Zweiunddreißigstes Capitel.
Die »Licorne«. – Besitzergreifung im Namen Englands. – Keine Nachrichten von der »Flag«. – Heimkehr nach Felsenheim. – Eine Trauung in der Kapelle. – Mehrere Jahre. – Das Aufblühen der Neuen Schweiz.

[455] Die »Licorne« war es in der That, die im Eingange der Rettungsbucht Anker geworfen hatte. Nach Ausbesserung der Havarien hatte der Kapitän Littlestone nach mehrmonatigem Aufenthalte Capetown verlassen und war nun endlich an der Neuen Schweiz eingetroffen, von der er officiell im Namen Englands Besitz ergreifen sollte.

Hier erfuhr nun der Kapitän Littlestone aus dem Munde Harry Gould's die Ereignisse, deren Schauplatz die »Flag« gewesen war.

Was aus diesem Schiffe geworden war, ob Robert Borupt in den berüchtigten Meerestheilen des Indischen Oceans Seeräuberei trieb oder ob seine Spießgesellen und er selbst in einem der furchtbaren Tornados jener Gegend umgekommen waren. davon sollte, wie bereits erwähnt, niemals etwas verlauten, und wir brauchen uns nicht weiter dabei aufzuhalten.

Welche Freude für die beiden Familien, als sie sich überzeugten, daß die Wohnung in Felsenheim nicht verwüstet worden war. Wahrscheinlich hatten die Eingeborenen die Absicht gehabt, für immer auf der Insel zu bleiben und sich die schöne Wohnung selbst zu nutze zu machen.


Die »Licorne« war es in der That. (S. 455.)
Die »Licorne« war es in der That. (S. 455.)

So fand sich denn keine Beschädigung in den Schlafräumen, keine Spur von Plünderung in den Nebenbauten und Scheunen, keine Verwüstung des Küchengartens oder der benachbarten Felder vor.

Sobald die Insassen Felsenheims dieses wieder bezogen hatten, kamen die Hunde, Türk, Braun und Falb, herbeigesprungen und gaben ihrer Freude durch[455] lautes Bellen Ausdruck. Später fand man auch die anderen Hausthiere wieder, die in der Nähe der Einfriedigung umhergeirrt waren, die Büffel Sturm und Brummer, den Strauß Brausewind, den Affen Knips, den Onagre Leichtfuß, die Kuh Blaß und ihre Weidegenossen, den Stier Brüll und seine Stallgefährten, die Esel Rasch, Pfeil und Flink, den Schakal und den Albatros Jennys, der über den Meeresarm zwischen der Haifischinsel und Felsenheim geflogen war.

Da nun bald mehrere von England ausgegangene Schiffe neue Colonisten mit all ihrer Habe bringen mußten, machte es sich nöthig, geeignete Plätze für[456] neue Bauten auszusuchen. Man entschied sich dafür, daß diese zunächst längs des Schakalbaches nach dessen Cascade zu errichtet werden sollten. Felsenheim würde damit zum ersten Dorfe der Colonie werden und später voraussichtlich zur Stadt anwachsen. Die Zukunft sicherte ihm ohne Zweifel den Rang der Hauptstadt der Neuen Schweiz, denn es würde jedenfalls das größte Gemeinwesen von allen bilden, die im Innern wie an der Küste des Gelobten Landes entstanden.

Die »Licorne« sollte ihren Aufenthalt in der Rettungsbucht übrigens bis zur Ankunft der erwarteten Einwanderer ausdehnen.


Das war die erste Trauung, die auf der Insel der Neuen Schweiz stattfand. (S. 458.)
Das war die erste Trauung, die auf der Insel der Neuen Schweiz stattfand. (S. 458.)

Da herrschte denn jetzt reges[457] Leben an dem fruchtbaren Ufer bis Falkenhorst hinaus. Noch waren keine drei Wochen verstrichen, als eine Feierlichkeit, der man den höchsten Glanz zu verleihen wünschte, den Commandanten Littlestone, seine Officiere und die Mannschaft der Corvette, ferner den Kapitän Gould und den Obersteuermann mit den Familien Zermatt und Wolston vereinte, die sich mit noch engeren Banden als bisher miteinander verbinden sollten.

An diesem Tage vollzog der Geistliche der »Licorne« nämlich in der Kapelle von Felsenheim die Trauung Ernst Zermatt's mit Annah Wolston. Das war die erste, die auf der Insel der Neuen Schweiz stattfand, der aber später zahlreiche andere folgen sollten.

Zwei Jahre darauf schon wurde Franz der Gatte Doll Wolston's. Diesmal war es nicht in der bescheidenen Kapelle, wo der Pfarrer den längst erwünschten Ehebund einsegnete, die Feierlichkeit fand vielmehr in einer wirklichen Kirche statt, die sich auf halbem Wege an der Allee zwischen Felsenheim und Falkenhorst erhob und deren über die Bäume aufragender Glockenthurm von der Seeseite her drei englische Meilen weit sichtbar war.

Es wäre müßig, sich hier eingehender über die weitere Entwickelung der Neuen Schweiz zu verbreiten. Die vom Glücke begünstigte Insel sah ihre Einwohnerzahl von Jahr zu Jahr anschwellen. Die gegen Stürme wie gegen den Wogenschlag vom Meere geschützte Rettungsbucht bot den Schiffen, unter denen die Pinasse »Elisabeth« keine schlechte Rolle spielte, einen vortrefflichen Ankerplatz.

Selbstverständlich waren die Verkehrsverhältnisse mit der Reichshauptstadt bestens geregelt worden. Das gab dann Veranlassung zu einer einträglichen Ausfuhr der Erzeugnisse der Insel, ebenso der aus dem Gelobten Lande, wie aus den an die Bergkette im Süden grenzenden Gebieten von der Mündung des Montrose-Flusses an der Westküste aus. Nun gab es schon vier bedeutende Ortschaften: Waldegg, Prospect-Hill, Zuckertop und die Einsiedelei Eberfurt. An der Mündung des Montrose-Flusses war ein Hafen entstanden, ein anderer an der »Licorne«-Bai, beide durch fahrbare Straßen mit dem Inneren des Landes und mit der Rettungsbucht verbunden.

Jener Zeit, das heißt drei Jahre nach der Besitznahme durch England, überschritt die Zahl der Bewohner bereits das zweite Tausend. Die britische Regierung hatte der Neuen Schweiz Selbstverwaltung zugestanden, und der ältere Zermatt war zum Range eines Gouverneurs der Colonie erhoben worden. Gebe der Himmel, daß seine Nachfolger alle sich dieses vortrefflichen Mannes würdig erweisen![458]

Hier sei auch erwähnt, daß eine Abtheilung indischer Truppen die Insel als Standort angewiesen bekam, nachdem die Befestigungen am Cap im Osten und am Cap der Erlösung (dem früheren Cap der Getäuschten Hoffnung) errichtet worden waren, zwei Anlagen, die nun den Meeresarm, der nach der Rettungsbucht führte, vollständig beherrschten.

Wilde Eingeborene waren hier zwar nicht mehr zu fürchten, weder solche von den Andamanen oder den Nicobareninseln, noch solche von der australischen Küste. Die Lage der Neuen Schweiz in dieser Gegend aber hatte, außer daß sie einen Erholungs- und Anlaufplatz für Seeschiffe bildete, vom militärischen Gesichtspunkte aus eine hervorragende Bedeutung, indem sie den Zugang zu dem Meere der Sundainseln und zu dem Indischen Oceane deckte. Das allein erklärte es schon, daß sie nicht ohne Festungswerke gelassen werden durfte.

Das wäre denn die vollständige Geschichte dieser Insel seit dem Tage, wo ein Vater, eine Mutter und vier Kinder durch ein Schiffsunglück hierher verschlagen worden waren. Zwölf Jahre hindurch hatte diese intelligente und fleißige Familie ohne Unterlaß gearbeitet und hatte alle Kräfte eines jungfräulichen Bodens, dessen Fruchtbarkeit ein subtropisches Klima begünstigte, reichlich zu entwickeln verstanden. Dabei hatte sich denn auch die Ertragsfähigkeit der Insel immer weiter gesteigert und ihr Wohlstand hatte zugenommen bis zu dem Tage, wo das Eintreffen der »Licorne« es ihr ermöglichte, Verbindungen mit der übrigen Welt anzuknüpfen.

Eine zweite Familie hatte sich, wie der Leser weiß, der ersten freiwillig angeschlossen, und nirgends hatte es wohl, leiblich und geistig, ein glücklicheres Zusammenleben gegeben, als das der wenigen Bewohner des fruchtbaren Gebietes des Gelobten Landes.

Später waren ihnen freilich schwere Prüfungen auferlegt worden, das Unglück hatte sich sozusagen gegen die wackeren Leute verschworen. Wie lange lebten sie in der Angst, die, die sie erwarteten, niemals wiederzusehen, und dazu kam obendrein das Unheil, von einer Bande Wilder überfallen zu werden.

Wir dürfen aber nicht verschweigen, daß sie, selbst in den traurigsten Stunden dieses Zeitraumes, aufrecht erhalten durch eine fromme Zuversicht, de nichts zu erschüttern vermochte, niemals an der Vorsehung verzweifelt hatten.

Endlich kamen auch die guten Tage wieder, und schlechte sind für dieses zweite Vaterland für die beiden Familien nicht mehr zu befürchten. Zur Zeit steht die Neue Schweiz in vollster Blüthe, höchstens wird sie nach und nach zu[459] klein, um alle, die sich nach ihr hingezogen fühlen, aufzunehmen. Ihr Handel findet bequemen Absatz in Europa wie in Asien, dank der Nähe Australiens, Indiens und der niederländischen Besitzungen. Glücklicherweise waren die Pepiten (Goldquarzstücke), die sich in der Thalmulde des Montrose-Flusses vorgefunden hatten, nur wenig zahlreich, und der Colonie blieb es darum erspart, von Goldsuchern überschwemmt zu werden, die doch überall nur Elend und Unordnung zurücklassen.

Die Ehen, die die Familien Zermatt und Wolston verbunden hatten, wurden vom Himmel reichlich gesegnet. Die Großväter und die Großmütter lebten in ihren Enkelkindern ordentlich wieder auf. Nur Jack hatte sich damit begnügt, Neffen und Nichten zu haben, die sich oft auf seinen Knien schaukelten. Er hatte einmal, wie er sagte, die Bestimmung, nur Onkel zu sein, und dieser gesellschaftlichen Aufgabe widmete er sich auch mit vollem Erfolge.

Auch für später ist das Gedeihen der Insel gesichert, und obgleich sie in den Colonialbesitz Großbritanniens übergegangen war, hat ihr England, ähnlich wie es Neuholland gegenüber geschehen ist, den Namen »Die Neue Schweiz« gelassen zur Ehre und zur Erinnerung an die Familie Zermatt.

Ende.

Quelle:
Jules Verne: Das Testament eines Exzentrischen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXV–LXXVI, Wien, Pest, Leipzig 1900.
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