Wenn es ein Stück Erde giebt, das man gründlich kennen kann, ohne es je besucht zu haben, so ist es die herrliche Gruppe der Balearen. Gewiß verdient sie es, die Touristen anzulocken, die es nicht zu bedauern haben, von einer[78] Insel zur andern gefahren zu sein, selbst wenn die blauen Wellen des Mittelmeeres sich im Zorn auch einmal mit weißem Schaum bekränzen. Nach Majorca–Minorca, nach Minorca – das wilde Eiland Cabrera, die kleine Ziegeninsel. Und nach den Balearen, die die Hauptgruppe bilden, noch die unter dem Namen Pityusen bekannten Inseln Ivitza, Formentera und Conigliera mit ihren dunkeln Pinienwäldern.

Wirklich, nach dem, was über diese Oasen des Mittelmeers, wie für kein andres Land der Erde, geschrieben und gedruckt worden ist, hat man es gar nicht nöthig, sich außer Ordnung zu bringen, sein Haus zu verlassen und sich auf Reisen zu begeben, ist es unnütz, hinzugehen, um die den Touristen gerühmten Naturwunder aus eigner Anschauung kennen zu lernen. Man braucht nur eine Bibliothek aufzusuchen, vorausgesetzt, daß diese Bibliothek das Werk seiner Kaiserl. Hoheit des Erzherzogs Ludwig Salvator1 von Oesterreich über die Balearen besitzt. Es genügt, dessen eingehenden und verläßlichen Text zu durchlesen, die farbigen Stiche, Ansichten, Skizzen, Pläne und Karten desselben anzusehen, die diese Veröffentlichung zu einem Werke ohne Gleichen machen.

Es ist in der That eine unvergleichliche Arbeit in Hinblick auf die Schönheit der Ausführung, des geographischen, ethnographischen, statistischen und künstlerischen Werthes... leider ist das Meisterwerk aber nicht im Buchhandel.

Clovis Dardentor kannte es ebenso wenig, wie Marcel Lornans und Jean Taconnat. Da sie infolge des Aufenthalts des »Argeles« an der Hauptinsel der Gruppe gelandet waren, konnten sie wenigstens deren Hauptstadt besuchen, ins Herz des reizenden Palma eindringen und schöne Erinnerungen davon mit hinwegnehmen. Vielleicht würden sie freilich, wenn sie tief im Hafen die Dampfjacht »Nixe« des Erzherzogs Ludwig Salvator antrafen, diesen darum beneiden lernen, daß er seine Residenz auf der wunderbaren Insel aufgeschlagen hatte.

Eine Anzahl Passagiere ging sofort ans Land, als der Dampfer seine Haltetaue am Kai im künstlichen Hafen von Palma festgelegt hatte. Die Einen noch ganz erschöpft von dem Schwanken bei der, übrigens so ruhigen, Ueberfahrt – vorzüglich die Damen – sahen darin nur die Befriedigung, für einige Stunden festen Boden unter den Füßen zu fühlen.


Der Dampfer lief in die enge Wasserstraße von Friou ein. (S. 78.)
Der Dampfer lief in die enge Wasserstraße von Friou ein. (S. 78.)

Die Andern, die nicht krank geworden waren, gedachten sich den Aufenthalt zunutze zu machen, um die[79] Hauptstadt der Insel nebst deren Umgebung zu besuchen, wenn die Zeit zwischen zwei Uhr und acht Uhr abends das zuließ. Der »Argeles« sollte ja mit anbrechender Nacht wieder in See gehen, und im Interesse der Ausflügler war das Diner bis nach der Abfahrt verschoben worden.


 »Wir machen unsern Ausflug mit Ihnen.« (S. 82)
»Wir machen unsern Ausflug mit Ihnen.« (S. 82)

Daß sich unter diesen Clovis Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat befanden, ist wohl selbstverständlich. Ans Land gingen ebenfalls Herr[80] Oriental mit dem Fernrohr am Riemen und die Herren Désirandelle Vater und Sohn, die Frau Désirandelle in ihrer Cabine zurückließen, wo diese in erquickendem Schlummer lag.

»Ein guter Gedanke, alter Freund, sagte Clovis Dardentor zu Herrn Désirandelle. Einige Stunden in Palma werden Ihrer etwas mitgenommenen Maschine sehr wohl thun.... Welch schöne Gelegenheit, sich den Rost abzuputzen, wenn man so pedibus cum jambis durch die Stadt schlendert!... Sie schließen sich doch an uns an?[81]

– Ich danke, Dardentor, antwortete Herr Désirandelle, dessen Gesicht allmählich wieder etwas Farbe bekam. Es wäre mir unmöglich, Ihnen zu folgen, deshalb setz' ich mich lieber in ein Café, um Ihre Rückkehr abzuwarten.«

Das that er denn auch, wobei Agathokles an seiner linken und Herr Eustache Oriental nahe seiner rechten Seite dahingingen. Weder der Eine noch der Andre schien zum flotten Touristen geschaffen zu sein.

Patrice, der den Dampfer seinem Herrn auf dem Fuße verlassen hatte, fragte ihn mit ernster Stimme nach seinen Befehlen.

»Soll ich den Herrn begleiten?...

– Lieber zweimal als einmal, antwortete Clovis Dardentor. Möglicherweise sind' ich etwas nach meinem Geschmack, irgend eine Landeseigenthümlichkeit, und ich habe keine Lust, mich dann damit zu schleppen.«

Es kann in der That kein Fremder durch die Straßen von Palma wandern, ohne daß ihm irgend eine Thonwaare majorcanischen Ursprungs angeboten würde, eine der lebhaft gefärbten Fayencen, die den Vergleich mit chinesischem Porzellan aushalten, der merkwürdigen Majolicawaaren, die nach dem Namen der dadurch berühmt gewordnen Insel benannt werden.

»Wenn Sie gestatten, Herr Dardentor, ließ sich Jean Taconnat vernehmen, so machen wir unsern Ausflug mit Ihnen...

– Aber, Herr Taconnat, ich wollte Sie schon darum ersuchen, oder vielmehr bitten, daß Sie mich für die wenigen Stunden als Begleiter annehmen.«

Patrice fand diese Antwort passend stilisiert und billigte sie durch leises Nicken mit dem Kopfe. Er bezweifelte nicht, daß sein Herr in der Gesellschaft der beiden Pariser, die seiner Ansicht nach den besten Kreisen angehörten, nun gewinnen könne.

Während Clovis Dardentor und Jean Taconnat aber so einige Höflichkeiten austauschten, konnte sich Marcel Lornans, der ja errieth, welche Absichter sein einbildungsreicher Freund dabei verfolgte, eines Lächelns nicht enthalten.

»Nun ja! gestand dieser ein. Warum sollte sich nicht die ersehnte Gelegenheit bieten können?

– Richtig, richtig, Jean, die berühmte, vom Civilgesetzbuch vorgeschrieben Gelegenheit... Kampf, Feuer, Wasser...

– Wer weiß?...«

In die Fluthen zu gerathen oder von Flammen umzingelt zu werden davon war bei dem Spaziergange des Herrn Dardentor durch die Straße[82] der Stadt freilich nichts zu fürchten, so wenig wie ein Ueberfall bei ihrem Weg in der Umgebung, denn zum Unglück für Jean Taconnat gab es weder wilde Thiere noch Uebelthäter irgendwelcher Art auf den glücklichen Inseln der Balearen.

Jetzt war nun keine Zeit zu verlieren, wenn man die Stunden des Aufenthalts hier ausnützen wollte.

Bei der Einfahrt des »Argeles« in die Bai von Palma hätten die Passagiere drei Bauwerke sehen können, die die Häuser am Hafen überragten. Das waren die Kathedrale, ein dazu gehöriger Palast und zur Linken ein Gebäude von beträchtlicher Breite, dessen Thürmchen sich in den Wellen spiegelten. Ueber die weiße Fläche der bastionartigen Umfassungsmauer ragten mehrere Kirchthürme empor und bewegten sich die Flügel mehrerer Mühlen im Seewinde.

Wenn man ein Land nicht kennt, thut man am besten, seinen Baedeker zu Rathe zu ziehen, oder, im Fall, daß man dieses treffliche Büchlein nicht zur H and hat, sich einen lebenden Führer zu nehmen. Ein solcher war es, dem der Perpignaneser und seine Begleiter begegneten, und zwar einem etwa dreißigjährigen Manne von hohem Wuchs, anziehendem Benehmen und sanfter Physiognomie. Eine Art braunes Mäntelchen über der Schulter, an den Knien ausgebauschte Beinkleider und ein einfaches rothes Taschentuch, das um den Kopf und die Stirn geschlungen war, gaben ihm ein recht gutes Aussehen.

Um den Preis einiger Douros wurde zwischen dem Perpignaneser und diesem Majorcaner abgemacht, die Stadt zu Fuß zu durchwandern, die hervorragendsten Gebäude aufzusuchen und schließlich den Ausflug durch eine Wagenfahrt in der Umgebung zu vervollständigen.

Was Clovis Dardentor gleich von vornherein bestach, war der Umstand, daß dieser Führer recht gut französisch mit dem südländischen Accent sprach, der die Eingebornen der Umgebungen von Montpellier kennzeichnet. Zwischen Montpellier und Perpignan ist die Entfernung bekanntlich keine große.

Jetzt sind unsre drei Touristen also unterwegs und lauschen auf die Mittheilungen des auch zum Cicerone gewordenen Führers, der gern ebenso pomphafte, wie treffend schildernde Phrasen gebrauchte.

Der Archipel der Balearen ist es übrigens werth, daß man seine Geschichte kennt, die durch die Stimme seiner Bauwerke und Legenden so eindringlich erzählt wird. Was der Archipel jetzt ist, das deutet nicht an, was er einstmals war. In hoher Blüthe bis zum sechzehnten Jahrhundert, wenn auch nicht in[83] industrieller, so doch in commercieller Hinsicht. machten ihn die Leichtigkeit seiner Verbindungen mit den drei großen europäischen Ländern, Frankreich, Italien und Spanien, sowie die Nähe der afrikanischen Küste zum Hauptankerplatze der gesammten Handelsmarine. Unter der Regierung des Königs Don Jayme I., des Conquistador, gesegneten Andenkens, erreichte er seinen höchsten Glanz, Dank dem Genie seiner unternehmenden Rheder, zu denen die befähigtesten Mitglieder der vornehmen Welt von Majorca gehörten.

Jetzt beschränkt sich der Handel auf die Ausfuhr von Bodenerzeugnissen, wie Oele, Mandeln, Kapern, Citronen und Gemüse; die Industrie dagegen auf die Aufzucht von Schweinen, die nach Barcelona verschifft werden. Was die Orangen betrifft, so würde deren Erntebetrag, der geringer ist, als man meist annimmt, den Namen des Gartens der Hesperiden kaum rechtfertigen, den man den Balearischen Inseln noch immer zuzulegen liebt.

Was der Archipel aber nicht verloren hat, was Majorca, die größte Insel der Gruppe mit einer Oberfläche von dreitausendvierhundert Quadratkilometern und einer Bevölkerung von mehr als zweimalhunderttausend Seelen, nicht verlieren konnte, das war das herrliche Klima von unvergleichlicher Mildheit, die reine, heilsame, belebende Luft, die leuchtende Farbe des Himmels, die vielen Naturwunder und die prächtigen Landschaften, die einen andern, ihren mythologischen Namen, den der »Insel des Guten Geistes«, völlig rechtfertigen.

Während sie so um den Hafen hingingen, um nach dem Bauwerke zu gelangen, das gleich zuerst die Aufmerksamkeit der Passagiere erregt hatte, machte der Führer seinem Beruf als Cicerone alle Ehre, d. h. er entpuppte sich als ein wandelnder Geograph, als geschwätziger Papagei, der die Redewendungen seines Repertoires zum hundertsten Male wiederholte. Er erzählte, daß die bis auf ein Jahrhundert vor der christlichen Aera zurückreichende Gründung von Palma aus der Zeit datierte, wo die alten Römer die Insel nach langen Kämpfen mit den, wegen ihrer Gewandtheit in der Handhabung der Schleuder schon berühmten Einwohnern in Besitz genommen hatten.

Clovis Dardentor gab willig zu, daß der Name der Balearen von dieser Waffenübung, in der sich schon David ausgezeichnet hatte, herrühren möge, und auch daß den Kindern hier Speise und Trank verwehrt worden wäre, so lange sie nicht jeden Tag das Ziel mit einem Wurfe der Schleuder getroffen hatten. Als der Führer aber versicherte, daß die durch diesen primitiver Apparat geschleuderten Geschosse infolge ihrer ungeheuern Geschwindigkeit durch[84] die Reibung an der Luft geschmolzen wären, da warf er den beiden jungen Leuten einen vielsagenden Blick zu.

»Alle Wetter, murmelte er, dieser balearische Insulaner wagt es auch noch, uns foppen zu wollen!

– O... hier und anderwärts im Süden...!« antwortete Marcel Lornans.

Als authentisch nahmen sie dagegen die geschichtliche Ueberlieferung hin, daß der Karthager Hamilkar bei seiner Fahrt von Afrika nach Catalonien hier vor Anker ging und daß sein weltbekannter Sohn Hannibal hier das Licht der Welt erblickte.

Es als erwiesen hinzunehmen, daß auch die Familie Bonaparte von der Insel Majorca herstamme und hier seit dem fünfzehnten Jahrhundert ansässig gewesen sei, dessen weigerte sich Clovis Dartentor beharrlich. Von Corsica.. ja!... Von den Balearen?... Nimmermehr!

Wenn Palma, der Schauplatz zahlreicher Kämpfe war, zuerst, als es sich gegen die Schaaren Don Jayme's vertheidigte, dann in der Zeit, wo sich die bäuerlichen Besitzer gegen den sie durch Steuern aussaugenden Adel auflehnten, und endlich. als es sich der Corsaren aus den Barbareskenstaaten erwehren mußte, so sind diese Tage jetzt längst vorüber. Die Stadt erfreute sich gegenwärtig einer Ruhe, die Jean Taconnat jeder Hoffnung beraubte, seinem Vater in spe bei einem etwaigen Ueberfalle zu Hilfe zu springen.

Bei dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts verweilend, erzählte der Führer noch, daß der Bergbach Riena, durch einen außergewöhnlichen Wasserzufluß angeschwellt, den Tod von sechzehnhundertdreiunddreißig Personen herbeigeführt habe. Das veranlaßte Jean Taconnat zu der Frage:

»Wo fließt denn dieser Bergbach?

– Mitten durch die Stadt.

– Werden wir darüber hinweg gehen?

– Ja gewiß.

– Und führt er viel Wasser?...

– Nicht genug, um eine Maus darin zu ersäufen.

– Na, der ist ja wie für mich geschaffen!« raunte der arme junge Mann seinem Vetter ins Ohr.

Harmlos plaudernd besichtigten die drei Touristen die untere Stadt, indem sie den Kais, oder vielmehr den Terrassen nachgingen, die sich auf der bastionierten Umfassungsmauer längs des Meeres hinziehen.[85]

Einige Häuser hier zeigten die malerischen Formen der maurischen Architektur, was sich daraus erklärte, daß Mauren vierhundert Jahre lang auf der Insel wohnten. Durch die halboffnen Thüren erblickte man die innern Höfe, die Spatios mit den leichten Colonnaden, den traditionellen Ziehbrunnen mit seiner eleganten Eisenarmatur, die Treppe mit graziöser Windung, den mit blühenden Schlingpflanzen geschmückten Säulengang und die Fenster mit ihren steinernen Kreuzen von unnachahmlicher Zartheit.

Endlich kamen Clovis Dardentor und seine Begleiter vor einem, von vier achteckigen Thürmen flankierten Gebäude an, das zwischen dem Stile der Frührenaissance auch Spuren gothischer Baukunst aufwies.

»Was stellt denn dieser alte Steinklumpen vor?« fragte Herr Dardentor.

Wenn er nicht Patrice hätte ein wenig ärgern wollen, konnte er wohl einen etwas gewählteren Ausdruck anwenden.

Die »Fonda« war es, die alte Börse, ein prächtiges Bauwerk mit sauber verzierten Fenstern und künstlerisch ausgearbeitetem Karnieß, dessen Auszahnung dem Werkmeister jener Zeit alle Ehre machte.

»Wir wollen hier hineingehen,« schlug Marcel Lornans vor, der sich für alle archäologischen Curiositäten interessierte.

Sie durchschritten darauf eine Bogenwölbung, die ein mächtiger Mittelpfeiler theilte. Im Innern befand sich ein, wohl tausend Personen fassender Saal, dessen Decken von gewundnen, schwachen Säulen getragen wurde. Hier fehlte nur das Getöse des Verkehrs, der Lärm der Kaufleute, wovon er in glücklicheren Zeiten widerhallen mochte.

Unser Perpignaneser ließ diese Bemerkung fallen. Die Fonda selbst hätte er gern nach seiner Heimatstadt versetzt gesehen, wo er schon allein dafür gesorgt hätte, ihr das einstige Leben wieder zuzuführen.

Selbstverständlich bewunderte Patrice all die schönen Dinge mit dem Phlegma des reisenden Engländers, der auf den Führer den Eindruck eines gesetzten und zugeknöpften Gentleman machte.

Was Jean Taconnat betrifft, müssen wir zugestehen, daß ihm die abgeleierten Standreden des Cicerone nur ein sehr mittelmäßiges Interesse einflößten. Er war für die Schönheiten der edlen Kunst der Architektur zwar nicht unempfänglich, von einer fixen Idee erfüllt folgten seine Gedanken jedoch einer ganz andern Richtung und er bedauerte nur, daß in dieser Fonda nichts zu machen sei.[86]

Nach einem gezwungenermaßen kurzen Besuch wendete sich der Führer nach der Riena-Straße. Hier herrschte reges Leben. Die Männer, ausgezeichnet durch schönen Typus und elegante Haltung, trugen weite Beinkleider, einen Gürtel um die Taille und eine Weste aus Ziegenfell mit der Haarseite nach außen. Die sehr hübschen Frauen mit warmem Teint, tiefen schwarzen Augen und ausdrucksvollen Gesichtszügen erschienen in hellfarbigen Röcken mit kurzer Schürze und ausgeschnittnem Leibchen und mit entblößten Armen, während einzelne junge schlanke Mädchen auf dem Kopfe den »Rebosillo« trugen, der trotz seines nonnenhaften Zuschnitts doch den Reiz des Gesichts und die Lebhaftigkeit des Blicks nicht beeinträchtigt.

Jetzt war aber keine Zeit, Artigkeiten und Grüße auszutauschen, obwohl die Sprache der jungen Majorcanerinnen recht sanft, frisch und melodisch ist. Unsre Touristen eilten vielmehr an der Mauer des in der Nähe der Kathedrale errichteten Palacio Real hin, der von einer gewissen Seite, z. B. von der Bucht her, gesehen, mit dieser zu verschmelzen scheint.

Das Gebäude bildet eine sehr weitläufige Residenz mit viereckigen Thürmen und einem weiten, auf Wandpfeilern ruhenden Portal mit einem Engel aus der gothischen Epoche darüber, obgleich es in seiner übrigen hybridischen Ausführung jene Mischung von romanischem und maurischem Stil aufweist, der in der balearischen Baukunst so allgemein hervortritt. Einige hundert Schritte weiterhin erreichten die Ausflügler einen ziemlich geräumigen Platz von unregelmäßiger Grundform, auf den mehrere nach der Stadt hinausführende Straßen einmünden.

»Welcher Platz ist das? erkundigte sich Marcel Lornans.

– Der Platz Isabellas II., antwortete der Führer.

– Und jene breite Straße mit den schönen Häusern?

– Der Paseo del Borne.«

Es war das eine Straße von malerischem Aussehen infolge der verschiednen Façaden der Gebäude mit grün umrankten Fenstern, und der vielfarbigen Marquisen zum Schutz der vorspringenden Balcone, der Miradors mit bunten Scheiben, und da und dort verstreuten Bäume. Dieser Paseo del Borne führt nach dem länglichrunden Constitucion-Platze, an dem sich das Gebäude der Hacienda publica befindet.

»Gehen wir den Paseo del Borne hinauf? fragte Clovis Dardentor.

– Nein, doch auf dem Rückwege hinunter, antwortete der Führer. Jetzt begeben wir uns besser nach der Kathedrale, die von hier nicht weit entfernt ist.[87]

– Also nach der Kathedrale, entschied der Perpignaneser, und ich hätte heute nicht übel Lust, einen ihrer Thürme zu ersteigen, um einen Gesammtüberblick zu gewinnen.

– Da würde ich Ihnen, entgegnete der Führer, lieber anrathen, das Schloß von Bellver zu besuchen, das außerhalb der Stadt gelegen die ganze Umgebung überragt.

– Werden wir dazu Zeit genug haben? bemerkte Marcel Lornans.


Eine Art braunes Mäntelchen gab ihm ein recht gutes Aussehen. (S. 83.)
Eine Art braunes Mäntelchen gab ihm ein recht gutes Aussehen. (S. 83.)

Der »Argeles« fährt um acht Uhr ab...«[88]

Jean Taconnat hegte eine unbestimmte Hoffnung. Vielleicht bot eine Fahrt über Land die Gelegenheit, auf die er in den Straßen der Stadt vergeblich wartete.


Clovis Dardentor konnte hier einige Einkäufe machen (S. 93.)
Clovis Dardentor konnte hier einige Einkäufe machen (S. 93.)

»O, Sie haben übrig Zeit dazu, meine Herren, versicherte der Führer. Das Schloß von Bellver ist nicht weit und kein Reisender würde es sich verzeihen, aus Palma fortzugehen, ohne es besucht zu haben....

– Wie gelangen wir aber dorthin?...

– Mittels Wagen vom Jesusthore aus.

– Nun gut; zunächst also nach der Kathedrale,« sagte Marcel Lornans.

Der Führer schwenkte nach links ab und durch eine enge Straße, die Calle de la Seo, nach dem gleichnamigen Platze, auf dem sich die Kathedrale erhebt, die mit ihrer nördlichen Façade die Umfassungsmauer über der Calle de Mirador mächtig überragt.

Der Führer geleitete die Touristen zuerst nach dem »Portal des Meeres«.

Dieses Portal stammt aus der herrlichen Epoche, wo die gefällige Anordnung der Fenster und der Einsatzrosen schon auf die herannahenden Phantasien der Renaissance hindeutet. Statuen beleben die Seitennischen und das Giebelfeld zeigt zwischen Steinguirlanden sein gezeichnete biblische Scenen von köstlicher, naiver Composition.

Befindet man sich vor diesem Portale des Bauwerks, so glaubt man zuerst hindurch- und in dasselbe eintreten zu können. Clovis Dardentor wollte auch schon den einen Flügel öffnen, als der Führer ihn zurückhielt.

»Das Portal ist zugemauert, sagte er.

– Warum denn das?...

– Weil der Seewind hier oft mit solcher Gewalt eindrang, daß die Gläubigen sich schon unter dem Sturmeswüthen des Jüngsten Gerichtes im Thale Josaphat glauben konnten.«

Das war ein Satz, den er unabgeändert vor jedem Fremden wiederholte, ein Satz, auf den er sehr stolz war und der Patrice's Beifall fand.

Bei einem Rundgange um das 1601 vollendete Bauwerk konnte man dessen Aeußres, die beiden reich verzierten Thurmspitzen und die vielen ziemlich verwitterten Pinakeln bewundern, die sich auf jedem Strebepfeiler erhoben. Die Kathedrale kann im Ganzen getrost den Vergleich mit den schönsten andern der iberischen Halbinsel aushalten.

Die kleine Gesellschaft trat nun durch das Mittelportal an der Hauptfront ein.[91]

Die Kirche ist – wie alle in Spanien – im Innern sehr düster. Weder im Mittel- noch in den Nebenschiffen fand sich ein Stuhl vor, nur vereinzelte hölzerne Bänke standen umher. Nichts als die kalten Steinplatten, worauf die Gläubigen niederknien, was den kirchlichen Ceremonien einen eigenartigen Charakter verleiht.

Clovis Dardentor und die beiden jungen Leute durchschritten das Schiff zwischen der Doppelreihe von Säulen, deren prismatische Gräten nach dem Anfang der Deckenwölbung übergriffen. An dessen Ende blieben sie vor der königlichen Kapelle stehen, bewunderten ein prächtiges Altarblatt und erstiegen das Chor, das hier, abweichend vom Gebrauch, in der Mitte des Gebäudes angebracht ist.

Leider fehlte es ihnen an Zeit, die reichen Schätze der Kathedrale eingehender zu besichtigen, wie deren künstlerische Wunderdinge und die in Majorca gläubig verehrten heiligen Reliquien, vorzüglich das Skelett des Königs Don Jayme von Arragonien, das seit drei Jahrhunderten in seinem schwarzen Marmorsarkophage ruht.

Bei ihrer kurzen Anwesenheit hatten die Besucher kaum Zeit, ein stilles Gebet zu verrichten. Wenn Jean Taconnat aber für Clovis Dardentor gebetet hätte, wäre es jedenfalls nur unter der Bedingung geschehen, für diese Welt, in Erwartung der andern, der einzige Urheber seines Heils zu sein.

»Wohin gehen wir nun? fragte Marcel Lornans.

– Nach dem Ayuntamiento, antwortete der Führer.

– Durch welche Straße?

– Durch die Calle de Palacio«

Die Gesellschaft stieg hierauf die genannte Straße hinauf, die eine Länge von etwa dreihundert Metern – oder sechzehnhundert Palmos hat, um nach majorcanischem Maße zu rechnen. Die Straße mündet auf einen kleinern und weniger unregelmäßigen Platz als die Plaza Isabellas II. aus. Uebrigens findet man auf den Balearen überhaupt keine Städte, wo Winkelmaß und Richtschnur wie in den amerikanischen Städten regelmäßige Schachbrettfelder ausgeschnitten hätten.

Ob sich's wohl der Mühe lohnte, den Ayuntamiento, auch die Casa Consistorial genannt, zu besuchen? Gewiß; und kein Fremder würde in Palma verweilen, ohne ein Bauwerk bewundern zu wollen, das sein Urheber mit einer so hervorragenden Façade zu schmücken verstand. Diese zeigt nämlich zwei Thüren[92] zwischen je zwei Fenstern, durch die man nach dem Innern, nach der Tribüne, der reizvollen, in der Mitte angebrachten »Loggia« gelangt. Das erste Stockwerk zeigt sieben, nach einem Balcon zu gelegne Fenster. Der Balcon selbst zieht sich längs des ganzen Gebäudes hin. Das zweite Stockwerk ist durch eine Art vorspringendes Sennhüttendach geschützt und hat mit Rosetten geschmückte Steinwürfel, von denen jeder eine Karyatide trägt. Die Casa Consistorial wird übrigens für ein Meisterwerk italienischer Renaissance gehalten.

In der »Sala« mit den Bildern der einheimischen Notabilitäten – ohne eines vorzüglichen Heiligen Sebastians von Van Dyck zu erwähnen – hat die Regierung des Archipels ihren Sitz. Hier schreiten ernsten Gesichts und gemessnen Ganges die Stabträger in langen Talaren auf und ab. Hier werden die Beschlüsse gefaßt, die der Stadt durch die stolzen Tamboreros des Ayuntamientos kundgemacht werden, also durch öffentliche Ausrufer in überlieferter Tracht, deren Nähte mit rothen Passementen verziert sind, während sich ihr Vorgesetzter der Tamborero mayor. durch entsprechende goldne Verzierungen auszeichnet.

Clovis Dardentor hätte gern einige Douros geopfert. um diese Persönlichkeit, von der der Führer mit echt balearischer Eitelkeit sprach, in vollem Glanze bewundern zu können; genannte Persönlichkeit blieb aber unsichtbar.

Schon war von den sechs Stunden Aufenthalts die erste verstrichen. Sollte das Schloß von Bellver noch aufgesucht werden, so galt es zu eilen.

Durch ein Gewirr von Gassen und Durchgängen, worin sich Dädalus selbst mit dem Faden der Ariadne nicht zurechtgefunden hätte, brachte der Führer die Touristen von dem Cortplatze nach dem Mercadoplatze, und hundertfünfzig Meter weiterhin erreichten sie den Theaterplatz.

Clovis Dardentor konnte hier einige Einkäufe machen, ein Paar Majolicaarbeiten, wofür er einen recht anständigen Preis bezahlen mußte. Patrice, der beauftragt worden war, die suchen nach dem Dampfboot zu besorgen und in der Cabine seines Herrn gegen jede Verletzung gesichert unterzubringen, ging wieder nach dem Hafen hinunter.

Jenseit des Theaters bogen die Besucher auf einen breiten Weg, den Paseo de la Rambla, ein, der sie in einer Länge von dreitausend Metern nach der Plaza de Jesus brachte. Der Paseo ist von Kirchen und Klöstern eingefaßt, unter andern dem Kloster der Schwestern der heiligen Madeleine, das der Kaserne der Infanterie gegenüberliegt.[93]

Am Ende des Jesusplatzes befindet sich das gleichnamige Thor, das den bastionierten Mittelwall durchbricht, über den sich Telegraphendrähte hinziehen. Auf allen Seiten des Platzes stehen Häuser mit Sonnenzelten über den Balcons und mit grünlichen Persiennes vor den Fenstern. Zur Linken stehen auch einige Bäume, die diese Ecke des von der Nachmittagssonne begossnen Platzes schmücken.

Durch die weite Thoröffnung erblickt man die grünende Landschaft, durchschnitten von einer Straße, die sich nach dem Terreno hin senkt und dann zum Schlosse von Bellver führt.

Fußnoten

1 Ludwig Salvator von Oesterreich, Neffe des Kaisers und letzter Bruder Ferdinands IV., Großherzogs von Toscana, dessen Bruder, als er sich unter dem Namen Johann Orth dem Seewesen widmete, von einer Fahrt nach den Meeren Südamerikas nicht wieder zurückgekehrt ist.


Quelle:
Jules Verne: Clovis Dardentor. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 94.
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