Fünfzehntes Capitel.
In Felsenheim. – Beunruhigende Verzögerung. – Nach der Einsiedelei Eberfurt. – Herr Wolston und Ernst. – Was geschehen war. – Bei der Verfolgung der Elephanten. – Ein Vorschlag Wolston's. – Widrige Winde. – Jack!

[229] Am Abende des nämlichen Tages hatten sich Zermatt und seine Gattin, nebst Frau Wolston und deren Tochter nach redlich gethaner Arbeit im Bibliothekzimmer zusammengefunden.

Plaudernd saßen sie nahe dem nach dem rechten Ufer des Schakalbaches hinausgehenden Fenster, und selbstverständlich betraf ihr Gespräch die in der Ferne Weilenden, die nun schon vier Tage lang fort waren. Wegen des Erfolges dieses Ausfluges beruhigte sie vorzüglich der Umstand, daß die Witterung sich gut gehalten hatte und die Hitze für den Anfang der schönen Jahreszeit keine unerträgliche gewesen war.

»Wo mögen sie jetzt wohl sein? fragte Betsie.

– Meiner Ansicht nach, antwortete der ältere Zermatt, müssen sie den Gipfel der Bergkette erreicht haben. Haben sie keine Verzögerung erfahren, so werden ihnen drei Tage genügt haben, zum Fuße der Berge vorzudringen, und am vierten wird der Aufstieg erfolgt sein...

– Doch wer weiß, unter welchen Beschwerden... welchen Gefahren? fiel Annah ein.

– Gefahren? Nein, liebes Kind, beruhigte sie Zermatt. Was die Beschwerden betrifft, so befindet sich Ihr Vater ja noch im kräftigsten Alter, und meine Söhne haben schon ganz andere Anstrengungen ausgehalten.

– Ernst hat aber nicht die zähe Ausdauer seines Bruders, konnte sich das junge Mädchen zu erwidern nicht enthalten.

– Nicht ganz dieselbe, bestätigte Frau Zermatt; er hat von jeher das Studieren den Körperübungen vorgezogen.

– Na, na... schon gut, Betsie! sagte Zermatt. Mache nur aus Deinem Sohne keinen halben Mann und kein halbes Weib! Hat er fleißig mit dem Kopfe gearbeitet, so hat er das mit den Armen und Beinen doch nicht minder gethan. Ich denke also, diese Auskundschaftung wird für alle nur einen Touristenausflug[229] bedeuten. Hätte ich es überwinden können, Sie, Frau Wolston und Annah, und Dich, meine Liebe, hier in Felsenheim allein zurückzulassen, so wäre ich trotz meiner siebenundvierzig Jahre flott mit abmarschiert und hätte an diesem Entdeckungszuge mit Freuden theilgenommen.

– Nun, warten wir bis morgen, äußerte Frau Wolston. Vielleicht kommt die von Ernst mitgenommene Brieftaube morgen zeitig mit einer Nachricht für uns zurück...

– Warum nicht schon heute Abend?... unterbrach sie Annah. Die Taube würde ihren Schlag doch auch in der Nacht wiederfinden; nicht wahr, Herr Zermatt?

– Ganz gewiß, Annah. Dieser Vogel fliegt ja so außerordentlich schnell – man sagt, zwanzig Lieues in der Stunde – daß er die Strecke von der Bergkette bis zu uns binnen sechzig bis siebzig Minuten müßte zurücklegen können.

– Wenn ich nun auf seine Rückkehr bis zum Morgen wartete?... schlug das junge Mädchen vor.

– Ah, bemerkte Frau Zermatt, unser liebes Kind hat große Sehnsucht, etwas von ihrem Vater zu hören...

– Und auch von Ihren Söhnen, Frau Zermatt, gestand Annah, sie umarmend.

– Es ist wirklich zu bedauern, ließ Frau Wolston sich vernehmen, daß jene Bergkette von der Höhe bei Felsenheim nicht zu sehen ist. Mit Hilfe eines guten Fernrohres hätten wir uns sonst wohl unterrichten können, ob die Flagge bereits auf der Spitze des Pics flattert...

– Das ist freilich bedauerlich, Frau Wolston, antwortete Zermatt. Für den Fall, daß die Taube morgen früh noch nicht eingetroffen wäre, denke ich, unseren Leichtfuß zu satteln und mich nach der Einsiedelei Eberfurt zu begeben, von wo aus man den Pic, der die Kette überragt, ja sehen kann.

– Recht schön, mein Schatz, sagte Frau Zermatt, doch wozu vorzeitige Beschlüsse? Da jetzt Essenszeit ist, wollen wir zunächst zu Tische gehen. Wer weiß denn, ob dann inzwischen und ehe wir uns niederlegen nicht die Taube mit einigen Worten von Ernst angelangt sein wird.

– Freilich, es ist ja nicht das erstemal, daß wir von Ernst auf gleichem Wege Nachricht erhielten. Du entsinnst Dich wohl, Betsie, wenn's auch schon lange her ist, daß unsere Söhne uns über Waldegg, Prospect-Hill und Zuckertop[230] Mittheilungen sendeten – leider betrübende; sie betrafen die dort von Affen und anderen schädlichen Thieren angerichteten Verwüstungen – und diese erhielten wir ebenfalls durch Taubenpost. Ich hoffe, der geflügelte Bote bringt uns diesmal bessere!

– Da... da ist er schon! rief Annah, ans Fenster eilend.

– Du hast die Taube anfliegen sehen? fragte ihre Mutter.

– Nein, ich hörte sie nur in den Schlag zurückkehren,« antwortete das junge Mädchen.

Ein kurzes, trockenes Geräusch hatte ihre Aufmerksamkeit erweckt. Das rührte von der kleinen Fallthür her, die den über der Bibliothek angelegten Taubenschlag an dessen unterem Theile abschloß.

Der ältere Zermatt ging sofort hinaus; Annah, Frau Zermatt und Frau Wolston folgten ihm. Vor dem Taubenschlage lehnte er eine Leiter gegen die Felswand, stieg deren Sprossen hinauf und sah in das Taubenhaus hinein.

»Sie ist wirklich da! sagte er.

– O, ergreifen Sie sie... fangen Sie die Taube, Herr Zermatt!« bat Annah voller Ungeduld.

Sobald sie die Taube in Händen hatte, drückte sie ihr einen Kuß auf das bläuliche Köpfchen und streichelte sie nach Ablösung des an einem Fuße befestigten Zettels aufs neue. Dann wurde das Thierchen freigegeben und es flatterte nach seinem Verschlage zurück, wo eine Handvoll Körner seiner wartete.

Annah las Ernsts Mittheilung mit lauter Stimme vor. Die wenigen Zeilen, die das Blatt enthielt, beruhigten alle bezüglich der Abwesenden und meldeten den vollen Erfolg des Ausfluges. Für jeden fand sich ein freundliches Wort darin, und Annah erhielt davon, wie wir wissen, nicht das kärgste Theil.

Mit dem beglückenden Gedanken, daß die Heimkehr in achtundvierzig Stunden erfolgen solle, zogen sich der ältere Zermatt und seine Gattin, sowie Frau Wolston mit ihrer Tochter nach ihren Zimmern zurück. Der eingetroffene Bote hatte die erwünschtesten Nachrichten gebracht... alle dankten Gott dafür und schlummerten dann friedlich bis zum Aufgange der Sonne.

Der Tag wurde nur häuslichen Verrichtungen gewidmet. Natürlich hatte der ältere Zermatt in Folge der Ankunft der Taube seine Absicht, sich nach den Höhen der Schlucht der Cluse zu begeben, fallen lassen. Hätte ein gutes Fernrohr es auch ermöglicht, von dort aus die auf der Spitze des Pics flatternde Fahne zu erkennen, so erfuhr man dadurch doch nichts neues. Es unterlag[231] übrigens keinem Zweifel, daß Wolston, Ernst und Jack jetzt schon auf dem Heimwege begriffen waren.

Am folgenden Tage gab es wieder ein tüchtiges Stück Arbeit, das sich nicht aufschieben ließ. Ein großer Schwarm Lachse war in die Mündung des Schakalbaches eingedrungen. Diese Fische stiegen zur gleichen Jahreszeit stets den Wasserlauf hinaus. Leider vermißte man die drei Abwesenden jetzt recht schmerzlich, denn mit ihrer Unterstützung wäre der Fang der schmackhaften Fische gewiß noch weit reichlicher ausgefallen.

Am Nachmittage ließen Herr und Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah ihre Arbeit ruhen, überschritten die Familienbrücke und machten sich auf den Weg in der Richtung nach der Einsiedelei Eberfurt. Wolston, Ernst und Jack konnten nun den Eingang zur Cluse erreicht haben und binnen zwei Stunden die Entfernung, die die Meierei von Felsenheim trennte, recht wohl überwinden.

Der Tag verging jedoch, ohne daß etwas auf ihre Annäherung hindeutete. Die Hunde, die ihre Herren sicherlich gewittert hätten, schlugen nicht an, auch hörte man keinen Schuß, und Jack hätte seine Rückkehr gewiß mit einem solchen verkündigt.

Um sechs Uhr stand die Mahlzeit bereit – ein reichliches und nahrhaftes Essen, genügend, auch den stärksten Appetit zu befriedigen. Man wartete auf die Ausflügler, doch da diese nicht kamen, fiel es gar niemand ein, sich zu Tische zu setzen.

Noch ein letztesmal gingen die beiden Zermatt's mit Frau Wolston und Annah eine Viertelstunde weit den Weg am Schakalbach hinaus. Türk und Braun die daneben mitliefen, blieben still und stumm. Gott weiß, wie freudig sie gebellt, wie tolle Sprünge sie gemacht hätten, wenn die zwei Brüder etwa nur noch einige hundert Schritte entfernt gewesen wären!

Die Vier mußten sich endlich wohl oder übel entschließen, nach Felsenheim zurückzugehen, und wenn sie sich auch etwas beunruhigt fühlten, sagten sie sich zum Troste doch, daß die Heimkehr der anderen sich kaum viel verzögern könne. Beklommen und gespannt nach draußen horchend, ging man zu Tische, doch berührten die einen und die anderen kaum die Gerichte, von denen die Abwesenden wohl nichts übrig gelassen hätten.

»Nur ruhig... nur geduldig! sagte endlich der ältere Zermatt. Wir dürfen nichts übertreiben! Da es dreier Tage bedurft hat, den Fuß der Berge zu erreichen, warum sollte die Rückkehr nicht ebensoviel Zeit erfordern?


Der kühne junge Mann wollte die sich hier bietende Gelegenheit benutzen. (S. 237.)
Der kühne junge Mann wollte die sich hier bietende Gelegenheit benutzen. (S. 237.)

– Sie können wohl recht haben, Herr Zermatt, antwortete Annah, doch agt die Mittheilung Ernsts nicht ausdrücklich, daß dazu achtundvierzig Stunden genügen würden?

– Jawohl, mein liebes Kind, redete Frau Zermatt ihr zu. Der gute Junge hat aber jedenfalls ein so großes Verlangen, uns wieder zu sehen, daß er etwas versprochen hat, was er nicht halten kann.«

Alles in allem war jetzt keine ernstere Befürchtung berechtigt, was der ältere Zermatt mit gutem Grunde betonte. Immerhin fand keiner der Insassen von Felsenheim diese Nacht einen so ruhigen Schlummer, wie in der vorigen.

Wie erklärlich, verschärfte sich die erste Besorgniß am folgenden Morgen zur wirklichen Unruhe und schließlich zur quälenden Beängstigung, denn der Abend des 3. October kam heran, ohne daß Wolston, Ernst oder Jack wieder erschienen wären. Eine derartige Verzögerung erschien bei den kräftigen und unermüdlichen Fußgängern doch kaum erklärbar. Natürlich dachte jedermann nun an einen Unfall. Hindernisse konnten doch dem Rückwege auch nicht mehr entgegenstehen, als dem Hinwege, und die einzuhaltende Richtung war ja bekannt, wenn sie nicht beschlossen hatten, einen anderen, schwierigeren und längeren Weg einzuschlagen.

»Nein, nein! versicherte Annah. Bei der Wahl eines anderen Weges hätte Ernst nicht gemeldet, daß sie binnen achtundvierzig Stunden hier sein würden!«

Dagegen war leider nichts zu sagen. Betsie und Frau Wolston begannen schon, alle Hoffnung zu verlieren. Annah konnte ihre Thränen nicht zurückhalten, und womit hätte der ältere Zermatt sie zu trösten vermocht?

Man einigte sich also dahin, wenn die Abwesenden auch am folgenden Tage in Felsenheim noch nicht erschienen wären, nach der Einsiedelei Eberfurt zu fahren, da jene unbedingt durch den Eischnitt der Cluse zurückkehren mußten. Ging man ihnen aber entgegen, so konnte man sie um zwei Stunden früher begrüßen.

Der Abend kam, die Nacht verrann; von Herrn Wolston, von Ernst und Jack zeigte sich keine Spur. Da hätte nun nichts mehr in Felsenheim alle die zurückhalten können, die jene unter tödtlicher Angst erwarteten, und das hätte jetzt niemand mehr eine Uebertreibung nennen können.

Schnell wurden schon am Morgen die Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen, der Wagen bespannt und mit einigem Mundvorrath versehen, worauf alle darin Platz nahmen. Das Gefährt rollte davon; Braun sprang ihm voraus. Nach Ueberschreitung des Schakalbaches folgte es den Wäldern und den Ackerfeldern,[235] die an der Straße nach Eberfurt lagen, so schnell es eben anging. Der Wagen war in der Entfernung von einer Lieue nahe dem Stege angelangt, der den in den Schwanensee mündenden Abzugscanal überspannte, als Zermatt plötzlich Halt machte.

Braun, der immer lauter bellte, war schon weiter vorausgesprungen.

»Da sind sie!... Da sind sie!« rief Frau Wolston erfreut.

Wirklich tauchten in der Entfernung von dreihundert Schritten an einer Wegbiegung zwei Männergestalten auf.

Es waren Wolston und Ernst.

Wo war denn Jack?... Er konnte doch nicht weit, jedenfalls nur um einige Flintenschußlängen zurück sein...

Laute Freudenrufe empfingen Wolston und Ernst, da diese aber keinen Schritt vorwärts thaten, eilten die anderen auf sie zu.

»Und Jack?... Wo ist Jack?« fragte Frau Zermatt.

Weder Jack noch sein Hund Falb war zur Stelle.

»Was aus unserem armen Jack geworden ist, wissen wir leider nicht.«

Wolston berichtete darauf, wiederholt durch das Schluchzen seiner Zuhörer unterbrochen, etwa das Folgende:

Der Abstieg vom Pic bis zum Fuße der Kette war binnen zwei Stunden erfolgt. Jack, der zuerst unten anlangte, erlegte am Saume des Tannenwaldes einiges Wild. Man aß noch vor der Grotte zu Abend, ließ das draußen entzündete Feuer brennen und zog sich in das Innere zurück. Einer überwachte den Eingang, während allemal die beiden anderen, doch zu jeder Abwehr gerüstet, einige Stunden schliefen.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall, höchstens war von Zeit zu Zeit in der Ferne das Brüllen von Raubthieren zu vernehmen.

Am nächsten Morgen machten sich Wolston und die beiden Brüder bei Sonnenaufgang wieder auf den Weg.

Vom Gipfel des Pics aus hatte Ernst erkannt, daß der Wald sich nach Osten zu mehr lichtete, und auf seinen Vorschlag hin wandten sich alle Drei nach dieser Seite. Sie kamen damit schneller vorwärts, während der Weg von der Bergkette bis zum Grünthale sich höchstens um eine Lieue verlängerte.

Gegen elf Uhr wurde Rast gemacht. Nach eingenommenem Frühstück drangen alle in den weniger dichten Hochwald ein, der ein bequemeres Fortkommen gestattete.[236]

Gegen zwei Uhr ließ sich ein Geräusch von schweren Schritten vernehmen und gleichzeitig erschallten unter den Bäumen einige trompetenähnliche Töne.

Eine Täuschung blieb hier ausgeschlossen: das war ein Trupp von Elephanten, die durch das Tannenholz trotteten.

Ein Trupp?... Nein, es zeigten sich nur drei dieser Dickhäuter, zwei sehr große, der Vater und die Mutter, und ein dritter, ein Elephantenbaby, das jene begleitete.

Jack hatte, wie der Leser weiß, schon immer das lebhafte Verlangen gehabt, ein solches Thier einzufangen, um es zu zähmen. Der kühne junge Mann wollte die sich hier bietende Gelegenheit benutzen, und das führte dazu, daß man ihn verlor.

Gegenüber der Möglichkeit eines Angriffes hatten sich Wolston, Jack und Ernst zur Vertheidigung bereit gemacht und warteten mit den schußfertigen Gewehren in der Hand, trotzdem aber etwas besorgt um den möglichen Ausgang eines Kampfes mit den gewaltigen Thieren.

Als die Elephanten die Waldblöße erreicht hatten, blieben sie stehen, doch als sie drei Menschen bemerkten, wendeten sie sich, ohne gerade zu eilen, nach links und trotteten tiefer in den Hochwald hinein.

Jede Gefahr war also schon vorüber, als Jack, von unbezwinglicher Jagdlust getrieben, hinter den Elephanten, nur von seinem Falb begleitet, verschwand.

»Jack!... Jack! rief Wolston.

– Jack, komm doch zurück! Komm zurück!« rief Ernst.

Entweder hörte der Unkluge nicht oder – wahrscheinlicher – wollte er nichts hören.

Noch einmal tauchte er im Dickicht auf, dann verlor man ihn aus den Augen.

Arg beunruhigt folgten Wolston und Ernst seinen Spuren und hatten in wenigen Augenblicken die Lichtung erreicht. Sie war leer.

In diesem Augenblicke hörte man wieder das Stampfen schwerer Füße, doch ließ sich kein Schuß vernehmen.

Hatte nun Jack sich seines Gewehres nicht bedienen wollen oder hatte er das nicht mehr gekonnt?

Jedenfalls mußte es schwierig werden, ihn einzuholen, da es auf dem mit dürren Zweigen und welken Blättern bedeckten Erdboden ganz unmöglich war, Fußspuren von ihm zu erkennen.[237]

Allmählich erstarb in der Ferne jedes Geräusch; einige Zweige, die sich vorher bewegt hatten, wurden wieder ruhig, und nichts unterbrach mehr das Schweigen des Waldes.

Wolston und Ernst durchstreiften bis zum Abende die Umgebung der Lichtung; sie drängten sich in das dichteste Buschwerk und riefen nach Jack, so laut sie konnten. Sollte der Unglückliche das Opfer seiner Unbedachtsamkeit geworden sein? Hätte er einem Angriffe der Elephanten nicht ausweichen können? Läge er regungslos oder gar todt in irgend einem Winkel des dunkeln Gehölzes?

Kein Ruf, kein Schrei drang Wolston und Ernst zu Ohren; Flintenschüsse, die sie wiederholt abgaben, blieben ohne Antwort.

Als es Nacht geworden war, sanken beide, erschöpft vor Anstrengung und gequält von Unruhe, am Fuße eines Baumes nieder, lauschten aber immer gespannt auch auf das leiseste Geräusch. Sie hatten ein tüchtiges Feuer angezündet, in der Hoffnung, daß Jack, durch den Schein der Flammen geleitet, sie auffinden könnte, und sie schlossen auch selbst die Nacht über kein Auge.

Zu hören war in den langsam hinschleichenden Stunden aber nichts als das Heulen und Brüllen von Raubthieren, die zuweilen recht nahe zu sein schienen. Das erweckte den Gedanken, daß Jack, wenn er sich auch nicht gegen die Elephanten zu vertheidigen gehabt hätte, doch einem noch gefährlicheren Angriffe durch Tiger, Löwen oder Pumas erlegen sein könnte.

Dennoch durften sie ihn noch nicht als verloren aufgeben. Der ganze nächste Tag wurde deshalb verwendet, im Tannenwalde nach Spuren von ihm zu suchen. Vergeblich. Wolston und Ernst erkannten wohl hier und da an niedergetretenem Grase, zerbrochenen Zweigen und ausgerissenen Büschen, daß die Elephanten an diesen Stellen vorübergekommen waren, von Jack aber fanden sie nichts... weder etwas von den suchen, die er bei sich trug, noch sein Gewehr oder seine Jagdtasche, ebensowenig aber eine Andeutung, daß er verwundet worden wäre... kein blutiges Fleckchen, doch auch keine Fußtapfen, die auf seine Fährte hätten leiten können.

So herzzerreißend der Gedanke, ohne ihn zurückzukehren, auch war, mußten sie nach ihren vergeblichen Bemühungen doch zu einem Entschlusse kommen. Wolston sachte deshalb Ernst zu überzeugen, daß es auch im Interesse seines Bruders wäre, nun schleunigst nach Felsenheim zurückzukehren und von dort aus die Nachforschungen unter günstigeren Bedingungen wieder aufzunehmen.[238]

Ernst wäre gar nicht imstande gewesen, hierüber erst noch zu verhandeln. Er fühlte es, daß Wolston recht habe, und folgte ihm, fast ohne Bewußtsein dessen, was er that. Beide durchstreiften zum letztenmale den Theil des Tannenwaldes, den sie schon am Abend vorher abgesucht hatten.

Dann wanderten sie die Nacht hindurch und den ganzen folgenden Tag, gönnten sich nur wenige Stunden der Ruhe und brachen ungesäumt wieder auf, und am Morgen waren sie dann am Eingange der Schlucht der Cluse angelangt.

»Mein Sohn! Mein armer Sohn!« hatte Frau Zermatt wiederholt schluchzend gerufen.

Als diese Worte dann noch einmal ihren Lippen entflohen, war sie, zusammenbrechend, Frau Wolston und deren Tochter, die neben ihr niederknieten, in die Arme gefallen..

Der ältere Zermatt und Ernst konnten, von Schmerz übermannt, kein Wort hervorbringen.

Da begann endlich Wolston entschlossenen Tones:

»So hört, was wir zu thun haben, ohne einen Augenblick zu zögern...«

Der ältere Zermatt trat auf ihn zu.

»Nun... was denn? fragte er.

– Wir begeben uns eiligst nach Felsenheim und machen uns dort noch heute wieder auf, um Jacks Spuren aufzusuchen. Ich habe alles reiflich überdacht, lieber Zermatt, und bitte Sie, meinen Vorschlag anzunehmen.«

Ja, sie mußten sich wohl Wolston's Beschlüssen fügen. Er allein hatte sich genug Kaltblütigkeit bewahrt, einen klugen Rath zu geben, und ihm hatten sie blindlings zu folgen.

»Jack ist in dem nahe der Küste gelegenen Theile des Waldes verschwunden, fuhr er fort. Nach dieser Gegend haben wir uns auf kürzestem Wege zunächst zu begeben. Doch dahin wieder durch die Cluse und über das Land zu gehen, das wäre zu weit. Wir wollen lieber die Pinasse benützen. Der Wind ist jetzt günstig, das Cap im Osten zu umschiffen, und nachher segeln wir mit dem Seewinde längs des Ufers hin. Fahren wir noch heut' Abend ab, so erreichen wir vor Tagesanbruch die Mündung des Montrose; diese lassen wir hinter uns und gehen an dem Theile des Ufers vor Anker, wo die Bergkette ausläuft. Dorthin zu war Jack, der durch den Tannenwald lief, verschwunden. Begeben wir uns zu Wasser nach dieser Gegend, so ersparen wir gut zwei Tage!«[239]

Der Vorschlag fand ohne Widerrede Annahme. Da er den Vortheil eines Zeitgewinnes versprach, durfte man nicht zaudern und keine Stunde verlieren, wenn man noch den Wind ausnützen wollte, der es der »Elisabeth« bei zwei- bis dreimaligem Kreuzen ermöglichen konnte, über das Cap im Osten hinauszukommen.

Die beiden Familien bestiegen wieder den Wagen, dessen Gespann so lebhaft angetrieben wurde, daß es anderthalb Stunden später schon bei Felsenheim anlangte.

Nun war es die erste Sorge, die Pinasse zur sofortigen Abfahrt klar zu machen und für mehrere Tage zu verproviantieren. Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah wollten mitfahren; sie hätten niemals zugestimmt, jetzt in Felsenheim zurückzubleiben, und dem älteren Zermatt kam es auch gar nicht in den Sinn, ihnen das zuzumuthen.

Am Nachmittage, als die Thiere alle für eine Woche mit Futter versorgt waren, sollte die Pinasse eben absegeln, als sie plötzlich ein widriger Umstand davon abhielt. Gegen drei Uhr begann der Wind, der eine Zeitlang abgeflaut war, heftig aus Osten zu wehen. Obwohl draußen schon ein starker Seegang herrschen mochte, hätte die »Elisabeth« doch nicht gezögert, sich über das Cap im Osten hinauszuwagen. Wie konnte sie jetzt aber gegen die mächtigen Wellen, die von der offenen See her hereinrollten, aufkommen? Schon von ihrem Ankerplatze abzukommen, bot die größten Schwierigkeiten, und an der Haifischinsel vorüberzusegeln, mußte ganz unmöglich sein.

Das war zum verzweifeln!... Warten sollen, warten, wo vielleicht die geringste Verzögerung den Erfolg der Nachforschungen vereitelte. Und wenn nun der Gegenwind anhielt, wenn sich am Abend und in der nächsten Nacht der Zustand der Atmosphäre nicht änderte oder vielleicht gar verschlimmerte, was dann?

»Vorwärts also, sagte Wolston wie als Antwort auf die Fragen, die jetzt allen auf den Lippen lagen, was wir zu Wasser nicht ausführen können, versuchen wir zu Lande. Der Wagen trete an Stelle der Pinasse! Machen wir ihn fertig, den Weg nach Eberfurt einzuschlagen!«

Sofort begann man mit den nöthigen Vorbereitungen. Ging die Reise mit dem Wagen vor sich, so mußte eine Richtung nach Südosten eingeschlagen werden, um den Tannenwald zu umgehen, durch den – wenigstens in dem Theile vor der Bergkette, den Wolston und Ernst durchmessen hatten – kein[240] Fuhrwerk hätte fortkommen können.


Unten an diesem war ein Lager aufgeschlagen. (S. 248.)
Unten an diesem war ein Lager aufgeschlagen. (S. 248.)

Von da aus wollte man versuchen, das Ostende des Hochwaldes, also nahezu die Stelle, zu erreichen, wo die »Elisabethankern sollte, wenn der Wind ihr das Auslaufen gestattet hätte Leider ergab sich hieraus eine Verzögerung von sechsunddreißig Stunden, die sich jedoch in keiner Weise vermeiden ließ.

Die Hoffnung auf einen Umschlag des Wetters ging nicht in Erfüllung. Immer mehr auffrischend wehte der Wind aus Nordosten. Am Abend donnerten gewaltige Wogen an das Ufer bei Felsenheim. Die Nacht drohte noch schlimmer[241] zu werden, und unter diesen Umständen blieb nichts anderes übrig, als auf die Seefahrt zu verzichten.

Wolston ließ also die bereits an Bord geschafften Mundvorräthe wieder herausholen und nach dem Wagen schaffen. Gleichzeitig besorgte man noch alles für die beiden Büffel und den Onagre für die morgen ganz früh geplante Abfahrt.

Frau Zermatt war ein Bild des Jammers und konnte kaum reden.

»Mein Sohn! Mein armer Sohn!« seufzte sie nur mit halb geschlossenen Lippen.

Plötzlich, gegen acht Uhr, zeigten sich die Hunde Türk und Braun sehr aufgeregt. Wolston, der sie beobachtete, verwunderte sich nicht wenig, sie immer längs der Einfriedigung hin und her laufen zu sehen. Braun vor allem konnte sich gar nicht an einundderselben Stelle halten.

Zwei Minuten später ließ sich von der Ferne her ein deutliches Bellen vernehmen.

»Das ist Falb!« rief Ernst.

Falb... Der Hund Jacks! Braun und Türk erkannten ihn ebenfalls und antworteten mit lautem, freudigem Gebell.

Frau Zermatt und ihr Gatte, Frau Wolston und Annah stürmten vor die Wohnung hinaus.

Fast gleichzeitig erschien Jack an der Eingangsthür und warf sich seiner Mutter in die Arme.

»Ach ja... gerettet, rief er, doch vielleicht droht uns eine ernste Gefahr!

– Eine Gefahr? Welche? fragte Zermatt, der seinen Sohn heranzog und ans Herz drückte.

– Die Wilden, antwortete Jack, die Wilden, die auf der Insel gelandet sind!«[242]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 229-243.
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