XLIV.

[166] Am 15. Januar. – Nach diesem letzten Schlage, der uns getroffen, haben wir nichts mehr vor uns als den Tod. Ob er schneller oder langsamer herankommen mag, er kommt doch gewiß.[166]

Heute sind im Westen einige Wolken aufgestiegen, wobei sich dann und wann ein kurzer Windstoß fühlbar machte. Auch die Temperatur ist erträglicher, und trotz unserer äußersten Erschlaffung empfinden wir diese wohlthuende Aenderung. Meine Kehle saugt eine minder trockene Luft ein, aber seit dem Fischzug des Hochbootsmannes, d.h. seit sieben Tagen, haben wir nichts gegessen. Auf dem Flosse ist nichts mehr vorhanden, und gestern habe ich André Letourneur das letzte von seinem Vater ersparte Stück Schiffszwieback zugestellt, welches Jener mir unter Thränen übergab.

Seit gestern hat sich auch der Neger Jynxtrop seiner Fesseln zu entledigen gewußt, doch hat ihn Robert Kurtis deshalb nicht von Neuem binden lassen. Wozu auch? Dieser Elende und alle seine Mitschuldigen sind durch das lange Fasten ganz von Kräften gekommen. Was wären sie jetzt noch zu unternehmen im Stande?

Heute zeigen sich mehrere große Haifische, deren schwarze Flossen wir das Wasser mit großer Schnelligkeit durchschneiden sehen. Ich kann mich des Gedankens nicht entschlagen, daß sie die lebendigen Särge darstellen, die unsere erbärmlichen Ueberreste aufzunehmen bestimmt sind. Sie erschrecken mich keineswegs, nein, sie haben etwas Anheimelndes. Sie kommen bis dicht an den Rand des Flosses heran, und Flaypol's Arm, der über denselben hinaushing, wäre beinahe von einem jener Ungeheuer weggeschnappt worden.

Der Hochbootsmann betrachtet mit starren, hohlen Augen und zusammengebissenen, hinter den erhobenen Lippen herausleuchtenden Zähnen diese Haifische unter einem wesentlich anderen Gesichtspunkte als ich. Er will sie verzehren, doch nicht von ihnen verzehrt werden. Wenn er einen derselben zu fangen im Stande wäre, er würde sich nicht vor seinem zähen Fleische scheuen. Wir Anderen auch nicht.

Der Bootsmann will den Versuch machen; da er aber keinen geeigneten Haken besitzt, an den ein Seil zu befestigen wäre, so muß er einen solchen herzustellen suchen. Robert Kurtis und Daoulas haben ihn verstanden und halten Rath, während sie durch Auswerfen von Holzstücken und Seilenden bemüht sind, die Quermäuler in der Nähe des Flosses aufzuhalten.

Daoulas holt sein Zimmermannsbeil, das er als Angel zu benutzen gedenkt und dessen scharfe Schneide oder die derselben entgegengesetzte Spitze sich wohl in der Kinnlade eines Haies festsetzen könnten, wenn ein solcher darauf anbeißt. Der hölzerne Stiel des Beiles wird also an ein Greling[167] (d.i. die kleinste Art Kabeltaue) befestigt und dieses an einen Tragbalken der Plateform gebunden.


Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. (S. 171.)
Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. (S. 171.)

Diese Vorbereitungen reizen unser Verlangen auf's Aeußerste, und zitternd vor Ungeduld suchen wir die Aufmerksamkeit der Haie auf jede mögliche Weise rege zu erhalten, um sie nicht wegschwimmen zu lassen.


Wir liegen auf dem Rücken mit offenem Munde. (S. 173.)
Wir liegen auf dem Rücken mit offenem Munde. (S. 173.)

Der Haken ist bereitet, aber wieder fehlt es an einem Köder für denselben, und der Hochbootsmann, der vor sich hinmurmelnd da- und dorthin[168] läuft und das ganze Floß durchsucht, hat das Aussehen, als forsche er nach einem Leichnam unter uns!...

Man muß endlich nochmals zu der schon früher versuchten Aushilfe greifen, das Eisen des Beiles mit einem Stücke rothen Stoffes zu umwickeln, den wiederum Miß Herbey's Shawltuch liefert.

Der Hochbootsmann will aber nichts ohne die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln für ein glückliches Gelingen unternehmen. Ist der Haken wohl[169] haltbar genug befestigt? Wird die Leine, welche diese Angel mit dem Flosse verbindet, nicht reißen? Wird der Tragbaum das Zerren eines gefangenen Haies aushalten? Der Hochbootsmann unterrichtet sich erst über alle diese jetzt sehr wichtigen Punkte und läßt erst dann sein Angelgeräth in das Wasser gleiten.

Das Meer ist so klar und durchsichtig, daß man in einer Tiefe von hundert Fuß noch jeden Gegenstand zu unterscheiden vermag. Ich folge dem hinabsinkenden Haifischhaken, dessen rothe Umhüllung sich leuchtend von dem Wasser abhebt bequem mit den Augen.

Passagiere und Matrosen, Alle lehnen wir über die Schanzkleidung geneigt und beobachten das tiefste Stillschweigen. Es scheint aber als ob die Haifische, seitdem ihnen dieser sonderbare Köder zugeworfen wurde, nach und nach verschwänden. Doch können sie unmöglich weit entfernt sein und würden gewiß jede ihnen erreichbare Beute schnell verschlingen.

Plötzlich giebt der Hochbootsmann mit der Hand ein Zeichen und weist auf eine ungeheure Masse, welche nach dem Flosse zu gleitet und fast die Oberfläche des Wassers streift. Es ist ein wohl zwölf Fuß langer Haifisch, der die Tiefe verlassen hat und in gerader Linie auf uns zu schwimmt.

Sobald das Thier nur noch vier Faden vom Flosse entfernt ist, zieht Hochbootsmann vorsichtig seine, Leine an, um den Haken jenem zu Gesicht zu bringen, und theilt dem rothen Packen eine leichte Bewegung mit, die das Aussehen eines lebenden Körpers verleiht.

Ich fühle das heftige Klopfen meines Herzens, als wohne meine ganze Lebenskraft nur in diesem Organe!

Indessen nähert sich der Hai; seine gierigen, großen Augen leuchten fast auf der Oberfläche des Meeres und seine halbgeöffneten Kiefern zeigen die furchtbare Reihe seiner spitzen Zähne.

Da erhebt sich ein Schrei! ... Der Haifisch hält an und verschwindet in der Tiefe des Wassers.

Wer von uns hat diesen Schrei, wenn auch unwillkürlich ausgestoßen?

Sofort erhebt sich der Hochbootsmann bleich vor Zorn.

»Den Ersten, welcher ein Wort spricht, schlage ich nieder«, sagt er.

Dann geht er wieder an seine Arbeit.

Alles in Allem hat er wohl recht, der Hochbootsmann.[170] Der Haifischhaken wird wieder hinabgelassen, doch während einer halben Stunde erscheint kein solcher Seeräuber wieder, so daß man den Apparat bis auf zwanzig Faden Tiefe hinabgehen läßt. Doch kommt es mir vor, als wenn die tieferen Wasserschichten etwas getrübt wären, woraus man wohl auf die Anwesenheit jener Quermäuler schließen könnte.

Wirklich bemerkt man an der Leine plötzlich ein so heftiges Rucken, daß dieselbe den Händen des Hochbootsmannes entgleitet: da sie aber an den einen Tragbalken des Flosses sicher befestigt ist, hat sie deshalb nicht verloren gehen können.

Ein Haifisch hat angebissen und sich gleichsam selbst harpunirt.

»Zu Hilfe, Jungens, zu Hilfe!« ruft der Seemann.

Sofort ergreifen Alle, Passagiere und Matrosen, die Angelleine. Die Hoffnung leiht uns neue Kräfte, doch kaum wollen diese hinreichen, denn das Thier wehrt sich furchtbar. Wir ziehen ganz gleichzeitig an, und nach und nach kommen die oberen Wasserschichten von dem heftigen Peitschen des Schwanzes und der großen Brustflossen des Ungeheuers in Aufruhr. Ich beuge mich hinaus und sehe den enormen Körper, der sich inmitten blutig gefärbter Wellen windet.

»Tapfer! Fest daran!« ruft der Hochbootsmann.

Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. Unser Haken ist ihm durch den geöffneten Rachen bis in den Schlund eingedrungen und hat sich dort so festgesetzt, daß ihn keine Zuckung und kein Stoß wieder heraus zu reißen vermag. Daoulas ergreift schon eine Axt, um das Thier, wenn es nahe genug heran sein wird, zu erschlagen.

Da läßt sich ein kurzes, eigenthümliches Geräusch vernehmen. Der Haifisch hat seine mächtigen Kiefern geschlossen, den langen Stiel des Beiles glatt durchgebissen, und schnell entweicht er in die grünliche Tiefe.

Ein allgemeiner Aufschrei der schmerzlichen Enttäuschung entringt sich uns!

Der Hochbootsmann, Robert Kurtis und Daoulas versuchen auch noch ferner, trotzdem sie nun keinen Haken und kein irgend brauchbares Ersatzmittel dafür mehr haben, einen jener Haie zu fangen. Sie werfen Taue mit Schlingen in's Wasser, doch diese Lassos gleiten auf der schlüpfrigen Haut jener Quermäuler ab. Der Hochbootsmann geht sogar so weit, sie dadurch heranzulocken, daß er ein Bein hinter dem Flosse in's Wasser hält, selbst auf die Gefahr hin, durch den Biß eines der Ungeheuer amputirt zu werden....[171]

Endlich giebt man diese fruchtlosen Versuche auf, und Jeder schleppt sich auf seinen gewohnten Platz zurück, in Erwartung des Todes, den jetzt nichts mehr abzuwenden im Stande ist.

Ich bin aber Robert Kurtis gerade nahe genug, um es zu verstehen, wie der Hochbootsmann Jenen leise fragt:

»Kapitän, wann loosen wir?«

Robert Kurtis hat zwar nicht geantwortet aber diese Frage ist nun doch schon gestellt worden.

Quelle:
Jules Verne: Der Chancellor. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXI, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 166-172.
Lizenz:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon