Achtzehntes Capitel.

[198] Da der junge Graf den Verstand verloren hatte, würde kaum Jemand über die letzten Vorgänge, deren Schauplatz das Karpathenschloß gewesen war, Aufschluß erhalten haben, ohne die Erhebungen, die unter folgenden Verhältnissen schon nach kurzer Zeit stattfanden:

Nach Verabredung hatte Orfanik, und zwar vier Tage lang, in Bistritz gewartet, daß sich der Baron von Gortz daselbst einstellen sollte. Als dieser nicht kam, sagte er sich, daß sein Gönner bei der Explosion wohl umgekommen sein möchte. Von Neugier wie von Unruhe gleichmäßig getrieben, hatte er das Städtchen Bistritz verlassen und sich nach Werst begeben, von wo aus er die Umgebungen der Burg durchstreifte.

Das sollte ihm aber schlecht bekommen, denn die Polizeibeamten bemächtigten sich sehr bald seiner Person auf einen Hinweis Rotzko's hin, der jenen genau und schon seit langer Zeit kannte.

In die Hauptstadt des Comitats übergeführt und hier gerichtlich vernommen, zögerte Orfanik gar nicht, alle Fragen zu beantworten, die ihm in der, wegen der bekannten Katastrophe eingeleiteten Untersuchung gestellt wurden.

Wir möchten hier auch nicht bemänteln, daß das traurige Ende Rudolphs von Gortz den selbstsüchtigen, überspannten Gelehrten, dessen Herz einzig an seinen Erfindungen hing, kaum merklich berührte.

Auf Rotzko's dringende Erkundigung hin erklärte Orfanik zunächst, daß la Stilla todt, wirklich todt, und daß sie – so lauteten seine Worte – auf dem Campo Santo Nuovo zu Neapel vor fünf Jahren beerdigt, richtig und formgerecht beerdigt worden sei.

Diese Versicherung erweckte eine nicht geringe Ueberraschung, woran das ganz seltsame Abenteuer überhaupt reich war.

Wenn la Stilla todt war, fragten sich die Richter und andere Leute, wie ging es zu, daß Franz ihre Stimme in der Gaststube zu Werst hören, sie später auf einer Bastion der Burg erscheinen sehen, wie, daß er als Gefangener in der Höhle sich an ihrem Gesange berauschen konnte?... Wie war es endlich möglich, daß er sie in dem Wartthurmsaale lebend wiedersah?[198]

Hier die Erklärung dieser Vorkommnisse, die ja ganz unerklärlich zu sein schienen.

Bekanntlich bemächtigte sich des Barons von Gortz die helle Verzweiflung gleich beim Auftauchen des Gerüchts, daß la Stilla entschlossen sei, die Bühne zu verlassen, um Gräfin von Telek zu werden. Das staunenswerthe Talent der Künstlerin, d. h. alle Seelenfreude, die ihm jenes bereitete, ging ihm damit verloren.

Jener Zeit schlug ihm Orfanik vor, mittels phonographischer Apparate die Hauptnummern ihres Repertoires, die sich die Sängerin für ihre Abschiedsvorstellungen ausgewählt hatte, getreu aufzunehmen. Die betreffenden Apparate waren damals schon wunderbar vervollkommnet und Orfanik hatte sie noch so verbessert, daß die menschliche Stimme weder in ihrer Klangfarbe noch in ihrer Reinheit dadurch im geringsten verändert wurde.

Der Baron von Gortz ging auf das Angebot des Physikers ein. Nach und nach und ganz insgeheim wurden für den letzten Monat der Saison Phonographen in der vergitterten Theaterloge aufgestellt. Auf deren Reproductionsplatten gruben sich nun alle Gesangsvorträge, Cavatinen, Romanzen aus Opern und aus Concertstücken, u. a. auch das Lied Stefanos und die durch la Stilla's Tod unterbrochene Schlußarie aus »Orlando« für immer ein.

Hiermit hatte sich Baron von Gortz in sein Karpathenschloß geflüchtet und jeden Abend konnte er den von den wunderbaren Apparaten wiedergegebenen Gesängen lauschen. Er hörte aber la Stilla nicht nur, als ob er in seiner gewohnten Loge säße, sondern – und das erscheint fast ganz unbegreiflich – er sah sie auch so, wie er sie lebend vor Augen gehabt hatte.

Das lief nur auf ein optisches Kunststück hinaus.

Der Baron von Gortz hatte, wie uns bekannt, ein vorzügliches Gemälde der Sängerin erworben. Dieses Porträt stellte sie im weißen Gewande der Angelica aus »Orlando« und mit lang aufgelöstem Haare dar. Durch große Spiegelscheiben, die in einem von Orfanik berechneten Winkel festgehalten wurden, erschien la Stilla, sobald eine starke Lichtquelle das vor einem Spiegel aufgestellte Bild erhellte, durch Rückstrahlung so »leibhaftig«, wie im vollen Leben und ganzen Glanze ihrer Schönheit. Mit Hilfe dieses Apparats, der in jener Nacht nach der Bastion geschafft worden war, wo Rudolph von Gortz die Erscheinung der Künstlerin hervorgerufen hatte, versuchte der Burgherr, wir wissen, mit welchem Erfolge, Franz von Telek zu sich heranzulocken; Dank dem nämlichen Apparate[199] hatte der junge Graf la Stilla im Saale des Wartthurms wiedergesehen, während ihr fanatischer Bewunderer ihrer Stimme und ihren Liedern voller Entzücken lauschte.

Das sind kurz gefaßt die Aufklärungen, die Orfanik im Laufe der Untersuchung weit eingehender gab. Wir müssen jedoch hinzufügen, daß er sich mit großem Stolze als Urheber dieser genialen Erfindungen brüstete, die er allein so ungeheuer weit vervollkommnet habe.

Gab nun Orfanik hiermit die materielle Erklärung der verschiedenen Erscheinungen oder vielmehr jener »Tries«, um das dafür eingeführte Wort zu gebrauchen, so erklärte sich daraus noch nicht, warum der Baron von Gortz vor der Explosion nicht Zeit gefunden hatte, sich durch den Tunnel nach dem Vulkanrücken in Sicherheit zu bringen. Als Orfanik dann aber erfuhr, daß eine Gewehrkugel den Gegenstand, den Rudolph von Gortz damals in den Armen trug, zerschmettert habe, da durchschaute er sofort den Zusammenhang. Jener Gegenstand war der phonographische Apparat gewesen, der den letzten Gesang la Stilla's enthielt, die Töne, die Rudolph von Gortz im Saale des Wartthurms vor dessen Zerstörung hatte hören wollen. Die Vernichtung dieses Apparats hatte auch das Leben des Barons von Gortz werthlos gemacht, und er hatte sich, eine Beute der Verzweiflung, gewiß absichtlich unter den Trümmern des Schlosses begraben lassen.

Der Baron Rudolph von Gortz wurde auf dem Friedhofe in Werst mit allen den Ehren beerdigt, die der alten, mit ihm ausgestorbenen Familie zustanden. Den jungen Grafen von Telek hatte Rotzko nach dem Schlosse bei Krajowa schaffen lassen, wo sich der treue Diener ausschließlich der Pflege seines Herrn widmete. Orfanik hatte ihm willig die Phonographenplatten abgetreten, die die anderen Gesänge la Stilla's enthielten, und wenn Franz die Stimme der großen Künstlerin vernahm, dann erwachte er zu einiger Aufmerksamkeit, gewann er vorübergehend die geistige Klarheit wieder, und es schien, als ob seine Seele im Andenken an die unvergeßliche Vergangenheit neu auflebte.

Nach Verlauf einiger Monate war der junge Graf wieder genesen, und dann erst erfuhr man von ihm die Einzelheiten aus der letzten Nacht im Karpathenschlosse.

Die Hochzeit der reizenden Miriota und Nic Deck's wurde nach den dafür vorgesehenen acht Tagen nach der Katastrophe gefeiert. Nachdem die Brautleute den Segen des Popen im Nachbardorfe Vulkan erhalten, kehrten sie nach Werst zurück, wo ihnen Meister Koltz das hübscheste Zimmer seines Hauses einräumte.[200]

Wenn jene Erscheinungen nun auch eine ganz natürliche Erklärung gefunden hatten, darf man doch nicht voraussetzen, daß die junge Frau an übernatürliche Vorkommnisse in der Burg nicht mehr geglaubt hätte. Nic Deck konnte predigen, so viel er wollte – und Jonas auch, denn ihm lag daran, die alte Kundschaft des »König Matthias« wieder heranzuziehen – sie ließ sich nicht eines besseren belehren, so wenig übrigens wie Meister Koltz, der Schäfer Frik, der Magister Hermod und die andern Bewohner von Werst. Es werden wohl noch viele Jahre vergehen, ehe die wackeren Leute hier sich von ihrem eingewurzelten Aberglauben befreien.

Doctor Patak freilich, der jetzt wieder das große Wort hat, sagt einem Jeden, der es hören will:

»Na, hatte ich nicht Recht?... Geister im Schlosse!... Giebt's denn überhaupt Geister?«

Kein Mensch achtet aber darauf, und die Leute bitten ihn sogar, zu schweigen, sobald er seine Spötteleien zu weit treibt.

Auch Magister Hermod hat natürlich nicht aufgehört, seinem Schulunterrichte die transsylvanischen Sagen zugrunde zu legen, und noch lange, lange Zeit wird auch der jüngere Nachwuchs von Werst daran festhalten, daß Geister aus der andern Welt im Karpathenschloß ihr Wesen getrieben hatten.


Ende.

Quelle:
Jules Verne: Mistreß Branican. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LIX–LX, Wien, Pest, Leipzig 1893.
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