Zweites Capitel.
Die Rückkehr des Kajak. – Was man über den Zwischenfall dachte. – Entschlüsse. – Drei Tage lang Sturm. – Umschiffung des Caps im Osten. – Das vor Anker liegende Schiff.

[19] Nach der doppelten Detonation auf der Haifischinsel gaben die Echos von Felsenheim sie von Fels zu Felsen wieder. Herr und Frau Zermatt, Jenny, Ernst und Franz konnten noch, als sie nach dem Strande eilten, den weißen Dampf von den beiden Geschützen sehen, der langsam nach Falkenhorst hin zog. Ihre Taschentücher schwenkend, antworteten sie mit einem Hurrah, das zwar weniger laut ausfiel, doch gewiß tief aus dem Herzen kam.

Darauf gingen alle schon wieder daran, ihre Beschäftigung aufzunehmen, während Jenny noch einmal durch ein Fernrohr nach dem Eiland hinaussah.

»Da draußen kommen Fritz und Jack zurück, sagte sie.

– Schon jetzt? meinte Ernst. Sie haben doch kaum Zeit gehabt, die Kanonen wieder zu laden, und müssen einen besonderen Grund haben, so schnell heimzukehren.

– Ja wirklich, sie scheinen es eilig zu haben,« bestätigte der ältere Zermatt, der ebenfalls zu erkennen glaubte, daß das Boot sich von der Insel bereits entfernt hatte.

Entschieden kannte der sich bewegende Punkt, den man durch das Fernrohr etwas rechts von der Haifischinsel erblickte, nichts anderes sein, als das leichte Fahrzeug, das, von den Pagaien getrieben, offenbar rasch durch das Wasser glitt.

»Das ist mindestens auffallend, bemerkte Frau Zermatt. Sollten sie uns eine Neuigkeit, vielleicht gar eine wichtige Neuigkeit mitzutheilen haben?

– Das glaub' ich fast,« antwortete Jenny.[19]

Ob diese Neuigkeit eine gute oder schlechte wäre, das fragte sich wohl ein jeder, doch freilich, ohne es beantworten zu können.

Alle Blicke waren nach dem Kajak gerichtet, der von Minute zu Minute größer erschien. Nach einer Viertelstunde befand er sich halbwegs zwischen der Haifischinsel und der Mündung des Schakalbaches. Wenn Fritz das kleine Segel nicht beigesetzt hatte, lag das nur daran, daß sich der Wind zu sehr abgeschwächt hatte, und ihre Pagaien tüchtig handhabend, kamen die beiden Brüder auf der kaum sich kräuselnden Wasserfläche schneller als der Wind selbst vorwärts.

Da fiel es dem älteren Zermatt ein, darauf zu achten, ob diese überstürzte Rückkehr nicht vielleicht eine Flucht wäre, ob nicht eine Pirogue mit Wilden, die den Kajak verfolgten, um die Ecke der Insel käme oder ob gar ein Seeräuberboot vom offenen Meere her auftauchen sollte. Diesen beunruhigenden Gedanken behielt er jedoch für sich. In Begleitung Betsies, Jennys, Ernsts und Franzens begab er sich nach der Bachmündung hinaus, um von Fritz und Jack sogleich, wenn sie ans Land stießen, Aufklärung zu erhalten.

Eine Viertelstunde später hielt der Kajak in der kleinen Bucht an der ersten Felsenbank an, die gewöhnlich als Landungsstelle diente.

»Was ist denn geschehen?« fragte der ältere Zermatt.

Jack und Fritz sprangen ans Ufer. Fast außer Athem, das Gesicht von Schweiß bedeckt, die Arme von Ermüdung halb gelähmt, konnten sie anfänglich nur durch eine Bewegung antworten, indem sie nach dem Uferlande im Osten der Rettungsbai hinwiesen.

»Was war denn nur los? fragte jetzt Franz, der Fritzens Arm ergriff.

– Ihr habt also nichts gehört? erwiderte dieser endlich, nachdem er die Sprache wieder etwas gewonnen hatte.

– O doch, die zwei Kanonenschüsse, die Ihr von der Haifischinsel abgefeuert habt, sagte Ernst.

– Nein, entgegnete Jack, die unseren mein' ich nicht, doch die, die uns geantwortet haben.

– Wie? Andere Kanonenschüsse? rief der ältere Zermatt erstaunt.

– Wär' es möglich?... Wär' es möglich?« wiederholte Frau Zermatt.

Jenny war bleich vor Erregung an Fritz herangetreten.

»Ihr habt von jener Seite her Kanonendonner gehört? erkundigte sie sich.

– Ja, Jenny, bestätigte Fritz, drei Schüsse in regelmäßigen Zwischenräumen.«[20]

Fritz sprach mit so zuversichtlichem Tone, daß an einen Irrthum seinerseits kaum zu denken war. Uebrigens bekräftigte auch Jack noch die Aussage seines Bruders.

»Es ist ganz unzweifelhaft, fügte er ferner hinzu, daß sich ein Schiff in der Nähe der Neuen Schweiz befindet, und daß seine Aufmerksamkeit durch die Entladung unserer zwei kleinen Geschütze erregt morden ist.

– Ein Schiff... ein Schiff!... murmelte Jenny.

– Und Ihr hörtet, daß der Knall von Osten her schallte? fragte der ältere Zermatt noch einmal.

– Ja gewiß... von Osten her, und ich schließe daraus, daß die Rettungsbai höchstens um eine oder zwei Lieues vom offenen Meere entfernt sein kann.«

Das konnte wohl zutreffen; wir haben indeß schon erwähnt, daß die entlegeneren Uferstrecken der Rettungsbai noch niemals besucht und besichtigt worden waren.

Man wird sich leicht vorstellen können, welchen Empfindungen, nach einem Augenblick der Ueberraschung – der Verblüffung könnte man sagen – sich die Insassen der Neuen Schweiz hingaben. Ein Schiff... ohne Zweifel war ein solches in der Nähe, ein Schiff, von dem aus der Geschützdonner vom Winde bis nach der Haifischinsel getragen worden war!... War das nicht etwas wie ein Band, das dieses unbekannte Fleckchen Erde, worauf die Schiffbrüchigen des »Landlord« seit elf Jahren lebten, mit der bewohnten Welt verknüpfte? Die Kanone ist die Stimme der Seeschiffe... durch sie sprechen sie auf weite Entfernungen hin und diese Stimme hatte sich jetzt zum erstenmale vernehmen lassen, seit die Batterie der Haifischinsel den Anfang und das Ende der schönen Jahreszeit begrüßte. Es schien, als ob dieser Vorfall, auf den sie kaum je noch gerechnet hatten, den Vater Zerniatt und die Seinen ganz unglaublich überrascht, als ob jenes Schiff eine Sprache gesprochen hätte, die sie verlernt hatten.

Sie beruhigten sich jedoch und dachten nur an die guten Seiten der neuen Sachlage. Dieses von fernher bis zu ihnen gedrungene Geräusch gehörte nicht zu den Geräuschen der Natur, an die sie gewöhnt waren, nicht zu dem Aechzen und Knarren der Bäume, wenn der Sturm sie rüttelte, nicht zum Rauschen und Brüllen des Meeres bei entfesseltem Orkane oder zu dem Donnergrollen bei den heftigen Gewittern dieser Tropengegend. Nein, es war sozusagen ein Werk von Menschenhand! Der Kapitän, die Mannschaft des Fahrzeugs, das hier das Meer kreuzte, mußten nun wissen, daß dieses Land nicht unbewohnt[21] war. Ankerten sie in der Bai, so begrüßte voraussichtlich ihre Flagge noch die der Neuen Schweiz.

Alle sahen in dem Zwischenfalle nichts anderes, als die Gewißheit einer baldigen Erlösung, Frau Zermatt fühlte ihre Befürchtungen vor der Zukunft schon verschwinden, Jenny gedachte ihres Vaters, den wiederzusehen sie kaum noch gehofft hatte, der ältere Zermatt und seine Söhne erwarteten wieder mit ihresgleichen zu verkehren, und vor Freude fielen sie einander in die Arme.

Der erste Eindruck, den die hier verlassen lebende Familie empfing, war also derselbe, den etwa die Erfüllung der innigsten Wünsche hervorbringt. Die Augen nur auf das gerichtet, was dieses Ereigniß ihr Gutes versprach, schwelgte sie in frohester Hoffnung und war voll aufrichtiger Dankbarkeit gegen den Himmel.

»Wir haben zuerst Gott zu danken für den Schutz, den er uns immer gewährt hat, begann Franz. Er ist es, dem wir unsere Erkenntlichkeit darzubringen, an den wir unsere Gebete zu richten haben!«

Es war ganz natürlich, daß sich Franz in dieser Weise ausdrückte. Von jeher erfüllte ihn schon eine tiefe Religiosität, und diese hatte, je mehr er heranreifte, nur noch zugenommen. Ein offener, ehrlicher Charakter, hegte er die wärmste Zuneigung für die Seinigen, d. h. für alles, was bis jetzt für ihn die Menschheit gewesen war. Der jüngste der Brüder, spielte er doch etwa die Rolle eines Vermittlers und Berathers gelegentlich der seltenen Reibungen, die zwischen den Gliedern dieser so herzensinnigen Familie vorkamen. Was wäre wohl sein Beruf gewesen, wenn er in seinem Mutterlande gelebt hätte? Er würde sich in der Medicin, in der Rechtskunde und in der Gottesgelehrtheit unterrichtet haben, um dem tief in ihm schlummernden Bedürfnisse, für alle opferfreudig einzutreten, genug thun zu können, einem Bedürfnisse, das mit ihm ebenso eng verwachsen war, wie das zu körperlicher Thätigkeit bei Fritz und das zu geistiger bei Ernst. Er richtete an die Vorsehung also ein inbrünstiges Gebet, dem sich sein Vater, seine Mutter, Jenny und seine Brüder anschlossen.

Unter den gegebenen Verhältnissen galt es nun, keine Stunde zu verlieren. Die wahrscheinlichste Annahme ging dahin, daß jenes Schiff, dessen Anwesenheit man nicht bezweifeln konnte, in einem der Ufereinschnitte verankert läge, nicht aber, daß es etwa auf offenem Meere an der Neuen Schweiz vorübersegelte. Vielleicht veranlaßten es die Kanonenschüsse, worauf es geantwortet hatte, eine nähere Besichtigung der Umgegend vorzunehmen; vielleicht versuchte es[22] sogar nach Umschiffung des Caps, das diese an der Ostseite begrenzte. in die Rettungsbai einzudringen.

Diese Ansichten äußerte Fritz und er schloß seinen Gedankengang mit den Worten:

»Unsere nächste Aufgabe ist es nun, dieses Schiff aufzusuchen, indem wir der östlichen, jedenfalls von Norden nach Süden verlaufenden Küste nachgehen.

– Und wer weiß, ob wir damit nicht schon zu lange gezögert haben, sagte Jenny.

– Das glaub' ich nicht. meinte Ernst. Es ist gar nicht anzunehmen, daß der Kapitän jenes Schiffes, was für eines es auch sein mag, nicht versucht hätte, Aufklärung zu erhalten...

– Macht keine unnützen Worte! fiel Jack ein. Vorwärts, wir wollen aufbrechen...

– Dazu muß erst die Schaluppe zurecht gemacht werden, bemerkte der ältere Zermatt.

– Das dauert zu lange, entgegnete Fritz. Der Kajak thut's auch.

– Meinetwegen!« stimmte der ältere Zermatt bei.

Dann setzte er aber hinzu:

»Von Wichtigkeit ist es jedenfalls, recht vorsichtig zu Werke zu gehen. Daß malaiische oder australische Eingeborene gelandet wären, glaube ich zwar nicht; auf dem Indischen Ocean treiben aber Seeräuber ihr Unwesen, und von solchen hätten wir das Schlimmste zu befürchten...

– Ja freilich, ließ sich Frau Zermatt vernehmen, und besser, wir lassen das Schiff wieder davonsegeln, wenn es...

– Nun, ich werde mich selbst aufmachen, erklärte der ältere Zermatt, und ehe ich mich mit den Fremdlingen in Verbindung setze, werd' ich mich schon zu vergewissern suchen, mit wem wir es zu thun haben.«

Dieser Plan war ja vernünftig, es galt nur noch, ihn auszuführen. Zum Unglücke schien noch in den ersten Vormittagsstunden das Wetter umzuschlagen. Der Wind, der sich vorher fast ganz gelegt hatte, war nach Westen umgesprungen und wurde zusehends frischer. Mit dem Kajak hätte man sich kaum auf die Bai hinaus, nicht einmal nach der Haifischinsel zu, wagen dürfen. Der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt, die von der Abendseite her aufstiegen, mit den charakteristischen Sturmwolken, von denen der Seemann sich nichts Gutes versieht.[23]

Konnte jetzt aber vom Kajak nicht mehr die Rede sein, und mußte man eine oder zwei Stunden mit dem Zurechtmachen verlieren, so fragte es sich nun, ob überhaupt auch die Schaluppe zu verwenden wäre, da jenseits der Einfahrt zur Bai voraussichtlich ein ziem lich schwerer Seegang herrschte.

Zu seinem lebhaften Bedauern mußte der ältere Zermatt auch auf dieses Fahrzeug verzichten. Noch vor der Mittagsstunde wühlte ein starker Sturm das Gewässer der Bai derartig auf, daß an die Benützung der Schaluppe nicht mehr zu denken war. War zur jetzigen Jahreszeit auch nicht ein längeres Anhalten des so plötzlichen Witterungsumschlages zu befürchten, so vereitelte dieser doch alle kaum entworfenen Pläne, und wenn der heftige Wind etwa vierundzwanzig Stunden lang andauerte, war es voraussichtlich zu spät, das vermuthete Schiff noch aufzusuchen. Bot diesem sein Ankerplatz keinen sicheren Schutz, so hatte es ihn jedenfalls verlassen müssen, und bei dem herrschenden Westwinde verlor es die Küsten der Neuen Schweiz gewiß bald aus dem Gesicht.

Andererseits – Ernst wies auf diese Möglichkeit hin – versuchte das Schiff vielleicht, in die Rettungsbai selbst einzulaufen, wenn es ihm gelang, das Cap im Osten zu umsegeln.

»Das ist thatsächlich möglich, antwortete der ältere Zermatt, und wäre sogar zu wünschen, vorausgesetzt, daß wir es nicht mit Seeräubern zu thun haben....

– Wir werden aufpassen, Vater, sagte Franz. Wir bleiben den ganzen Tag auf dem Ausguck... auch die ganze Nacht hindurch.

– Doch wenn wir uns nur nach dem Prospecthügel oder wenigstens nach Falkenhorst begeben könnten, setzte Jack hinzu; von da aus läßt sich das Meer besser übersehen.«

Das war wohl richtig, blieb aber vorläufig ausgeschlossen. Im Laufe des Nachmittags wurde das Wetter noch schlimmer; die Kraft des Sturmes verdoppelte sich. Dazu stürzte ein so massenhafter Regen herab, daß der Schakalbach aus den Ufern trat und die kleine, darüberführende Brücke enfernt werden mußte. Zermatt und seine Söhne blieben immer auf der Wacht und sie hatten arg zu thu »die Ueberschwemmung von der Einfriedigung Felsenheims abzuhalten. Betsie und Jenny konnten keinen Schritt nach außen thu. Noch nie war ein Tag hier so traurig verstriche und es erschien nur zu gewiß, daß das Schiff, wenn es einmal weitergesegelt war, in diese Gegend kaum je zurückkehren werde.[24]

Mit Einbruch der Nacht wuchs die Gewalt des Sturmes noch weiter Auf den Rath des älteren Zermatt hin, den seine Kinder nöthigten, sich einige Ruhe zu gönnen, lösten Fritz, Ernst, Jack und Franz einander bis zum Tagesanbruche von der Wache ab. Von der Galerie des Hauses, die sie nie verließen, konnten sie das Meer bis zur Haifischinsel hin übersehen. Wäre ein Schiffslicht in der Einfahrt zur Bai aufgetaucht, so hätten sie es bemerkt und den etwaigen Donner einer Kanone hätten sie gehört, trotz des Gebrauses der Wellen, die sich mit furchtbarer Gewalt am Felsenufer des Landeinschnittes an der Bachmündung[25] brachen.


Den Wachstuchmantel auf den Schultern, gingen sie nach der Mündung.
Den Wachstuchmantel auf den Schultern, gingen sie nach der Mündung.

Als der wüthende Wind sich einmal mäßigte, gingen alle vier, den Wachstuchmantel auf den Schultern, nach der Mündung des Schakalbaches, konnten sich hier aber zum Glücke überzeugen, daß die Schaluppe und die Pinasse noch sicher an ihrem Platze lagen.

Das schlimme Wetter hielt volle vierundzwanzig Stunden an. Kaum vermochten in diesem Zeitraume Zermatt und seine Söhne bis halb nach Falkenhorst vorzudringen, um das Meer im weiteren Umfange übersehen zu können. Die weite Wasserfläche mit hochgehenden, sthaumgekrönten Wogen zeigte sich verödet. Es hätte sich bei diesem Sturme übrigens auch kein Schiff so nahe aus Land heranwagen dürfen.

Zermatt und seine Gattin hatten alle kaum aufgetauchten Hoffnungen schon wieder aufgegeben. Ernst, Jack und Franz, die von ganz jungen Jahren her das Leben hier gewohnt waren, bedauerten vielleicht gar nicht, daß jene Gelegenheit, es zu ändern, verloren gegangen schien. Fritz beklagte es freilich um seiner Brüder oder auch mehr um Jennys willen.

War jenes Schiff wirklich abgesegelt und sollte es in diese Meeresgegend nicht wiederkehren, wie hart enttäuscht mußte sich die Tochter des Obersten Montrose dann fühlen!

Die Möglichkeit, wieder zu ihrem Vater zu kommen, war ihr damit ja abgeschnitten. Wie lange Zeit würde wohl vergehen, ehe sich eine Gelegenheit, nach Europa zurückzugelangen, wieder darbot, wenn dieser Fall überhaupt noch einmal eintrat.

»Lassen wir die Hoffnung nicht sinken! redete Fritz dem jungen Mädchen zu, dessen Schmerz auch ihm so nahe ging. Jenes Schiff oder irgend ein anderes wird wieder hierherkommen, da jetzt das Vorhandensein der Neuen Schweiz bekannt geworden ist!«

In der Nacht vom 11. zum 12. October hatte sich der Wind mehr nach Norden gedreht und das schlechte Wetter nahm damit ein Ende. Im Inneren der Rettungsbai beruhigte sich das Meer sehr bald und mit Sonnenaufgang schäumten die Wellen am Ufer von Felsenheim schon nicht mehr empor.

Die ganze Familie trat ins Freie und ließ die Blicke in der Richtung nach dem offenen Meere hinausschweifen.

»Nun wollen wir sofort nach der Haifischinsel fahren, schlug Jack den anderen vor, selbst mit dem Kajak ist keine Gefahr mehr dabei.

– Und was thätet Ihr dort? fragte Frau Zermatt.[26]

– Vielleicht liegt jenes Schiff dort im Schutze des Ufers noch vor Anker... und selbst wenn der Sturm es genöthigt hätte, die hohe See zu gewinnen, könnte es ja wieder zurückgekehrt sein. Wir geben dort einige Kanonenschüsse ab, und wenn darauf eine Antwort erfolgt...

– Ach ja, Fritz, ja! rief Jenny, die gern auf dem Eiland selbst mitgewesen wäre.

– Fritz hat recht, erklärte der Vater Zermatt, wir dürfen nichts außer acht lassen. Ist das Schiff noch da, so wird es uns hören und sich ebenfalls bemerkbar machen.«

Der Kajak war schon in wenigen Minuten zur Abreise fertig; als aber Fritz darin Platz nehmen wollte, rieth ihm sein Vater, mit seiner Mutter, seinen Brüdern und Jenny in Felsenheim zu bleiben. Ihn sollte jetzt Jack begleiten. Er werde eine Flagge mitnehmen, um damit zu melden, ob sie gute Nachricht mit heimbringen würden oder ob ihnen irgendwelche Gefahr drohe Im zweiten Falle werde er die Flagge, nachdem er sie geschwenkt hätte, ins Meer schleudern und Fritz sollte dann die ganze Familie nach Falkenhorst überführen. Er selbst und Jack würden auch schleunigst dahin kommen und im Falle der Noth wollten sie sich entweder nach den Meiereien von Waldegg oder Zuckertop, oder sogar nach der Einsiedelei Eberfurt zurückziehen. Schwenkte er die Flagge dagegen nur zweimal und pflanzte er sie darauf neben der Batterie auf, so läge nichts Beunruhigendes vor und Fritz sollte seine Rückkehr in Felsenheim abwarten.

Natürlich waren die erwähnten Signale von der Mündung des Schakalbaches aus, wenigstens mit Hilfe eines Fernrohres, ganz deutlich zu erkennen.

Jack zog den Kajak an den felsigen Uferrand heran. Sein Vater und er stiegen hinein. Wenige Kabellängen vor dem Landeinschnitte der Bachmündung verminderte sich der Wellenschlag schon zu einem friedlichen Plätschern. Von den Pagaien getrieben, flog das leichte Boot schnell auf die Haifischinsel zu.

Dem älteren Zermatt klopfte das Herz recht fühlbar, als sie an dem Eiland landeten und dann eiligst den Hügel hinanliefen.

Beim Schuppen oben angelangt, machten sie Halt. Von hier aus konnten sie die Wasserfläche von dem Vorlande im Osten bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung übersehen. Kein Segel war zu erblicken auf dem öden Meere, das draußen noch immer einen starken Wellenschlag zeigte.

Als dann beide unter den Schuppen zurücktraten, fragte der ältere Zermatt noch einmal:[27]

»Dein Bruder und Du, Ihr seid also sicher, gestern gehört zu haben...

– Vollkommen sicher! antwortete Jack. Es waren unzweifelhaft Kanonenschüsse dort von Osten her...

»Gott gebe, daß es so ist!« sagte der ältere Zermatt.

Da die beiden kleinen Geschütze von Fritz gleich wieder geladen worden waren, brauchten sie jetzt nur abgefeuert zu werden.

»Jack, sagte dessen Vater, Du wirst zwei Schüsse im Zwischenraume von zwei Minuten abgeben und nach der Wiederladung des ersten Rohres noch ein drittesmal feuern.

»Wie Du willst, Vater, antwortete Jack. Und Du?...

– Ich werde mich an den nach Osten zugewendeten Rand der Hügelfläche stellen, und wenn eine Detonation von dieser Seite her käme, müßte ich sie da ja deutlich hören.«

Da überdies der Wind nach Norden umgesprungen war, doch nur sehr schwach wehte, erschienen alle Nebenumstände so günstig wie möglich. Der Donner von Geschützen, ob er nun von Westen oder von Osten her kam, mußte, wenn die Entfernung einundeinehalbe Lieue nicht übertraf, leicht vernehmbar sein.

Der ältere Zermatt nahm also an der Seite des offenen Schuppens Platz.

Unter Einhaltung der verabredeten Zwischenräume gab Jack jetzt dreimal Feuer. Dann eilte er neben seinen Vater hin und beide blieben, das Ohr nach Osten gewendet, regungslos stehen.

Da schallte eine Detonation deutlich bis zur Haifischinsel herüber.

»Vater... Vater... rief Jack, das Schiff ist noch da!

– Hören wir erst weiter!« antwortete Zermatt.

Sechs andere Schüsse folgten in regelmäßigen Zwischenräumen dem ersten. Das noch unsichtbare Schiff gab also nicht nur Antwort, sondern schien auch sagen zu wollen, daß es damit nicht sein Bewenden haben solle.

Nach zweimaligem Schwenken der Flagge, stellte der ältere Zermatt diese nun neben der Batterie auf.

War das Krachen der Geschütze auch nicht bis Felsenheim hörbar gewesen, so wußte man dort jetzt, daß keine Gefahr zu befürchten sei.

Uebrigens rief Jack, eine halbe Stunde nach der Rückkehr in die kleine Bucht, plötzlich

»Ein siebenter Schuß!... Sie haben siebenmal gefeuert!

– Und der Himmel sei siebenmal dafür gesegnet!« setzte Franz hinzu.[28]

Eine Beute der lebhaftesten Erregung, ergriff Jenny Fritzens Hand. Dann warf sie sich der Frau Zermatt in die Arme, die ihre Thränen durch innige Küsse trocknete.

An der Anwesenheit eines Schiffes konnte also kein Zweifel mehr sein, da dieses der Batterie der Haifischinsel geantwortet hatte. Aus einem oder dem anderen Grunde mußte es in einer der Buchten an der Küste im Osten vor Anker gegangen sein und war vielleicht sogar während des Sturmes nicht genöthigt gewesen, diese zu verlassen. Jetzt aber segelte es gewiß nicht ab, ohne mit den Bewohnern dieses unbekannten Landes in Verbindung getreten zu sein. Erschien es da nicht rathsamer, nicht erst darauf zu warten, daß es von der Bai aus in Sicht kam?

»Nein... nicht warten! Vorwärts! Fahren wir sofort dahin!« drängte Jack.

Der alles überlegende Ernst machte hierzu indeß noch einige Bemerkungen, die auch der ältere Zermatt als richtig anerkannte. Niemand wußte ja, welcher Nationalität jenes Schiff angehörte, ebensowenig, ob es nicht vielleicht gar Seeräuber trug, die zur Zeit in diesen Theilen des Indischen Oceans sehr zahlreich waren. Das Schiff konnte ja selbst solchen Verbrechern in die Hände gefallen sein, und damit wären Zermatt und seine Familie den schlimmsten Gefahren ausgesetzt gewesen.

Alle diese Gedanken tauchten ja ganz ungesucht auf.

»Nun gut, erklärte Fritz, was wir noch nicht wissen, müssen wir in kürzester Frist zu erfahren suchen...

– Ach ja... schnell... recht schnell! wiederholte Jenny, die ihre Ungeduld nicht bemeistern konnte.

– Ich werde mich des Kajaks bedienen, setzte Fritz hinzu, und da der Zustand des Meeres es erlaubt, werde ich das Cap im Osten umfahren....

– Thu' es, mein Sohn, antwortete Zermatt, denn wir können nicht in dieser Ungewißheit bleiben. Vor dem Anlegen an dem Schiffe aber muß es klar sein, welcher... Nun, Fritz, ich werde gleich mit Dir fahren.«

Jack wollte das nicht zugeben.

»Nein, Vater, sagte er, schon eine Pagaie holend, ich bin an so etwas gewöhnt. Nur bis zum Cap zu gelangen, dürften schon zwei Stunden vergehen, und von da aus bis zum Ankerplatze des Fahrzeugs könnte es auch noch eine größere Strecke sein. Ich bitte Dich, laß mich jetzt Fritz begleiten...

– Ja, das ist wohl richtiger,« stimmte dieser ein.[29]

Der ältere Zermatt zögerte noch. Ihm erschien es unerläßlich, an dieser Fahrt theilzunehmen, die mit größter Vorsicht ausgeführt werden mußte.

»Ja ja, Fritz und Jack mögen hinausfahren, mischte sich noch Frau Zermatt ein. Auf sie können wir uns ja verlassen!«

Der ältere Zermatt fügte sich, und den beiden Brüdern wurden die eindringlichsten Rathschläge mitgegeben. Nach Umschiffung des Caps sollten sie sich ganz nahe dem Lande halten, zwischen den Klippen jenes Theils der Küste hingleiten, sie sollten sehen, ohne selbst bemerkt zu werden, sollten sich nur von der Lage, womöglich auch von der Nationalität des Schiffes überzeugen, dieses aber nicht etwa betreten, sondern nach Erreichung ihrer Absichten sofort nach Felsenheim zurückkehren. Der ältere Zermatt wollte dann sehen, was weiter zu thun sei. Könnten es Fritz und Jack umgehen, selbst bemerkt zu werden, so wäre das um so besser.

Vielleicht empföhle es sich auch – dieser Gedanke ging von Ernst aus – daß Fritz und Jack selbst für Wilde gehalten würden. Sie könnten sich ja, neben Anlegung eines entsprechenden Costüms, Gesicht, Arme und Hände schwärzen, ein Mittel, dessen sich Fritz schon bedient hatte, als er Jenny bei der Perlenbucht rettete. Die Besatzung des fremden Schiffes würde jedenfalls weniger verwundert sein, bei diesem Lande im Indischen Ocean Schwarze anzutreffen.

Ernsts Vorschlag erschien recht zweckmäßig. Die beiden Brüder verkleideten sich als Eingeborene der Nicobaren und schwärzten sich dann Gesicht und Arme mit Ruß. Hierauf stiegen sie in den Kajak und eine halbe Stunde später war dieser schon außerhalb der engen Einfahrt verschwunden.

Selbstverständlich verfolgten ihn Herr und Frau Zermatt, Jenny. Ernst und Franz mit den Blicken, so lange er sichtbar war, und kehrten nach Felsenheim erst zurück, als sie das Boot aus der Rettungsbucht hatten hinausgleiten sehen.

Auf der Höhe der Haifischinsel angelangt, steuerte Fritz in der Weise, daß sie sich dem gegenüberliegenden Ufer näherten. Im Falle, daß eine von dem Fahrzeuge abgestoßene Schaluppe die äußerste Landspitze bereits passirt hätte, konnte der Kajak sich dann hinter den Uferfelsen verbergen und seine Insassen waren immer noch in der Lage, weitere Umschau zu halten.

Es bedurfte voller zwei Stunden, das Cap zu erreichen, das von hier noch über zwei Lieues entfernt lag. Bei der herrschenden Brise aus Norden[30] hätte das kleine Segel nichts nützen können. Die inzwischen eingetretene Ebbeströmung begünstigte indeß das Vorwärtskommen des leichten Fahrzeuges.

Das war das erstemal, daß das Cap umschifft werden sollte, seit die Familie Zermatt in der Rettungsbucht Zuflucht gefunden hatte. Welch ein Unterschied gegenüber dem Cap der Getäuschten Hoffnung, das sich in nordwestlicher Richtung vier Lieues von hier erhob! Wie dürr und unfruchtbar zeigte sich der östliche Theil der Neuen Schweiz! An der Küste hier zogen sich sandige, von schwärzlichem Gestein durchsetzte Dünen hin, vor denen sich bis auf mehrere hundert Toisen jenseit des Vorgebirges ein Klippenkranz ausdehnte, gegen den das offene Meer selbst bei schönem Wetter heftig anbrandete.

Als der Kajak um die letzten Felsen herumgekommen war, konnten Fritz und Jack das östliche Ufer weithin übersehen. Es verlief, die Neue Schweiz an dieser Seite begrenzend, ziemlich genau von Norden nach Süden. Wenn jene also keine Insel war, konnte sie wenigstens nur im Süden mit einem Festlande zusammenhängen. Der Kajak glitt längs des Ufers hin, und da er sich immer innerhalb des Klippengürtels hielt, konnte er sicherlich nur schwer entdeckt werden.

Eine Lieue von hier und in einer engen Bucht zeigte sich ein dreimastiges Schiff mit halbgereesten Bramsegeln, das hier offenbar nur wegen nothwendiger Ausbesserungen ankerte, und auf dem benachbarten Ufer waren mehrere Zelte errichtet.

Der Kajak näherte sich dem Schiffe bis auf sechs Kabellängen. Sobald er von jenem aus bemerkt worden war, konnten Fritz und Jack die Freundschaftszeichen gar nicht mißverstehen, die man ihnen von Bord her machte. Einige englische Worte, die sie gerade noch verstehen konnten, belehrten sie auch, daß man sie für Eingeborene ansah. Sie selbst konnten sich nicht täuschen, welcher Nalionalität das Schiff angehörte, denn vom Top seines Besanmastes wehte die britische Flagge. Es war eine englische Corvette mit zehn Geschützen.

Es lag also eigentlich gar kein Hinderniß vor, sich mit dem Kapitän der Corvette in Verbindung zu setzen.

Jack wollte das auch thun, doch Fritz widersprach ihm entschieden. Da sie einmal versprochen hätten, sogleich nach Feststellung der Lage und der Nationalität des gesuchten Schiffes nach Felsenheim zurückzukehren, bestand er darauf, Wort zu halten. Der Kajak drehte also wieder nach Norden bei und glitt nach zweiundeinhalbstündiger Fahrt durch die enge Wasserstraße der Einfahrt in die Rettungsbucht hinein.[31]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 19-32.
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