Achtzehntes Capitel.
Der Ausgang des Abenteuers.

[228] Der Zufall begünstigte die Flüchtlinge. Der Auftritt und Lärm im Innern der Wohnung hatte noch niemand herbeigezogen. Der Vorplatz war leer, leer auch die darauf einmündenden Straßen. Einige Schwierigkeit machte es nur, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, zwischen dem Gezweig hindurchzuschlüpfen und auf kürzestem Wege nach der Ngalaer Treppe zu gelangen.

Plötzlich tauchte vor den Fliehenden ein Wagddi auf.

Lo-Maï war es, in Begleitung seines Söhnchens. Der Kleine, der Khamis und den übrigen schon nachgelaufen war, als diese sich nach der Hütte Mselo-Tala-Talas begaben, hatte seinen Vater von dem Vorgange unterrichtet. Dieser beeilte sich, die Fremden aufzusuchen, weil er den Foreloper und dessen Gefährten in ernster Gefahr wähnte. Jetzt, wo ihm klar wurde, daß sie zu entfliehen trachteten, erbot er sich, ihnen als Führer zu dienen.

Das war ein Glück, denn sonst hätte keiner die Treppe gefunden.

Doch welche Enttäuschung, als sie diese erreicht hatten!

Der Eingang dazu war von Raggi und einem Dutzend Kriegern bewacht.

Wenn sie – zu vier – den Durchgang zu erzwingen versuchten, war doch wohl kaum der erwünschte Erfolg zu erwarten.

Jetzt hielt es Max Huber für an der Zeit, von seinem Gewehre Gebrauch zu machen.

Raggi und zwei andere wollten sich eben auf ihn stürzen.

Max Huber wich einige Schritte zurück und gab auf die Gegner Feuer.[228]

Mitten in die Brust getroffen brach Raggi auf der Stelle todt zusammen.

Offenbar kannten die Wagddis weder den Gebrauch der Feuerwaffen, noch deren Wirkung. Der Knall und das Niederstürzen Raggi's flößte ihnen einen solchen Schreck ein, daß man ihn kaum beschreiben kann. Und wäre ein Blitz während der Feierlichkeiten auf den Festplatz niedergefahren, sie hätten nicht heftiger erschrecken können. Der ganze Kriegertrupp stob auseinander; die einen flüchteten ins Dorf, die anderen voltigierten mit der Geschwindigkeit von Vierhändern die Treppe hinunter.

Für einen Augenblick war der Weg jetzt frei.

Nun hieß es nur, Lo-Maï und dem Kleinen zu folgen, die vorausgingen. John Cort, Max Huber, der Foreloper und Llanga ließen sich sozusagen hinunter gleiten, ohne dabei auf ein Hinderniß zu stoßen. Nachdem sie unter dem Dorfe in den Lüften hingeeilt waren, wendeten sie sich dem Rio zu. Diesen erreichten sie in wenigen Minuten, lösten hier eines der Canots vom Ufer und stiegen mit dem Vater und dem Kinde hinein.

Jetzt leuchteten aber von allen Seiten Fackeln auf und von allen Seiten kamen eine Menge Wagddis herbeigelaufen, die vorher in der Umgebung des Dorfes umhergeirrt waren. Ein wüthendes, drohendes Geschrei wurde von einer wahren Wolke von Pfeilen begleitet.

»Nun ohne Rücksicht, rief John Cort, es geht nicht anders!«

Max Huber und er legten die Gewehre an, während Khamis die Patronen zum schnellen Wiederladen bereit hielt.

Zwei Schüsse krachten. Zwei Wagddis waren getroffen und die wuthschnaubende Menge floh auseinander.

In diesem Augenblick wurde das durch Khamis vom Ufer abgestoßene Canot schon von der Strömung erfaßt und schnell verschwand es stromabwärts unter dem Schutze einer Reihe mächtig entwickelter Bäume.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Von der nach Südwesten gerichteten Fahrt durch den großen Wald ist nichts – wenigstens nichts besonderes – zu melden. Mochte es auch noch andere ähnliche Luftdörfer geben, so bekamen die beiden Freunde doch kein weiteres zu Gesicht.

Da es an Munition nicht mangelte, war die Ernährung leicht durch die Jagd zu sichern, und in den Nachbargebieten des Ubanghi gab es Antilopen in Ueberfluß.[229]

Am nächsten Abend legte Khamis das Canot für die Nacht an einem Baume am Ufer fest.

Während der Fahrt hatten John Cort und Max Huber mit den Beweisen ihrer Erkenntlichkeit gegen Lo-Maï nicht gegeizt, denn sie empfanden für diesen eine wirklich menschliche Theilnahme.

Zwischen Llanga und dem Kinde hatte sich eine wahrhaft brüderliche Freundschaft herausgebildet. Wie hätte der junge Eingeborne auch die anthropologischen Unterschiede herausfühlen können, die ihn weit über dieses kleine Wesen stellten.

John Cort und Max Huber hofften stark, Lo-Maï bestimmen zu können, daß er sie nach Libreville begleitete. Die Rückreise auf dem Rio, zweifellos einem Nebenflusse des Ubanghi, mußte ja ohne Beschwerde verlaufen, wenigstens wenn auch dieser Fluß nicht durch Stromschnellen oder Wasserfälle unterbrochen war.

Es war am Abend des 16. April, wo das plumpe Boot nach zwanzigstündiger Fahrt Halt machte. Khamis schätzte den seit dem vorigen Tage zurückgelegten Weg auf achtzig bis hundert Kilometer.

Hier an der Landungsstelle sollte die Nacht verbracht werden. Nothdürftig wurde ein Lager hergerichtet, dann aßen alle tüchtig, und während Lo-Maï wach blieb, genossen die übrigen einen durch nichts gestörten, stärkenden Schlummer.

Früh am nächsten Morgen machte Khamis alles zur Weiterfahrt zurecht und das Canot hätte bloß in die Strömung gesteuert zu werden brauchen.

Zu derselben Zeit stand Lo-Maï, sein Kind an der Hand, wartend am Flußrande.

John Cort und Max Huber traten auf ihn zu und drängten ihn, doch mit ihnen weiter zu fahren.

Lo-Maï schüttelte nur den Kopf und wies dabei nach dem Bette des Rio und andererseits nach der Tiefe des Waldes.

Die beiden Freunde wiederholten jedoch ihre dringende Aufforderung, die sie dem Wagddi durch allerlei Zeichen verständlich machten. Sie hätten Lo-Maï und Li-Maï so gern nach Libreville mitgenommen.

Gleichzeitig überhäufte Llanga das Kind mit seinen Liebkosungen, fiel ihm um den Hals und preßte es in die Arme. Er suchte den Kleinen mit nach dem Canot zu ziehen.

Da sprach Li-Maï ein einziges Wort aus:

»Ngora!«[230]

Ja... seine Mutter, die im Dorfe zurückgeblieben war und zu der Vater und Sohn zurückkehren wollten. Hier erkannte man die Familie, die nichts zu trennen vermochte.

So wurde denn endgiltig Abschied genommen, nachdem Lo-Maï für sich und den Kleinen mit dem nöthigen Nahrungsvorrath für den Rückweg bis Ngala versorgt worden war.

John Cort und Max Huber verhehlten nicht ihre tiefe Erregung bei dem Gedanken, die beiden, zwar der Rasse nach unter ihnen stehenden, doch so gemüthvollen, guten Wesen niemals wiederzusehen.

Llanga konnte sich nicht enthalten zu weinen, und große Thränen füllten auch die Augen des Vaters und des Kindes.

»Sieh da, sagte John Cort, glaubst Du nun, lieber Max, daß diese armen Geschöpfe der Menschheit doch sehr nahe stehen?

– Ja, John, weil sie lächeln und weinen können wie der Mensch!«

Das Canot trieb mit der Strömung hinunter, und von einer Biegung des Flusses aus konnten Khamis und seine Gefährten den beiden seelensguten Geschöpfen noch ein letztes Lebewohl zuwinken.

Die nächsten Tage, der 18., 19., 20. und 21. April, vergingen während der weiteren Fahrt auf dem Flusse bis zu dessen Einmündung in den Ubanghi. Die Strömung blieb immer sehr schnell, und daraufhin konnte man die vom Dorfe Ngala aus zurückgelegte Strecke wohl auf nahezu dreihundert Kilometer abschätzen.

Der Foreloper und seine Gefährten befanden sich damit in der Höhe der Stromschnellen des Zongo, in der Nähe des Winkels, den dieser Fluß da beschreibt, wo er schräg nach Süden abbiegt. Die Stromschnellen wären in dem Canot unmöglich zu überwinden gewesen, und um die Wasserfahrt weiter unten wieder aufzunehmen, hätte sich ein beschwerlicher Transport des Fahrzeuges über Land nöthig gemacht. Wohl wäre es von hier aus auch angänglich gewesen, den Rückweg in diesem Grenzgebiete zwischen dem Unabhängigen und dem Französischen Congo am linken Ufer des Ubanghi zu Fuß fortzusetzen, einer beschwerlichen Wanderung gegenüber bot das Canot aber doch gar zu handgreifliche Vortheile, denn mit einem solchen wurde viel Zeit gewonnen und viele Anstrengung erspart.

Glücklicherweise konnten Khamis und seine Gefährten die mühsame Ueberlandbeförderung umgehen.[231]

Unterhalb der Stromschnellen des Zongo ist der Ubanghi bis zu seiner Vereinigung mit dem Congo überall schiffbar. Auch fehlt es von hier aus nicht an Schiffen, die Händler und Waaren nach dem Gebiete bringen, wo es vielfach Dörfer, Flecken und Missionärniederlassungen giebt. Die fünfhundert Kilometer, die sie noch von ihrem nächsten Ziele trennten, legten John Cort, Max Huber, Khamis und Llanga denn auch auf einem dieser großen Fahrzeuge zurück, für die damals sogar schon ein Dampfschleppdienst theilweise eingerichtet war.

Am 26. April legten sie bei einer Ortschaft am rechten Ufer an. Nach den früheren Strapazen wieder völlig gekräftigt und in vortrefflichem Gesundheitszustande, hatten sie nun, wie erwähnt, nur noch fünfhundert Kilometer bis Libreville zurückzulegen.

Durch die Vermittelung des Forelopers wurde sofort eine Karawane zusammengestellt, die, sich geraden Weges nach Westen wendend, binnen vierundzwanzig Tagen durch die fast endlosen congolesischen Ebenen zog.

Am 20. Mai langten dann John Cort, Max Huber, Khamis und Llanga in der ein Stück vor der Stadt gelegenen Factorei an, mit Jubel empfangen von ihren Freunden, die, seit fast sechs Monaten ohne jede Nachricht von ihnen, durch ihr langes Ausbleiben schwer beunruhigt gewesen waren.

Weder Khamis noch der junge Eingeborne sollten für die Zukunft von John Cort und Max Huber scheiden. Den jungen Llanga hatten sie ja so gut wie als Sohn angenommen, und Khamis war ihnen während der abenteuerlichen Reise der allzeit ergebene und erfahrene Führer gewesen.

Und der Doctor Johausen?... Und Ngala, das merkwürdige Dorf in den Lüften, das in Baumkronen des großen Waldes verborgen lag?...

Nun, früher oder später würde schon eine Expedition im Interesse der neueren anthropologischen Wissenschaft mit den seltsamen Wagddis in nähere Verbindung treten.

Was den deutschen Doctor angeht, so ist und bleibt dieser dem Wahnsinn verfallen, doch selbst angenommen, daß er noch einmal wieder zu Verstande käme und nach Malimba zurückkehrte, ist kaum zu sagen, ob er nicht mit Bedauern an die Zeit zurückdächte, wo der »Vater Spiegel« unter dem Namen Mselo-Tala-Tala noch seine mühelose Herrschaft ausübte, und ob nicht auf seine Veranlassung jene Bevölkerung von halbwerthigen Menschen unter die Gewalt des Deutschen Reiches käme.

Es wäre nur möglich, daß England...

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901.
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