Fünftes Capitel.

[58] Am folgenden Morgen machten sich Nic Deck und Doctor Patak gegen neun Uhr zum Aufbruch bereit. Der Forstwächter beabsichtigte den Bergrücken des Vulcan zu ersteigen, um sich so auf kürzestem Wege nach der Burg zu begeben.

Nach dem Auftreten des Rauches auf dem Wartthurme und nach der seltsamen Erfahrung mit der in der Gaststube des »König Mathias« gehörten Stimme, kann es nicht Wunder nehmen, daß die gesammte Bevölkerung ganz aus dem Häuschen war. Einige Zigeuner sprachen schon davon, das Land zu verlassen. In den Familien unterhielt man sich von nichts Anderem... und auch nur mit ganz leiser Stimme. Wer hätte denn noch gewagt zu läugnen, daß es einen Teufel, den »Chort« gebe, der von jener an den jungen Forstmann gerichteten Warnung Kenntniß hatte? In Jonas' Wirthshause waren ja wenigstens fünfzehn der glaubwürdigsten Personen anwesend gewesen, die jene merkwürdigen Worte selbst mit vernommen hatten, so daß die Annahme, sie wären nur das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen, ganz unhaltbar erschien.[58]

Nein, hier gab es keinen Zweifel; Nic war unter Nennung seines Namens gewarnt worden; ihm sollte ein Unglück widerfahren, wenn er wirklich so kühn war, das Karpathenschloß zu durchsuchen.

Und der junge Forstmann wollte das noch obendrein unternehmen, ohne daß er dazu gezwungen war. Obwohl Meister Koltz viel daran gelegen sein mußte, das Geheimniß der Burg zu entschleiern, und obwohl das ganze Dorf ein Interesse daran hatte zu erfahren, was dort in der That vorging, hatte man doch keine Mühe gespart, Nic zur Zurücknahme seiner Worte zu bestimmen. Verweint, verzweifelt, die Augen noch voller Thränen hatte Miriota ihn angefleht, sich das Abenteuer aus dem Sinne zu schlagen. Schon vor jener geheimnißvollen Warnung erschien das ja sehr ernst, nach derselben war es ein geradezu sinnloses zu nennen. Jetzt, fast am Vorabend seiner Hochzeit, wollte Nic sein Leben bei einem solchen tollen Versuche auf's Spiel setzen, und selbst seine Verlobte, die vor ihm auf den Knien lag, vermochte ihn nicht davon abzubringen.

Auf den Forstwächter machten indeß, ebenso wie die Beschwörungen seiner Freunde, die Thränen Miriotas keinen merklichen Eindruck. Das verwunderte übrigens Niemand. Die Leute kannten ja seinen entschlossenen Charakter, seine Zähigkeit, um nicht zu sagen, seine Starrsinnigkeit. Er hatte einmal gesagt, daß er in das Karpathenschloß gehen werde, und daran konnte ihn nun nichts mehr hindern... nicht einmal jene direct an ihn gerichtete Drohung.... Ja, er wollte nach der Burg gegen, selbst wenn er von da nimmermehr zurückkehrte!

Als die Stunde zum Aufbruche herangekommen war, drückte Nic Deck seine Miriota noch einmal ans Herz, während das junge Mädchen sich mit dem Daumen, Zeige- und Mittelfinger bekreuzigte, was nach rumänischer Sitte als Huldigung der Dreieinigkeit gilt.

Und der Doctor Patak?... Nun, der arme Kerl, der sich genöthigt sah, den Forstwächter zu begleiten, hatte noch immer versucht, davon loszukommen – freilich ohne Erfolg. Was er nur dagegen sagen konnte, hatte er gesagt. Auch die Geisterstimme hatte er ins Treffen geführt, die ja ganz ausdrücklich verbot, das Schloß zu betreten....

»O, jene Drohung galt nur mir allein, gab ihm Nic Deck darauf einfach zur Antwort.

– Und wenn Euch nun ein Unglück zustieße, Forstwächter, hatte der Doctor geantwortet, würde ich denn dann ohne Schaden davon kommen?[59]

– Schaden oder nicht, Ihr habt einmal zugesagt, mit mir nach dem Schlosse zu gehen, und das werdet Ihr thun, weil ich eben dahin gehe!«

Da sie einsahen, daß den jungen Forstmann nichts abhalten würde, sein Versprechen einzulösen, gaben ihm die Leute von Werst nun in dieser Hinsicht ganz besonders Recht. Es war doch immer besser, daß Nic Deck sich in dieses Abenteuer nicht allein stürzte. Auch der Doctor gab zwar voller Angst endlich klein zu, da ihm doch jeder Rückzug abgeschnitten war, er seine ganze Stellung im Dorfe gefährden und sich sagen mußte, daß man ihn nach seinen gewohnten Prahlereien herzlich auslachen würde. Dennoch klammerte er sich immer an die Hinterthür, schon das kleinste unterwegs auftretende Hinderniß zu benutzen, um seinen Gefährten zur Rückkehr zu bestimmen.

Nic Deck und Doctor Patak machten sich also auf den Weg, und Meister Koltz, Miriota, Hermod, Frik und Jonas begleiteten sie bis zur nächsten Biegung der Landstraße, wo sie zurückblieben.

Hier richtete Meister Koltz zum letztenmale das Fernrohr – das er jetzt nicht mehr aus der Hand legte – nach dem Schlosse zu. Aus dem Schornstein des Thurmes stieg kein Rauch empor, denn ein solcher wäre bei der klaren Luft des schönen Frühjahrsmorgens unzweifelhaft erkennbar gewesen. Einige der Männer glaubten schon, die natürlichen oder übernatürlichen Insassen des Schlosses möchten zu Kreuze gekrochen sein, da sie sahen, daß sich der Forstwächter nicht um ihre Drohungen kümmerte – und das erschien ja als weiterer Grund, die Angelegenheit bis zur befriedigenden Lösung zu betreiben.

Man drückte einander noch einmal die Hand, und Nic Deck, der den Doctor mit sich wegzog, verschwand am Winkel des Bergrückens.

Der junge Forstmann trug seine Dienstkleidung, die mit breitem Schilde versehene Mütze, den Waffenrock mit Gürtel und den Hirschfänger darin, weite Beinkleider, eisenbeschlagene Stiefeln, die Patronentasche an der Hüfte und die lange Flinte auf der Schulter. Er stand im Rufe eines sicheren Schützen, und da hier eine Begegnung, wenn auch nicht mit Geistern, so doch mit Landstreichern, die sich nahe der Grenze umhertrieben, oder wenn nicht mit diesen, dann wenigstens mit oft recht bösartigen Bären nicht ausgeschlossen schien, so war es ja ein Gebot der Klugheit, zur Abwehr gerüstet zu sein.

Der Doctor hatte sich mit einer alten Pistole mit Steinschloß bewaffnet, die bei fünf Schüssen dreimal versagte. Er trug auch eine Axt, die ihm sein Begleiter aufgenöthigt hatte, um sich im Nothfall durch das dichte Unterholz des[60] Plesa einen Weg brechen zu können. Auf dem Kopfe den großen Hut der Landleute, den Körper in einen anschließenden Rock fest eingeknöpft, trug er an den Füßen mächtige Schuhe mit festem Eisenbeschlag – trotz dieser schweren Ausrüstung hoffte er aber doch entweichen zu können, sobald sich dazu eine irgend passende Gelegenheit bieten würde.

Nic Deck und er hatten sich gleichmäßig mit einigem Mundvorrathe versorgt, den sie im Rucksacke trugen, um ihren Ausflug gegebenen Falls länger ausdehnen zu können.

Ueber die Biegung der Straße hinausgekommen, gingen Nic Deck und der Doctor einige hundert Schritte längs des Nyad auf dessen rechtem Ufer hin. Der eigentliche Weg, der die Schluchten des Bergstockes vielfach umkreiste, hätte sie zu weit nach Westen geführt. Am vortheilhaftesten wäre es nun gewesen, wenn sie dem Bette des Bergbaches hätten immer weiter folgen können, da das die Entfernung bis zum Schlosse auf ein Drittel verkürzt hätte, denn der Nyad entspringt unmittelbar in den Falten der Hochfläche des Orgall. Das anfänglich gangbare Steilufer, das weiterhin sehr tief eingeschnitten und von Felsblöcken unterbrochen war, gestattete dann aber selbst Fußgängern kein Fortkommen mehr. Die beiden Wanderer mußten deshalb schräg nach links hin abweichen, um sich der Richtung nach dem Schlosse wieder zuzuwenden, wenn sie die untere Zone der Wälder des Plesa durchmessen hatten.

Das war übrigens die einzige Seite, von der aus man nach der Burg gelangen konnte. Zur Zeit, als Baron von Gortz noch darin wohnte, bildete ein Verbindungsweg nach dem Dorfe Werst, dem Rücken des Vulcan und dem Thale der walachischen Sil entlang, eine Art schmaler Schneuse, die in dieser Richtung angelegt worden war. Jetzt wucherte längs derselben freilich schon wieder seit zwanzig Jahren Baum und Strauch, die sie so dicht verschlossen, daß kein Weg, kein Schlangenpfad durch jene mehr aufzufinden war.

Beim Verlassen des tiefer ausgehöhlten Bettes des Nyad, durch das ein richtiger Wasserschwall hinunterschoß, blieb Nic einmal stehen, um sich zu orientiren. Das Schloß war jetzt nicht sichtbar. Es konnte erst jenseits des Waldes wieder hervortreten, der die unteren Stufen des Berges bedeckte – eine in der Oreographie der Karpathen ganz allgemeine Anordnung. Die Himmelsgegenden mußten also hier beim Mangel aller Merkzeichen schwer zu bestimmen sein. Nur die Stellung der Sonne, deren Strahlen über die entfernten Bergkämme im Südosten strichen, boten hierfür einigen Anhalt.[61]

»Da sieht Er's ja, Forstwächter, da sieht Er's. Nicht einmal ein Weg ist vorhanden... oder wenigstens nicht mehr da.

– Es wird sich schon einer herstellen lassen, erwiderte Nic Deck.

– Ja, das ist leicht gesagt, Nic...

– Und auch leicht auszuführen, Patak.

– Ihr seid nach wie vor entschlossen...«

Der Forstwächter begnügte sich mit einem bejahenden Zeichen zu antworten und schlug einen Weg quer durch die Bäume ein.

Da empfand der Doctor ein kaum niederzukämpfendes Verlangen, stehenden Fußes umzukehren; sein Begleiter, der einmal den Kopf zurückwandte, warf ihm jedoch einen solchen gebieterischen Blick zu, daß der Hasenfuß es nicht für angezeigt hielt, zurückzubleiben.

Der Doctor Patak klammerte sich noch an eine einzige Hoffnung, an den Gedanken nämlich, daß Nic Deck sich in dem Labyrinth der unendlichen Waldmassen verirren könnte. Er rechnete dabei freilich ohne dessen vorzüglichen Spürsinn, den berufsmäßigen Instinct, jene so zu sagen »thierische« Fähigkeit, die ihm gestattete, sich nach den unscheinbarsten Zeichen zu richten, nach dem starken Hervorspringen der Zweige in der oder jener Richtung, nach den Wellen des Erdbodens, der wechselnden Farbe der Moose, je nachdem diese mehr dem Süd- oder dem Nordwind ausgesetzt sind.

Nic Deck war viel zu vertraut mit seinem Berufe; er ging diesem, ohne sich je zu verlaufen, mit größtem Eifer selbst in den unbekannten Waldbeständen nach. Er wäre der würdige Rival eines Lederstrumpf oder eines Chingachgook im Lande Cooper's gewesen.

Immerhin sollte diese Baumzone wirklich Schwierigkeiten bereiten. Ulmen, Buchen, einzelne jener Ahornbäume, die man »Falsche Platanen« nennt, und prächtige Eichen nahmen die unteren Stufen des Berges bis zur Region der Birken, Fichten und Tannen ein, die in den höheren Lagen der linken Seite des Bergrückens standen. Diese Bäume mit ihren mächtigen Stämmen, ihren in jungem Safte stehenden Aesten, dem dichten Blätterschmuck, sproßten hier vielfach untereinander und bildeten ein grünes Dach, das die Sonnenstrahlen kaum da und dort einmal zu durchdringen vermochten.

Der Weg wäre immerhin nicht so schwierig gewesen, wenn sich die Wanderer unter die niedrigsten Zweige hätten bücken wollen. Dafür bot freilich die Erde desto mehr Hindernisse, und es hätte einer ungeheueren Arbeit bedurft, um sich[62] gegen die Disteln und Nesseln zu schützen, die bei der leisesten Berührung Tausende von Brennhaaren ausstreuten. Nic Deck war am Ende nicht der Mann, der sich um dergleichen besonders kümmerte, und konnte er nur durch das Gehölz vorwärts dringen, so wären ihm einige Hautrisse und Abschürfungen von keiner Bedeutung gewesen. Die Fortbewegung mußte unter solchen Verhältnissen natürlich sehr langsam erfolgen. Eine unangenehme Zugabe, da weder Nic Deck noch dem Doctor Patak daran gelegen sein konnte, die Burg erst im Laufe des Nachmittags zu erreichen. War es dagegen noch hell genug, so konnten sie dieselbe besuchen und noch vor der Nacht nach Werst heimgekehrt sein.

Mit der Axt in der Hand brach sich der Forstwächter Bahn durch das dichte Gestrüpp, das mit pflanzlichen Bajonnetten besäet war, und wo der Fuß nur auf unebenem Terrain, von Wurzeln und losem Geäst überzogen, stehen konnte. Dabei stieß er sich oft an abgehauene Baumstämme, wenn er in die feuchte Schicht von todten Blättern, die kein Windhauch je berührt hatte, einsank. Dabei zerplatzten Myriaden von Samenkapseln gleich Knallerbsen, zum großen Schrecken des Doctors, der bei diesem Geknatter scheu zur Seite sprang, sich nach rechts und links hin umsah und entsetzt umdrehte, wenn ein dürrer Zweig an seinem Ohre hängen blieb, wie eine Kralle, die ihn zurückhalten wollte. Nein, hier war er seines Lebens nicht sicher, der arme Mann! Jetzt hätte er auch nicht mehr gewagt, allein zurückzukehren, und so bemühte er sich nach Kräften, seinen unzugänglichen Begleiter keinen Vorsprung gewinnen zu lassen.

Zuweilen stießen die Wanderer auf merkwürdige Blößen; hier fiel das Tageslicht in vollem Strahle ein. Ganze Heerden von schwarzen, aus ihrer Einsamkeit aufgeschreckten Störchen entflohen aus den hohen Aesten am Rande und flatterten rauschend davon. Das Vorwärtskommen über die Waldblößen erschien nur noch ermüdender. Hier hatten sich – ein ungeheueres Stäbchenspiel – die vom Sturm geknickten oder vom Alter gestürzten Bäume, als ob ihnen die Axt des Holzhauers den Todesstoß gegeben hätte, in großer Menge übereinandergelegt. Hier fanden sich gewaltige Stämme, die von der Fäulniß verzehrt wurden, die niemals zu nützlichen Zwecken zerlegt und die von keinem Karren nach dem Bett der walachischen Sil geschafft werden sollten.


Was konnte man mehr wünschen? (S. 66.)
Was konnte man mehr wünschen? (S. 66.)

Mit diesen nur schwierig zu überkletternden und zuweilen unmöglich zu umgehenden Hindernissen hatten Nic Deck und sein Gefährte schwere Mühe. Gelang das auch dem beweglichen, geschmeidigen und kräftigen jungen Forstwächter, so konnte doch der[63] Doctor Patak mit seinen kurzen Beinen und seinem Schmerbäuchlein, der daneben auch schon ganz außer Athem war, dann und wann einen Sturz nicht vermeiden, so daß ihm jener zu Hilfe eilen mußte.

»Ihr seht, Nic, daß ich mir zu guter Letzt noch ein Bein breche! jammerte er wiederholt.

– Na, dann curirt Ihr Euch einmal selbst.

– Ich bitte Euch, junger Mann, seid vernünftig... Man soll nicht gegen das Unmögliche anzukämpfen streben!«[64]

Da war Nic Deck aber schon lange wieder ein Stück voraus, und der Doctor, der nichts mit ihm ausrichten konnte, beeilte sich, ihn wieder einzuholen.

Es wäre schwierig gewesen, sich Rechenschaft zu geben, ob die bisher eingehaltene Richtung die richtige war, um nach der Burg zu gelangen. Da der Erdboden jedoch immer wieder anstieg, konnte man ja hoffen, nach dem Waldesrande zu kommen, der dann wirklich um drei Uhr Nachmittags erreicht wurde.[65]

Ueber diesen hinaus und bis zur Hochfläche des Orgall streckte sich der Vorhang grüner Bäume, die um so weniger eng standen, je steiler der Boden aufstieg.

Hier wurde auch der Nyad zwischen den Felsen wieder sichtbar, der sich also mehr nach Nordwesten gewendet hatte oder auf den zu Nic Deck marschirt sein mochte. Das vergewisserte den jungen Forstwächter, daß er den nächsten Weg eingeschlagen hatte, da der Bach aus den Felsenspalten jener Hochfläche zu entspringen schien.


Oder ihm helfen, ein für seine kurzen Beine zu hohes Felsstück zu erklimmen. (S. 70.)
Oder ihm helfen, ein für seine kurzen Beine zu hohes Felsstück zu erklimmen. (S. 70.)

Nic Deck konnte dem Doctor eine Stunde Rast am Ufer des Baches nicht abschlagen. Uebrigens verlangte der Magen jetzt ebenso gebieterisch sein Recht wie die Beine. Die Rucksäcke waren wohlversorgt, der Rakiou füllte die Kürbisflasche des Doctors und die Nic Deck's bis zum Pfropfen. Daneben murmelte noch ein frisches, klares, an den Kieseln des Baches filtrirtes Quellwasser wenige Schritte unter ihnen dahin. Was konnte man mehr wünschen? Hatten sich die beiden Männer viel zugemuthet, so mußten sie sich jetzt auch wieder ordentlich stärken.

Seit dem Aufbruche hatte der Doctor kaum Muße gehabt, mit Nic Deck, der immer voraus war, ein Wort zu wechseln. Jetzt hielt er sich aber, als sie am Ufer des Nyad saßen, dafür schadlos. War der Eine wenig redselig, so schwatzte wenigstens der Andere gar zu gern. Es versteht sich also von selbst, daß von letzterer Seite viele weitschweifige Fragen gestellt, von der andern aber nur kurz beantwortet wurden.

»Sprechen wir ein wenig, Forstwächter, und sprechen wir ein ernstes Wort, begann der Doctor.

– Ich höre, sagte Nic Deck.

– Ich meine, wenn wir hier Halt gemacht haben, so geschah es, um neue Kräfte zu gewinnen.

– Ganz richtig.

– Ehe wir nach Werst zurückkehren...

– Nein, ehe wir nach der Burg weitergehen.

– Ich bitte Euch, Nic Deck, nun sind wir bereits sechs Stunden unterwegs und haben noch kaum die Hälfte zurückgelegt...

– Ein Beweis, daß wir keine Zeit zu verlieren haben.

– Es wird aber die Nacht herankommen, ehe wir vor dem Schlosse stehen, und ich meine, Forstwächter, Ihr werdet nicht toll genug sein,[66] das zu wagen, ohne klar sehen zu können; wir müssen dann den Tag abwarten...

– Nun ja, so warten wir eben.

– Ihr wollt also nicht auf dieses Vorhaben verzichten, das doch eigentlich keinen Sinn und Verstand hat?

– Nein.

– Wirklich! Hier sitzen wir nun, gänzlich entkräftet, brauchen einen gut besetzten Tisch in einer gemüthlichen Stube, und ein weiches Bett in stiller Kammer, und Ihr denkt die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen?

– Ja wohl, wenigstens dann, wenn irgend etwas uns hindert, durch die Umfassungsmauer des Schlosses zu gelangen.

– Und wenn es kein solches Hinderniß gäbe?...

– Dann schlafen wir in einem Zimmer des Wartthurmes.

– In einem Zimmer des Wartthurmes! rief der Doctor Patak. Ihr glaubt, Forstwächter, daß ich zustimmen würde, eine Nacht im Innern des verhexten Schlosses zuzubringen?...

– Natürlich, wenn Ihr nicht etwa vorzieht, allein draußen zu bleiben.

– Allein, Forstwächter!... Das ist wider die Verabredung; doch wenn wir uns trennen müssen, würd' ich es lieber sehen, es geschähe hier, damit ich noch nach dem Dorfe zurückkehren kann.

– Verabredet, Doctor Patak, ist nur, daß Ihr mir folgen werdet, wohin ich auch gehe...

– Am Tage... ja; in der Nacht... nein.

– Nun, meinetwegen, es steht Euch frei, davonzugehen; achtet aber darauf, Euch im Dickicht nicht zu verirren.«

Sich zu verirren, das beunruhigte den Doctor am meisten. Auf sich allein angewiesen und ohne Bekanntschaft mit den unzähligen Kreuzundquerpfaden im gangbaren Theil des Waldes des Plesa, fühlte er sich außer Stande, den Weg nach Werst zu finden. Uebrigens allein zu sein, wenn die Nacht gekommen wäre – eine voraussichtlich stockfinstere Nacht – die Abhänge des Bergstockes hinunter zu gehen, auf die Gefahr hin, vielleicht in eine Schlucht hinabzustürzen, das war für ihn keine verlockende Aussicht. Da er davon befreit sein sollte, die Mauer zu erklettern, woran ja nach Sonnenuntergang überhaupt nicht zu denken war, erschien es ihm richtiger, dem Forstmann bis zum Fuße der Umfassungsmauer zu folgen.[67]

Der Doctor wollte jedoch noch einen letzten Versuch wagen, seinen Begleiter abzuhalten.

»Ihr wißt, mein lieber Nic, wendete er sich an diesen, daß ich niemals im Stande wäre, Euch zu verlassen. Da Ihr darauf besteht, Euch nach dem Schlosse zu begeben, so werde ich Euch nicht allein gehen lassen.

– Das ist doch ein vernünftiges Wort, Doctor Patak, und ich meine, daran sollt Ihr festhalten.

– Nein, noch ein anderes Wort, Nic. Wenn die Nacht einbricht und wir erst dann an das Schloß kommen, so versprecht mir, keinen Versuch zum Eindringen in die Burg zu machen...

– Ich verspreche nur, Doctor, selbst das Unmögliche nicht zu scheuen, um daselbst hinein zu gelangen, und nicht eher einen Fuß breit zurückzuweichen, ehe ich mich nicht überzeugt habe, was darin vorgeht.

– Was darin vorgeht, Forstwächter! rief der Doctor Patak mit den Achseln zuckend. Was meint Ihr denn, was darin vorgehen mag?

– Ja, im Voraus weiß ich davon nichts, da ich aber entschlossen bin, es zu erfahren, so werd' ich auch dahinterkommen...

– Erst muß man überhaupt bis dahin, bis an das Teufelsschloß gelangen! versetzte der Doctor, der nun am Ende seiner Weisheit war. Wenn ich das nach den bisherigen Hindernissen beurtheile und nach der Zeit, die nur der Weg durch die Wälder des Plesa in Anspruch nimmt, so wird der Tag zur Rüste gehen, ehe wir es zu sehen bekommen.

– Das glaub' ich nicht, antwortete Nic Deck. Auf der Höhe des Berges ist das Fichtengehölz weit weniger mit Unterholz durchsetzt, als dieses Dickicht von Ulmen, Ahornbäumen und Buchen.

– Der Boden wird aber desto steiler ansteigen.

– Thut nichts, wenn er nur gangbar ist.

– Ich habe mir aber sagen lassen, wir würden es auf der Höhe des Orgall mit Bären zu thun haben.

– Ich habe meine Flinte und Ihr die Pistole, Euch der Haut zu wehren.

– Wenns aber Nacht wird, laufen wir Gefahr, uns in der Finsterniß zu verirren!

– O nein, denn wir besitzen jetzt einen Führer, der uns, wie ich hoffe, nicht wieder verlassen wird.[68]

– Was? Einen Führer?« rief der Doctor entsetzt.

Er sprang schnell auf, um ringsumher einen unruhigen Blick zu werfen.

»Ja gewiß, versicherte Nic Deck, und dieser Führer ist hier der Bach, der Nyad; längs seines rechten Ufers werden wir voraussichtlich den Rand der Hochfläche erreichen können, denn von dort nimmt er seinen Ursprung. Meiner Ansicht nach werden wir vor Ablauf von zwei Stunden am Thore der Burg stehen, wenn wir hier nicht länger verweilen.

– Binnen zwei Stunden... wenn nur nicht etwa sechs daraus werden!

– Nun also, vorwärts! Seid Ihr bereit?...

– Ihr wollt schon fort, Nic?... Wir haben doch kaum ein paar Minuten ausgeruht!

– Ein paar Minuten, die zusammen eine gute halbe Stunde ausmachen. – Zum letzten Male also, seid Ihr fertig?

– Zum Kuckuck, wenn Einem die Beine wie Blei am Leibe hängen... Ihr wißt doch, daß ich keine Försterschenkel habe, Nic Deck! – Mir sind die Füße ganz gehörig angeschwollen, und es ist eine Grausamkeit, mich zwingen zu wollen, Euch zu folgen....

– Nun, ich habe das Lamentiren satt, Patak – ich stelle es Euch frei, mich zu verlassen. Glückliche Reise!«

Nic Deck erhob sich.

»Um des Himmelswillen, Forstwächter, rief der Doctor Patak, hört noch auf ein Wort!

– Auf Eure Dummheiten!

– Nein, nein; doch da es schon so spät ist, wäre es doch besser, vorläufig hier zu bleiben und unter diesen Bäumen zu übernachten. Morgen mit Tagesgrauen brechen wir wieder auf und haben dann den ganzen Vormittag vor uns, um zum Schlosse zu gelangen....

– Doctor, erwiderte Nic Deck, ich wiederhole Euch nur, daß es meine Absicht ist und bleibt, darin schon die Nacht zuzubringen.

– Nein! widersprach der Doctor mit Entschiedenheit, das werdet Ihr nicht thun, Nic. – Ich würde Euch schon daran zu hindern wissen....

– Ihr?

– Ich hänge mich an Euch an.... Ich zerre Euch zurück.... Schlage auf Euch los, wenns sein muß....«[69]

Er wußte nicht mehr, was er sagte, der unglückliche Patak.

Nic Deck hatte diese Redereien gar keiner Antwort gewürdigt, und nachdem er sich die Flinte wieder umgehängt, that er einige Schritte nach dem Ufer des Nyad hin.

»Wartet doch, wartet doch nur! rief der Doctor kläglich. Ein wahrer Teufel von Kerl!... Nur noch einen Augenblick!... Mir sind ja die Beine ganz steif... Meine Gelenke bewegen sich nicht...«

Die Gelenke verloren ihre Unbeweglichkeit indeß sehr bald, denn der Exkrankenwärter mußte sich mit seinen kurzen Beinen wohl oder übel zwingen, dem Forstwächter nachzulaufen, der sich nicht einmal nach seinem jammernden Gefährten umdrehte.

Es war jetzt vier Uhr. Ueber den Kamm des Plesa, der sie bald ganz aufhalten sollte, hinstreichend, beleuchteten die Sonnenstrahlen nur noch das hohe Gezweig des Tannenwaldes... Nic Deck hatte alle Ursache, schnell vorwärts zu kommen, denn unter den Bäumen wurde es, wenn der Tag zur Neige ging, sehr bald ganz dunkel.

Diese Wälder mit den gewöhnlichen alpinen Baumarten bieten einen merkwürdigen und seltsamen Anblick. Statt der schiefen, gekrümmten, wirr verzweigten Bäume weiter unten, streben hier gerade, vereinzelt bis fünfzig und sechzig Fuß über der Wurzel nackte Stämme empor, die nirgends einen Astknoten aufweisen und ihre immergrünen Kronen gleich einer flachen Decke ausbreiten. Weder Gebüsch noch Gräser umhüllen ihren Fuß. Die Wurzeln derselben kriechen auf der Erde hin, wie von der Kälte erstarrte Schlangen. Der Erdboden selbst ist nur mit gelblichem, glattem Moose bedeckt, da und dort mit verdorrtem Reisig bestreut, sowie mit einzelnen abgefallenen Tannenzapfen, die knirschend unter dem Fuße des Wanderers brechen. Dazu der steile und von krystallinischem Gestein durchsetzte Abhang, an dem sich die beste Ledersohle schnell abnutzt. Der Weg durch diesen Tannenwald gestaltete sich denn auch auf eine Viertelmeile weit recht ermüdend. Um die ihn gelegentlich versperrenden Felsblöcke zu erklimmen, bedurfte es einer Geschmeidigkeit des Körpers, einer Kraft der Schenkel und einer Sicherheit in der Beherrschung aller Glieder, die dem Doctor Patak leider nicht eigen waren. Wenn Nic Deck für sich allein eine Stunde zur Ueberwindung dieser schwierigen Strecke gebraucht hätte, so kostete es ihm deren drei mit dem »Anhängsel« seines Genossen, da er wiederholt stehen bleiben mußte, um diesen zu erwarten, oder ihm helfen, ein für seine kurzen Beine zu[70] hohes Felsstück zu erklimmen. Der Doctor hatte nur eine Furcht – eine entsetzliche Furcht, nämlich die, in dieser trostlosen Einöde allein zurückzubleiben.

War der Bergabhang auch schwieriger zu ersteigen, so standen dafür nahe dem Scheitel des Plesa wenigstens die Bäume nicht mehr so dicht. Sie bildeten nur noch vereinzelte Gruppen von mäßigem Umfange. Zwischen diesen hindurch erblickte man schon die Linie der Gebirgszüge, die sich am Horizonte abzeichneten und noch den aufsteigenden Abendnebel überragten.

Der Nyad, dessen Verlaufe der Forstwächter bisher gefolgt war und den hier nur eine schwache Wasserader belebte, mußte in geringer Entfernung entspringen. Wenige hundert Fuß über den letzten beiden Stufen dehnte sich die Hochfläche des Orgall aus, die von dem Gemäuer der Burg bekrönt war.

Nachdem sich Beide noch einmal tüchtig ins Zeug gelegt, erreichte Nic Deck endlich diese Fläche, bei der der Doctor freilich nur mehr als leblose Masse anlangte. Der arme Mann hätte sich keine zwanzig Schritte mehr weiter schleppen können, und er stürzte jetzt auch zusammen wie der Stier, der unter dem Axthiebe des Fleischers fällt.

Nic Deck fühlte sich durch den beschwerlichen Aufstieg kaum ermüdet. Hoch aufgerichtet stand er da und verzehrte mit dem Blicke das Karpathenschloß, dem er sich noch niemals soweit genähert hatte.

Vor ihm lag die Umfassungsmauer mit ihren Zinnen, selbst wieder vertheidigt durch einen tiefen Wallgraben, dessen einzige Brücke nach dem Thore zu aufgezogen war, das ein Thorbogen aus großen Quadersteinen umrahmte.

In der nächsten Umgebung auf der ganzen Hochfläche des Orgall war alles still und leer.

Ein letzter Tagesschein gestattete noch, das Gesammtbild der Burg zu erkennen, die mächtig, aber halb verschwommen aus dem Abendschatten aufragte.

Ueber der Mauerbrüstung war kein Mensch sichtbar, keiner auf der oberen Fläche des Wartthurmes oder auf der Kreisterrasse des ersten Stockwerkes. Nicht das feinste Rauchwölkchen wirbelte um den stolzen, doch vom Roste der Jahrhunderte zerfressenen Wetterhahn.

»Nun, Forstwächter, fragte der Doctor Patak, gebt Ihr nun zu, daß es unmöglich ist, diesen Graben zu überschreiten, die Zugbrücke niederzulassen und das Thor zu öffnen?«

Nic Deck schwieg, er sagte sich ja auch selbst, daß er gezwungen sein würde, vorläufig vor den Mauern der Burg Halt zu machen, denn bei der herrschenden Finsterniß war gar nicht daran zu denken, in die Tiefe des Grabens hinunterzugleiten, die steile Mauerböschung zu erklimmen und hinter die Umfassungsmauer einzudringen.


Er sah wirklich seltsame Gestalten. (S. 77.)
Er sah wirklich seltsame Gestalten. (S. 77.)

[71] Nein, es schien weit rathsamer, den nächsten Morgen abzuwarten, um bei vollem Lichte ans Werk zu gehen.

Das beschlossen denn auch die beiden Männer, zum großen Leidwesen des Forstwächters, aber zur noch größeren Befriedigung des ängstlichen Doctors.


»Nic... Nic, ruft der Doctor, seht mich an!« (S. 78.)
»Nic... Nic, ruft der Doctor, seht mich an!« (S. 78.)

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 58-73.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Karpathenschloß
Das Karpathenschloss
Das Karpathenschloss
Das Karpathenschloss

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Die Nächste und andere Erzählungen 1899-1900

Die Nächste und andere Erzählungen 1899-1900

Sechs Erzählungen von Arthur Schnitzler - Die Nächste - Um eine Stunde - Leutnant Gustl - Der blinde Geronimo und sein Bruder - Andreas Thameyers letzter Brief - Wohltaten Still und Rein gegeben

84 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon