XXII.

[87] Vom 24. November bis 1. December. – Nun schwimmen wir also auf dem Meere, und das auf einem Fahrzeuge, dessen Festigkeit nur sehr zweifelhaft ist; doch haben wir ja zum Glück keine allzu weite Fahrt vor uns. Es handelt sich nur um 800 Meilen, und wenn der Nordostwind nur einige Tage anhält, so wird der Chancellor, der vom Wind im Rücken nicht so arg angegriffen wird, die Küste von Guyana mit Sicherheit erreichen.

Beim Cours nach Südwesten nimmt das Leben an Bord nun wieder seinen gewohnten Lauf.

Die ersten Tage vergehen ohne weitere Zufälle. Die Richtung des Windes bleibt immer günstig, doch vermeidet Robert Kurtis zu viel Segel beisetzen zu lassen, da er eine Wiedereröffnung des Lecks fürchtet, wenn das Schiff zu schnell fährt.

Eine traurige Fahrt, wenn man zu dem Schiffe, das einen trägt, kein Zutrauen haben kann. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und an Bord entwickelt sich nicht jene lebhafte Mittheilungslust, wie bei einer raschen und sicheren Seefahrt.

Während des 29. geht der Wind um ein Viertel nach Norden zurück. Die Segelstellung muß geändert und die Steuerbordhalfen müssen beigesetzt werden. In Folge dessen neigt sich das Schiff stark nach der Seite.


Die Explosion erfolgt. (S. 86.)
Die Explosion erfolgt. (S. 86.)

Robert Kurtis zieht die Bramstengen ein, denn er bemerkt wohl, wie stark die Seitenneigung den Chancellor belästigt. Er thut recht daran, denn es handelt sich weniger darum, eine schnelle Ueberfahrt auszuführen, als ohne neuen Unfall einen Hafen zu errei[87] chen.


 »Ich rathe Ihnen, mich nicht anzurühren«, sagt Owen. ( S, 93.)
»Ich rathe Ihnen, mich nicht anzurühren«, sagt Owen. ( S, 93.)

Die Nacht vom 29. zum 30. ist dunkel und dunstig. Die Brise frischt immer mehr auf und unglücklicher Weise droht der Wind nach Nordwesten umzuschlagen. Die meisten Passagiere halten sich in ihren Cabinen auf, Kapitän[88] Kurtis verläßt dagegen das Oberdeck niemals, und die ganze Mannschaft verbleibt auf dem Verdecke.

Noch immer neigt sich das Schiff ganz bedeutend, trotzdem es gar kein Obersegel mehr trägt.

Gegen zwei Uhr Morgens will auch ich mich in meine Koje zurückziehen, als einer der Matrosen, der im Kielraum gewesen war, eiligst daraus hervorkommt und ausruft:[89]

»Zwei Fuß Wasser!«

Robert Kurtis und der Bootsmann eilen die Leiter hinab und finden die traurige Neuigkeit nur allzuwahr. Ob sich der Leck trotz aller Vorsichtsmaßregeln wieder geöffnet hat, oder ob einige schlecht kalfaterte Fugen auseinander gewichen sind, läßt sich noch nicht sagen, jedenfalls dringt das Wasser wieder in den Kielraum ein.

Der Kapitän kommt auf das Verdeck zurück, läßt das Schiff wieder vor den Wind legen, damit es weniger umher geworfen wird, und so erwartet man den Tag.

Beim Sondiren am Morgen findet man drei Fuß Wasser ...

Ich sehe Robert Kurtis an. Eine leichte Blässe fliegt über sein Angesicht, doch bewahrt er seine Kaltblütigkeit. Die Passagiere, von denen einige auf das Verdeck gekommen sind, werden von dem Vorfall unterrichtet, den zu verheimlichen doch schwierig gewesen wäre!

»Ein neues Unglück, sagt Mr. Letourneur zu mir.

– Das war vorauszusehen, habe ich geantwortet, indessen können wir nicht weit vom Lande entfernt sein, und hoffe ich, daß wir es erreichen.

– Gott möge Sie erhören! erwiderte Mr. Letourneur.

– Ist denn Gott an Bord? fragt Falsten mit Achselzucken.

– Er ist gegenwärtig, mein Herr«, fällt da Miß Herbey ein.

Der Ingenieur schweigt bei diesen Worten, dem Ausfluß eines frommen Glaubens, über den nicht zu streiten ist.

Inzwischen ist auf Anordnung Robert Kurtis' der Dienst an den Pumpen organisirt worden. Mit mehr Resignation als Eifer geht die Mannschaft an die Arbeit; aber es geht um den Kopf, und die in zwei Rotten getheilte Mannschaft löst sich an den Pumpenstangen ab.

Im Laufe des Tages wiederholt der Hochbootsmann die Sondirungen, und man erkennt, daß das Meer langsam, aber unablässig in den Schiffsraum eindringt.

Zum Unglück kommen die Pumpen häufig in Unordnung; sie verstopfen sich entweder durch Asche oder Baumwollenbällchen, welche sich noch im unteren Theile des Kielraumes befinden. Bei der nothwendig werdenden Reinigung verlieren wir natürlich eine gewisse Zeit und die Erfolge unserer Mühe.[90]

Am folgenden Morgen ergiebt eine neue Untersuchung fünf Fuß Wasser im Raume. Wenn das Herausschaffen desselben aus irgend einem Grunde ausgesetzt werden müßte, so würde das Schiff also sinken. Ueberhaupt kann das ja nur eine Frage der Zeit, und zwar einer sehr kurzen Zeit sein. Schon ist die Schwimmlinie des Chancellor um einen Fuß gesunken und sein Stampfen wird stärker, da er sich nur schwerfällig mit den Wellen hebt. Den Kapitän Kurtis sehe ich auch die Augenbrauen runzeln, sobald ihm der Lieutenant oder der Hochbootsmann eine Meldung machen. Das ist kein gutes Vorzeichen!

Die Arbeit an den Pumpen ist den ganzen Tag und die Nacht über fortgesetzt worden. Dennoch nimmt das Wasser zu. Die Mannschaft ist erschöpft; unter den Leuten werden Anzeichen von Entmuthigung bemerkbar. Inzwischen gehen der Lieutenant und der Hochbootsmann mit ihrem Beispiel voran, und die Passagiere nehmen an den Pumpenhebeln Platz.

Jetzt ist die Lage freilich nicht dieselbe, wie zur Zeit, als der Chancellor auf dem festen Grunde des Ham-Rock aufsaß; unser Fahrzeug schwebt über einem Abgrunde, in den es jeden Augenblick versinken kann.

Quelle:
Jules Verne: Der Chancellor. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXI, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 87-91.
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