[189] Wie lange sollten John Cort, Max Huber, Khamis und Llanga sich in diesem Dorfe wohl zurückgehalten sehen? – Sollte irgend ein Ereigniß in ihrer immerhin beunruhigenden Lage eine Aenderung herbeiführen?...Sie sahen sich so scharf überwacht, daß an eine Flucht kaum zu denken war... Doch selbst angenommen, daß es ihnen gelänge, zu entfliehen, wohin hätten sie sich inmitten[189] des undurchdringlichsten Theiles des großen Waldes wenden, wie dessen Ende erreichen oder das Bett des Rio Johausen wiederfinden sollen?
Trotz seiner Sehnsucht nach außergewöhnlichen Erlebnissen meinte Max Huber doch, daß die Sachlage, wenn sie in gleicher Weise fortbestand, ungemein an Reiz verliere. Er war denn auch der erste, dem die Geduld ausging und der jetzt nichts sehnlicher wünschte, als nach dem Becken des Ubanghi zu kommen und nach der Factorei in Libreville zurückzukehren, von der John Cort und ihm doch keinerlei Hilfe in Aussicht stand.
Der Foreloper zeterte über das Pech, das ihn den Tatzen – seiner Ansicht nach waren es eben Tatzen – dieses tief unten stehenden Waldmenschenvolkes zu geführt hatte. Er verheimlichte auch gar nicht die vollkommene Verachtung, die jene Geschöpfe ihm einflößten, während sie sich doch nicht wesentlich von den anderen in Centralafrika hausenden Stämmen unterschieden. Khamis empfand eine Art instinctive, unbewußte Eifersucht, die den beiden Freunden keineswegs entging. Jedenfalls aber verlangte es ihn ebenso wie Max Huber, Ngala den Rücken zu kehren, und was dazu zu thun nöthig wäre, das wollte er gerne thun.
Am wenigsten schien es John Cort eilig zu haben, denn ihn drängte es, sich über diese Urmenschen möglichst eingehend zu unterrichten. Zur Ergründung ihrer Sitten, ihrer Lebensweise, ihres ethnologischen Charakters und moralischen Werthes, sowie zu bestimmen, bis wie weit sie noch ins Thierreich hineinreichten, dafür hätten ja wenige Wochen genügt. Jetzt wußte freilich noch niemand, ob sich der unfreiwillige Aufenthalt bei den Wagddis nicht weit länger, auf Monate, vielleicht auf Jahre ausdehnen werde, und ebenso ungewiß war der endliche Ausgang dieses erstaunlichen Abenteuers.
Von einer schlechten Behandlung schienen John Cort, Max Huber und Khamis dagegen nicht bedroht zu sein; offenbar erkannten die Waldmenschen deren geistige Ueberlegenheit rückhaltlos an. Ferner – und das war eine kaum erklärliche Erscheinung – hatten sie sich über das Erscheinen wirklicher Menschen nie besonders verwundert gezeigt. Hätte die kleine Truppe aber ihre Flucht mit Gewalt durchsetzen wollen, so setzte sie sich damit sicherlich Fährlichkeiten aus, die besser vermieden wurden.
»Für uns ist es das wichtigste, sagte Max Huber, mit dem Vater Spiegel, dem Herrscher mit der Brille, zu verhandeln und ihn zu bestimmen, daß er uns freien Abzug gewährt.«[190]
Es konnte ja nicht unmöglich sein, eine Unterredung mit Seiner Majestät Mselo-Tala-Tala zu erlangen, wenn es Fremden nicht ausdrücklich verboten war, seine erhabene Person zu sehen. Doch wenn man auch bei ihm vorgelassen würde, wie sollte die Verhandlung geführt werden? Selbst in congolesischer Sprache wäre ja eine Verständigung ausgeschlossen gewesen. Der Erfolg einer solchen war dann noch ebenso unsicher. Es konnte ja im Interesse der Wagddis liegen, die Fremden überhaupt hier zurückzuhalten, um einer Enthüllung des Geheimnisses von dem Vorhandensein einer noch unbekannten Rasse vorzubeugen.
Wenn man John Cort glauben durfte, so waren der Gefangenschaft in dem Dorfe in den Lüften sogar mildernde Nebenumstände nachzurühmen, da die vergleichende Anthropologie daraus Nutzen ziehen und die gelehrte Welt die Auffindung einer neuen Rasse mit größter Verwunderung begrüßen mußte. Wie die Geschichte freilich enden möchte...
»Der Kuckuck soll mich holen, wenn ich das weiß!« rief Max Huber, der nicht das Zeug zu einem Garner oder Johausen in sich hatte.
Als die drei, und mit ihnen Llanga, ihre Hütte wieder betreten hatten, bemerkten sie darin einige recht anerkennenswerthe Veränderungen.
Erstens war daselbst ein Wagddi beschäftigt, das »Zimmer aufzuräumen«, wenn dieser Ausdruck hier am Platze ist. Schon vorher hatte John Cort beobachtet, daß den Eingebornen ein gewisser Sinn für Sauberkeit eigen war, der den meisten Thieren doch abgeht. Sie ordneten ihre Zimmer, doch auch ihre Toilette. Im Hintergrunde der Hütte lag jetzt eine reichliche Menge dürres Gras ausgebreitet. Da Khamis und seine Gefährten aber seit der Zerstörung der Karawane keine andere Lagerstatt gehabt hatten, änderte das nichts in ihren bisherigen Gewohnheiten.
Auf dem Fußboden standen verschiedene Gegenstände, zwar kein Möblement mit Tischen und Stühlen, wohl aber einige grobgearbeitete Geräthe, Töpfe und Schalen, wie sie die Wagddis herstellten. Hier lagen Früchte verschiedener Art, dort ein schon gekochtes Oryxviertel. Das rohe Fleisch von diesen wird nur von Raubthieren nicht verschmäht, außer den seltenen Fällen, wo man es bei sehr tiefstehenden Volksstämmen fast als ausschließliches Nahrungsmittel antrifft.
»Ja, wer einmal Feuer erzeugen kann, erklärte John Cort, der bedient sich seiner auch zum Kochen der Speisen. Ich wundere mich also gar nicht, daß auch die Waggdis das Fleisch in gekochtem Zustande genießen.«[191]
Die Hütte enthielt jetzt ferner einen, aus einem flachen Steine bestehenden Herd, von dem sich der emporwirbelnde Rauch in dem Gezweig eines Caulecedratbaumes verlor, das sich darüber ausbreitete.
Als die Vier im Eingange der Hütte erschienen, unterbrach der Wagddi seine Arbeit.
Es war ein junger Bursche von zwanzig Jahren mit flinken Bewegungen und intelligentem Gesicht. Er wies mit der Hand nach den hierher gebrachten Dingen. Darunter entdeckten Max Huber, John Cort und Khamis – selbstverständlich mit größter Befriedigung – auch ihre Gewehre, die zwar etwas verrostet, doch leicht wieder in Stand zu setzen waren.
»Sapperment, rief Max Huber, die kommen uns aber gelegen! Wenn es gilt...
– Würden wir davon Gebrauch machen, fuhr John Cort fort, wenn... ja, wenn wir auch unseren Patronenkasten hätten.
– O, der ist hier!« antwortete der Foreloper.
Er wies bei diesen Worten nach dem links von der Thür stehenden Metallkasten. Diesen Kasten sammt den Gewehren hatte Khamis, wie der Leser weiß, noch auf die Felsblöcke und so hoch hinauf geworfen, daß das Wasser die Gegenstände nicht erreichen konnte. Das geschah in dem Augenblicke, wo das Floß an die Barre stieß.
»Wenn sie uns die Gewehre zurückgegeben haben, bemerkte Max Huber, bleibt die Frage übrig, ob sie den Gebrauch von Feuerwaffen überhaupt kennen.
– Das weiß ich nicht, antwortete John Cort, sie aber wissen offenbar, daß man nicht behalten soll, was einem nicht gehört, und das spricht sehr zu Gunsten ihrer Moralität.«
Das zugegeben, erschien Max Huber seine aufgeworfene Frage doch von besonderer Wichtigkeit.
»Kollo... Kollo!«
Klar verständlich ertönte dieses Wort mehrere Male, und während der junge Wagddi es aussprach, hob er die Hand bis zur Stirn und berührte sich dann an der Brust, als wolle er sagen:
»Kollo... das bin ich!«
John Cort vermuthete, daß das der Name ihres neuen Dieners war, und als er diesen fünf- bis sechsmal wiederholt hatte, zeigte Kollo seine Freude darüber durch ein längeres Lachen.[192]
Ja, sie konnten auch lachen, diese Urmenschen, das war eine in anthropologischer Hinsicht wichtige Thatsache. Kein Wesen, außer dem Menschen, ist sonst dazu befähigt.
Beobachtet man bei den intelligentesten Geschöpfen, z. B. bei den Hunden, auch einige Andeutungen des Lachens oder Lächelns, so zeigen sich diese doch nur in den Augen und vielleicht in der Gestaltung der Lippen. Außerdem folgten die Wagddis auch nicht dem fast allen Vierfüßlern gemeinsamen Naturtriebe, ihre Nahrung zu beschnüffeln, ehe sie sie kosteten, und dann davon zuerst zu verzehren, was ihnen am besten mundete.[193]
Das Leben der beiden Freunde, wie das Llangas und des Forelopers, gestaltete sich nun in folgender Weise: Die Hütte war kein Gefängniß. Sie konnten sie nach Belieben verlassen; doch Ngala überhaupt zu verlassen, daran würden sie jedenfalls gehindert sein, so lange sie von Seiner Majestät Mselo-Tala-Tala dazu keine Erlaubniß erhalten hatten.
Sie sahen sich also, wenigstens vorläufig, gezwungen, ihren Aerger zu verschlucken und sich's gefallen zu lassen, inmitten dieser merkwürdigen Waldwelt in dem Dorfe in den Lüften zu leben.
Die Wagddis schienen übrigens sanfter, wenig zänkischer Natur zu sein, und waren, darauf ist besonderes Gewicht zu legen, weniger neugierig und weniger überrascht von der Erscheinung von Fremdlingen, als es bei den tiefststehenden Wilden Afrikas und Australiens der Fall gewesen wäre. Der Anblick der beiden Weißen und der beiden Congolesen verwunderte sie nicht so sehr, wie er jeden andern Eingebornen Afrikas verwundert hätte. Die Sache ließ sie offenbar gleichgiltig, und von Zudringlichkeit war bei ihnen keine Spur. Hier zeigte sich nichts von Maulaffenfeilhalten oder von albernem Vornehmthun. Was die Akrobatik anging, nämlich ein Erklettern der Bäume, ein Hinüberspringen von einem Aste zum anderen, oder ein Hinuntergleiten längs der Treppenleiter von Ngala, hätten sie einem Billy Hayden, einem Joë Bibb und einem Fottit, den damals unerreichten Meistern der Circus-Akrobatik, leicht die Stange halten können.
Neben ihren hoch entwickelten physischen Eigenschaften zeichneten sich die Wagddis auch durch einen ungemein scharfen Gesichtssinn aus. Bei der Jagd auf Vögel erlegten sie diese mit kleinen Pfeilen. Auch ihre Schläge führten sie mit größter Sicherheit, wenn sie Damwild, Elenthiere, Antilopen und sogar Büffel und Flußpferde im Hochwalde verfolgten. Dabei hätte sie Max Huber gar zu gern begleitet, ebenso in der Absicht, ihre Geschicklichkeit als Jäger zu bewundern, wie um sich bei passender Gelegenheit aus dem Staube zu machen.
Ja, entfliehen... das war's, woran die Gefangenen unausgesetzt dachten. Eine Flucht war aber nur über die einzige Leitertreppe ausführbar, und diese war an ihrem obersten Absatz von Kriegern besetzt, deren Wachsamkeit schwerlich getäuscht werden konnte.
Wiederholt stieg in Max Huber der Wunsch auf, einige von den Vögeln zu schießen, die – es waren Su-mangas, Ziegenmelker, Perlhühner, Wiedehopfe, Griots und andere – in Scharen unter den Bäumen umherflatterten und den[194] Waldmenschen vielfach als Nahrung dienten. Seine Gefährten und er wurden aber Tag für Tag mit Wildpret versorgt, meist mit dem Fleische von verschiedenen Antilopen, von Oryx, Inyalas, Sassabys und Wasserböcken, die im Walde von Ubanghi zahlreich vorkamen. Ihr Diener Kollo ließ es an nichts fehlen; er erneuerte täglich den Vorrath an frischem Wasser, der für die Zubereitung der Speisen erforderlich war, und auch den an trockenem Holze zur Unterhaltung des Feuers.
Wurden die Gewehre übrigens zu Jagdzwecken verwendet, so wäre das mit dem mißlichen Umstande verknüpft gewesen, daß damit ihre Wirkung verrathen wurde. Jedenfalls erschien es aber rathsamer, diese geheim zu halten und die Waffen erst im Nothfall zur Abwehr oder zum Angriff zu benutzen.
Die Fremdlinge wurden reichlich mit Fleisch versorgt, weil sich auch die Wagddis mit solchem, das entweder über glühenden Kohlen geröstet oder in den von ihnen selbst angefertigten irdenen Gefäßen gekocht war, in der Hauptsache ernährten. Die Zubereitung der Speisen ließ sich, mit Unterstützung durch Llanga, Kollo eifrig angelegen sein – Khamis betheiligte sich dabei nicht, sein Stolz als Eingeborner hätte das niemals zugelassen.
Hier muß noch erwähnt werden, daß es – zur großen Befriedigung Max Huber's – auch an Salz nicht fehlte. Das war jedoch nicht das Natriumchlorür, das im Meerwasser enthalten ist, sondern das in Afrika, Asien und Amerika so weitverbreitete Steinsalz, das den Erdboden in der Umgebung von Ngala an vielen Stellen bedeckte. Den Nutzen dieses Minerals, des einzigen, das im Naturzustande genossen wird, hatten die Wagddis – so gut wie sogar die Thiere – rein aus Instinct erkannt.
John Cort interessierte sich nebenbei auch lebhaft für die Frage, wie diese Urmenschen sich wohl Feuer erzeugen möchten, und ob sie das mittels Reibung eines harten Holzstückes auf einem weichen nach der bei den Wilden gewöhnlichen Art erreichten. Das war jedoch nicht der Fall; sie bedienten sich dazu vielmehr zweier Feuersteine, die beim Aneinanderschlagen Funken gaben. Diese Funken genügten zur Entzündung des Flaumes der Frucht eines »Rentenier« genannten Baumes, den man in den afrikanischen Wäldern häufig antrifft, und von dem gewisse Theile unseren Zündschwamm vollkommen ersetzen.
Zu der stickstoffhaltigen Nahrung trat bei den wagddiischen Familien als stickstofflose eine pflanzliche Nahrung, die ihnen die Natur gleich fertig lieferte. Sie bestand einerseits aus zwei bis drei Arten eßbarer Wurzeln und andererseits[195] aus vielerlei Früchten, z. B. denen der Acacia adonsonia, die den ihr mit Recht zukommenden Namen Brod- oder Affenbrodbaum führt, ferner denen der Karitas, deren kastanienähnliche Frucht eine fettige Masse enthält, die einigermaßen als Ersatz für Butter dienen kann, sowie denen der Kijelia mit etwas fade schmeckenden, doch sehr nahrhaften und außerordentlich – gut zwei Fuß – langen Beeren; endlich aus anderen Früchten, wie Bananen, Feigen, Mangofrüchten in rohem Zustande und aus den vortrefflichen Früchten des Tso, woneben man sich der Tamarindenschoten an Stelle eines Gewürzes bediente. Die Wagddis sammelten aber auch Honig ein und ließen sich beim Aufsuchen der Bienenwohnungen vom Rufe des Kuckucks leiten. Aus diesem köstlichen Süßstoffe und aus dem Safte anderer Pflanzen, z. B. dem aus einer gewissen Liane gewonnenen Lutex, verstanden sie, unter Zusatz von Wasser aus dem Rio, gegohrene Getränke mit hohem Alkoholgehalt zu bereiten. Das ist ja kaum zum verwundern, wenn man bedenkt, daß sogar die afrikanischen Mandrills, die doch nur Affen sind, eine große Vorliebe für Alkohol verrathen.
Zu dem allen lieferte noch ein unterhalb Ngalas sich hinschlängelnder, fischreicher Wasserlauf dieselben Arten von Fischen, die Khamis und seine Gefährten im Rio Johausen gefunden hatten. Für den Fall eines Fluchtversuches war es nur von Bedeutung, zu wissen, ob jener Wasserlauf befahrbar war und ob die Wagddis sich dazu irgendwelcher Boote bedienten.
Von dem der Königswohnung entgegengesetzten Ende des Dorfes aus konnte man den Fluß sehen. Stellte man sich dort nahe an die letzten Bäume, so erkannte man, daß sein Bett dreißig bis vierzig Fuß Breite hatte. Weiterhin verlor er sich unter prächtigen Baumriesen, wie fünfschächtigen Baumwollbäumen, wunderbar schönen Mparamusis mit knotigen, herabhängenden Zweigflechten und unter herrlichen Msukulios, deren Stamm mit riesigen Lianen umwunden war, mit diesen Epiphyten, die ihn schlangengleich umrankten.
Es zeigte sich da, daß die Wagddis Wasserfahrzeuge herzustellen verstanden, eine Kunst, die ja auch den niedrigst stehenden Bewohnern Oceaniens nicht fremd ist. Ihre schwimmenden Fahrzeuge waren mehr als ein Floß, doch weniger als eine Pirogue, denn sie bestanden aus einem mit der Axt und mittels Feuers ausgehöhlten Baumstamme. Diese wurden mit einer Art flacher Schaufel fortgetrieben oder bei günstigem Winde auch durch ein zwischen zwei Stangen ausgespanntes Segel, das aus der Rinde des sehr harten Eisenbaumholzes hergestellt war, die man durch geeignetes Beklopfen geschmeidig gemacht hatte.[196]
John Cort konnte sich überzeugen, daß diese Urmenschen für ihre Ernährung keine Gemüse- oder Getreidearten verwendeten. Sie bauten weder Sorgho, noch Hirse, Reis oder Manioc an, wie das sonst die Völkerschaften Centralafrikas thun.
Man durfte von diesen Leuten bezüglich des Ackerbaues ja auch nicht erwarten, was man bei den zu den wirklichen Menschen zählenden Denkas, Funds und Monbullus sehen konnte.
Nach diesen Beobachtungen bemühte sich John Cort noch zu ergründen, ob die Wagddis eine gewisse Moral oder etwas wie eine Religion besäßen.
Eines Tages fragte ihn Max Huber, was er denn in dieser Beziehung gefunden habe.
»Nun, eine gewisse Moralität, wenigstens ein Sinn für Rechtschaffenheit, ist bei ihnen vorhanden. Sie unterscheiden wohl mit Sicherheit Gutes und Böses. Sie kennen auch den Begriff des Eigenthums. Ich weiß wohl, vielen Thieren fehlt dieser auch nicht, z. B. den Hunden, die sich nicht gern stören lassen, wenn sie ihr Futter verzehren. Meiner Ansicht nach haben die Wagddis einen deutlichen Begriff von Mein und Dein. Das habe ich gelegentlich an einem von ihnen beobachtet, der sich aus einer Hütte, in die er eingedrungen war, mehrere Früchte geholt hatte.
– Nun, rief man da nach der Polizei oder gleich nach dem Kriminalgerichte? fragte Max Huber.
– Lacht nur, liebe Freunde, doch was ich sage, ist in diesem Falle kennzeichnend: der Dieb wurde von dem Bestohlenen, dem seine Nachbarn willig beisprangen, tüchtig durchgeprügelt. Ich möchte hier noch hinzufügen, daß bei diesen Urgeschöpfen noch eine Einrichtung vorkommt, die sie der Menschheit weiter nähert...
– Und das wäre?
– Die des Familienstandes, dem man überall bei ihnen begegnet, die Lebensgemeinschaft von Vater und Mutter, die Sorge für die Kinder, und die gegenseitige Liebe, die alle verbindet. Haben wir das nicht schon bei Lo-Maï sehen können? Die Wagddis sind selbst für rein menschliche Seeleneindrücke empfänglich. Achtet nur auf unseren Kollo... erröthet der nicht zuweilen aus irgend welcher Ursache? Ob das aus Scham oder Furchtsamkeit, aus Bescheidenheit oder Verwirrung geschieht, denn das sind die vier Veranlassungen, die dem Menschen das Blut ins Gesicht treiben, ist ja gleichgiltig, doch unbestreitbar[197] bringt irgend etwas diese Wirkung bei ihm hervor. Wo aber eine Empfindung ist, da ist auch eine Seele.
– Wenn die Wagddis aber, ließ sich Max Huber vernehmen, so viele menschliche Eigenschaften zeigen, warum soll man sie dann nicht als wirkliche Menschen anerkennen?
– Weil ihnen doch noch eine Vorstellung fehlt, die sonst allen Menschen eigen ist, mein lieber Max.
– Welche hast Du da im Sinne?
– Die von einem höchsten Wesen, kurz, die Religiosität, die sich selbst bei den wildesten Volksstämmen findet. Ich habe noch nicht beobachten können, daß sie irgendwelche Gottheiten anbeten, habe hier auch noch keine Götzenbilder oder Priester gesehen.
– Wenn ihr höchstes Wesen, meinte Max Huber, nicht gerade jener König Mselo-Tala-Tala ist, von dem sie uns nicht einmal die Nasenspitze zu sehen erlauben!«
Hier wäre übrigens Gelegenheit zu einem ausschlaggebenden Versuche gewesen, zu der Probe, ob diese Urmenschen unempfindlich wären gegen die giftige Wirkung des Atropins, der jeder Mensch unterliegt, während die Thiere sie ohne Nachtheil vertragen. Wenn ja, so waren es Menschen, wenn nein, so waren es Thiere. Wegen Mangels an diesem Giftstoffe konnte der Versuch leider nicht angestellt werden. Beiläufig sei ferner erwähnt, daß während des Aufenthaltes John Cort's und Max Huber's in Ngala kein einziger Todesfall vorkam. Es blieb also ungewiß, ob die Wagddis ihre Todten verbrannten oder beerdigten, ebenso ob sie eine Art Todtenverehrung kannten oder nicht.
Begegnete man unter der wagddiischen Bevölkerung auch keinen Priestern oder Zauberern, so sah man doch eine Anzahl mit Pfeil und Bogen, mit Spießen und Aexten ausgerüstete Krieger... vielleicht hundert Mann, die aus den kräftigsten und bestgewachsenen Leuten ausgewählt waren. Unklar blieb, ob diese nur als Leibwache für den König oder auch für den Angriff oder die Abwehr Verwendung fanden. In dem großen Walde konnten ja noch andere Dörfer gleicher Art und gleichen Ursprunges liegen, und wenn deren Einwohner nach Tausenden zählten, warum sollten sie, wie die übrigen Völker Afrikas, sich nicht gegenseitig bekriegt haben?
Daß die Wagddis schon mit den Eingebornen von Ubanghi, Baghirmi, vom Sudan oder mit Congolesen in Berührung gekommen wären, ließ sich kaum[198] annehmen, und dasselbe dürfte wohl auch bezüglich des Zwergvolkes, der Bambusti, gelten, die der englische Missionär Albert Lloyd in den Wäldern Centralafrikas entdeckt und als fleißige Ackerbauer erkannt hatte, was auch Stanley in dem Berichte über seine letzte Reise hervorhebt. Hätte eine solche Berührung stattgefunden, so wäre das Vorkommen dieser Waldmenschen schon lange bekannt geworden und es John Cort und Max Huber nicht vorbehalten gewesen, sie zu entdecken.
»Doch, bemerkte der zweite, wenn die Wagddis einander tödten, liebster John, so würde sie das auch zum Range der eigentlichen Menschen erheben!«
Uebrigens erschien es kaum annehmbar, daß die Wagddikrieger nur einem nutzlosen Müßiggehen fröhnten, und daß sie nicht in der Umgebung gelegentlich eine Razzia ausführten. Nach zwei- bis dreitägiger Abwesenheit tauchten sie nämlich einmal plötzlich wieder auf, und da waren einzelne davon verwundet und andere brachten verschiedene Dinge, Geräthe oder Waffen, wagddiischen Ursprungs mit.
Mehrmals, doch immer vergeblich, wagte der Foreloper den Versuch, aus dem Dorfe zu entkommen. Die Kriegsleute, die die Treppe besetzt hielten, wiesen ihn dabei mit einiger Gewalt zurück. Einmal wäre Khamis sogar gehörig mißhandelt worden, wenn ihm Lo-Maï, den der Auftritt herbeigelockt hatte, nicht schnell zu Hilfe gekommen wäre.
Bei dieser Gelegenheit kam es übrigens zu einem hitzigen Wortwechsel zwischen Lo-Maï und einem kräftigen Burschen, der Raggi genannt wurde. Nach dem Fellüberwurf, den er trug, nach den Waffen, die an seinem Gürtel hingen, und nach den Federn, die seinen Kopf schmückten, ließ sich vermuthen, daß er der Anführer der Krieger sei. Schon sein grimmiger Gesichtsausdruck, seine befehlerischen Bewegungen und seine natürliche Derbheit ließen ihn zum Befehlshaber geschaffen erscheinen.
Als Folge dieser Fluchtversuche hatten die beiden Freunde erwartet, daß sie nun Seiner Majestät vorgeführt werden würden und sie endlich diesen König zu sehen bekämen, den seine Unterthanen so eifersuchtig in der königlichen Wohnung verborgen hielten. Ihre Hoffnung sollte getäuscht werden. Offenbar war Raggi mit weitestgehender Vollmacht ausgestattet, und es schien rathsamer, ihn nicht durch Wiederholung solcher Versuche zu reizen. Die Aussichten auf ein Entkommen waren also sehr beschränkt, wenn nicht etwa die Wagddis beim Angriffe auf ein Nachbardorf selbst angegriffen wurden, denn dann konnte es ja bei einem feindlichen[199] Einfalle möglich werden, Ngala unbemerkt zu verlassen. Doch nachher... was dann?...
Das Dorf wurde jedoch in den ersten Wochen in keiner Weise bedroht, außer durch gewisse Thiere, die Khamis und seinen Gefährten in dem großen Walde noch nicht vor Augen gekommen waren. Wenn die Wagddis in der Hauptsache auch in Ngala lebten oder wenigstens für die Nacht hierher zurückkehrten, so besaßen sie doch einige Hütten am Ufer des Rio. Man hätte fast von einem kleinen Flußhafen, dem Anlegeplatz für die Fischerfahrzeuge, reden[200] können, und diese Fahrzeuge hatten sie nicht selten gegen Flußpferde, Manatis und die in den afrikanischen Gewässern so häufigen Krokodile zu vertheidigen.
Eines Tages, es war am 9. April, erhob sich da ein lauter Lärm; wüstes Geschrei schallte vom Rio heraus. Handelte es sich um einen Angriff, den Wesen ihresgleichen gegen die Wagddis unternahmen? Dank seiner Lage war das Dorf ja gegen einen plötzlichen Ueberfall gesichert. Bedachte man aber, daß vielleicht an die das Bauwerk tragenden Stämme Feuer gelegt würde, so mußte dessen Zerstörung das Werk weniger Stunden sein. Es war ja nicht unmöglich,[201] daß die Urmenschen gegen ihre Nachbarn zu diesem Mittel gegriffen hätten, und daß diese es jetzt versuchten, es gegen sie anzuwenden.
Auf die ersten Schreie hin stürmten Raggi und etwa dreißig Krieger nach der Treppe hin, die sie mit affenartiger Geschwindigkeit hinunterkletterten. Von Lo-Maï geführt, kamen John Cort, Max Huber und Khamis nach der Stelle, von der aus der Wasserlauf zu überblicken war.
Es handelte sich wirklich um einen Ueberfall der am Flusse stehenden Hütten. Eine ganze Herde, nicht von Flußpferden, sondern von Cheropotamen oder vielmehr von Potamocheren, das heißt von eigentlichen Flußschweinen, war aus dem Hochwald hervorgebrochen, und die Thiere traten alles, wohin sie kamen, unter ihren Füßen nieder.
Diese Potamocheren, die die Boeren Bosh-wark und die Engländer Bushpigs nennen, kommen in der Gegend des Caps der Guten Hoffnung, in Guinea, am Congo, auch in Kamerun vor und richten oft recht empfindlichen Schaden an. Kleiner als das europäische Wildschwein, haben sie feinere Borsten, eine bräunliche, ins orangefarbene spielende Haut, spitze, mit einem Haarbüschel versehene Ohren, eine schwarze, mit weißen Borsten durchsetzte Mähne, die sich über das ganze Rückgrat hinzieht, einen stark entwickelten Rüssel und – was die männlichen Thiere betrifft – zwischen Nase und Auge eine Hautausstülpung, die von einem Knochenhöcker getragen wird. Diese Schweine sind immer zu fürchten, im vorliegenden Falle waren sie es umsomehr, als sie in starker Ueberzahl auftraten.
Man hätte ihrer wohl hundert zählen können, die gegen das linke Ufer des Rio angestürmt kamen. Vor dem Dazwischentreten Raggi's und seiner Leute waren auch schon die meisten Hütten umgeworfen worden.
Durch die Zweige der äußersten Bäume konnten John Cort, Max Huber, Khamis und Llanga dem Kampfe zusehen. Er war nur kurz, doch nicht gefahrlos. Die Krieger entwickelten dabei großen Muth. Sie bedienten sich mehr der Spieße und Aexte als der Pfeile und der Bogen, und drangen auf die Angreifer mit gleichem Ungestüm ein, wie die Thiere auf sie. So entwickelte sich ein Handgemenge – wenn dieser Ausdruck hier statthaft ist – wobei die Wagddis mit den Aexten dreinschlugen und den Vierfüßlern die Speere in die Seite rannten.
Nach kaum einstündigem Kampfe waren die Flußschweine verjagt und Ströme von Blut vermischten sich mit dem Wasser des kleinen Flusses.[202]
Max Huber hatte große Lust gehabt, an der Schlacht theilzunehmen. Seine Flinte und die John Cort's zu holen, von oben her auf die Herde zu schießen, die Potamocheren mit einem Bleihagel zu überschütten, gewiß zum größten Erstaunen der Wagddis, das wäre ja leicht auszuführen gewesen. Der kluge John Cort beruhigte aber seinen aufbrausenden Freund, und der Foreloper unterstützte ihn dabei.
»Nein, nein, sagte er, wir wollen uns für wichtigere Fälle ein Einschreiten vorbehalten. Wenn man über den Blitz verfügt, lieber Max...
– Ja, Du hast recht, John, dann schleudere man ihn nur im geeigneten Augenblick; und da es zum Donnern noch nicht Zeit, wollen wir unseren Donner für später aufsparen!«
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