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[215] Eine Art Nebel schwebte über und rings um die Düne... eine so dichte Dunstmasse, daß die ersten Strahlen der Sonne sie nicht aufzulösen vermochten. Man konnte kaum vier Schritte weit sehen, und die Äste der Bäume verschwanden gänzlich in dem feuchten Dunste.
»Entschieden hat hier der Teufel die Hand im Spiele! rief der Brigadier.
– Das möchte ich wahrlich auch glauben!« antwortete François.
Immerhin konnte man hoffen, daß die Sonne nach einigen Stunden, wenn sie am Himmel höher stand. Kraft genug haben würde, das Nebelmeer aufzulösen, so daß dann das Melrir auf weite Strecken zu übersehen wäre.
Vorläufig hieß es aber, sich in Geduld zu fassen, und obgleich es dringend geboten erschien, mit dem Proviant, der ja nicht mehr erneuert werden konnte, recht sparsam umzugehen, mußte jetzt ein Teil davon verzehrt werden, wobei dann nur ein Rest für zwei Tage übrig blieb. Ihren Durst stillten die Flüchtlinge wohl oder übel mit dem Brackwasser am Fuße des Tell.[215]
So verflossen drei Stunden unter diesen Verhältnissen. Die Geräusche waren nach und nach verstummt. Jetzt sprang auch ein ziemlich kräftiger Wind auf, der die Zweige der Bäume schüttelte, und es war nicht länger zu bezweifeln, daß der Nebel unter Mithilfe der Sonne in kurzer Zeit zerstreut sein würde.
Endlich wurde es in der Umgebung des Tell wirklich heller. Die Bäume zeigten das Skelett ihres Astwerkes... und Skelett ist die treffende Bezeichnung, denn hier standen nur abgestorbene Bäume ohne Laub und ohne Früchte. Nun verschwand auch der Nebel überhaupt durch einen stärkeren Windstoß, der ihn nach Westen trieb.
Das Melrir zeigte sich plötzlich in weiter Ausdehnung.
Infolge der Senkung des Bodens dieser Hoffra war es zum Teil überschwemmt, und ein flüssiger, etwa fünfzig Meter breiter Gürtel umschloß den ganzen Tell. Weiter draußen flimmerten auf dem da und dort höher liegenden Boden die kristallenen Effloreszenzen, und in den Niederungen spiegelte das Wasser zwischen langen, sandigen und trocken liegenden Flächen die glänzenden Sonnenstrahlen wider.
Der Kapitän Hardigan und der Ingenieur sandten die Blicke prüfend nach allen Punkten des Horizontes hinaus.
»Das liegt doch klar zutage, sagte dann von Schaller, daß sich hier ein heftiger seismischer Vorgang abgespielt hat. Der Boden des Schotts hat sich offenbar noch weiter gesenkt, und nun ist das Grundwasser über ihn ausgetreten.
– Dann müssen wir also aufbrechen, bevor der Weg uns gänzlich abgeschnitten wird, antwortete der Kapitän. Aufbrechen... und das augenblicklich!«
Alle stiegen sofort hinunter, wurden da aber durch das entsetzliche Schauspiel, das sich ihren Augen bot, auf der Stelle festgebannt.
Etwa eine halbe Lieue im Norden und von Nordosten her tauchte in voller Flucht eine Herde Tiere auf. Reichlich vierhundert Raubtiere und Wiederkäuer, Löwen, Gazellen, Antilopen, wilde Schafe und Büffel suchten sich dem Anscheine nach im Westen des Melrir zu retten. Alle mußten von gleichmäßigem Schrecken erfüllt sein, der die Wildheit der einen ebenso lähmte, wie er die Scheu und Furchtsamkeit der andern unterdrückte, denn alle strebten in dieser tollen Verwirrung nur danach, sich der Gefahr zu entziehen, die diese allgemeine Flucht der Vierfüßler des Djerid veranlaßt hatte.
»Was zum Kuckuck geht denn überhaupt da draußen vor? rief der Brigadier Pistache wiederholt.[216]
– Ja... was kann da geschehen sein?« fragte Kapitän Hardigan.
Der Ingenieur, an den er sich mit diesen Worten wandte, gab darauf keine Antwort. Da rief einer der Spahis:
»Sollten die Tiere auf uns zugestürmt kommen?
– Und wohin könnten wir dann fliehen?« setzte der andre hinzu.
Jetzt war die Herde kaum noch einen Kilometer entfernt und näherte sich mit der Schnelligkeit eines Blitzzuges immer mehr. Es schien aber doch nicht so, als ob die Tiere bei ihrer rasenden Flucht die sechs Männer bemerkt hätten, die auf dem Tell Zuflucht gesucht hatten. Alle schwenkten jetzt nämlich gleichzeitig nach links hin ab und verschwanden allmählich in einer Staubwolke.
Auf Anordnung des Kapitäns Hardigan hatten sich übrigens alle, um womöglich nicht bemerkt zu werden, am Fuße der Bäume schon vorher ausgestreckt niedergelegt. Dabei sahen sie auch in der Ferne ganze Schwärme Flamingos, die ebenfalls entflohen, und noch Tausende andrer Vögel, die kräftigen Flügelschlags den Ufern des Melrir zustrebten.
»Ja, was ist denn da los?« fragte der Brigadier Pistache immer wieder.
Mittlerweile war es vier Uhr Nachmittag geworden, und jetzt sollte die Veranlassung zu dieser auffallenden Flucht der Tiere klar werden.
Von Osten her begannen sich Wassermassen über das Schott hin zu wälzen, und bald war die sandige Ebene gänzlich, wenn auch nur seicht, überschwemmt. Allmählich verschwanden die Salzausschwitzungen, so weit der Blick reichte, und wie von einem großen Seespiegel wurden die Strahlen der Sonne zurückgeworfen.
»Sollten die Gewässer des Golfs über das Melrir eingedrungen sein? sagte Kapitän Hardigan.
– Das möchte ich fast glauben antwortete der Ingenieur. Die unterirdischen Geräusche, die wir gehört haben, rührten unzweifelhaft von einem Erdbeben her, das im Erdboden beträchtliche Störungen zur Folge gehabt hat. Dadurch mag sich der Boden des Melrir und vielleicht der ganze östliche Teil des Djerid gesenkt haben, und dann wird das Meer nach Durchrechung des noch übrigen Küstenwalls von Gabes über das Land bis zum Melrir hereingeflutet sein.«
Diese Erklärung traf jedenfalls das Richtige. Man stand hier einer seismischen Erscheinung gegenüber, deren Umfang noch nicht zu erkennen war. Infolge der dadurch entstandenen Störungen und Veränderungen war es recht gut möglich, daß das Saharameer sich ohne weiteres Zutun jetzt von selbst und in[219] weit größerer Ausdehnung gebildet hatte, als es der Kapitän Roudaire einst zu träumen wagte.
Jetzt erhob sich plötzlich, vorläufig in größerer Entfernung, ein neues Geräusch, das sich aber nicht durch den Erdboden, sondern durch die Luft mit zunehmender Stärke fortpflanzte.
Im Nordosten stieg eine mächtige Staubwolke auf und bald tauchte daraus eine Reiterschar hervor, die ebenso wie die Tiere in wilder Flucht einherjagte.
»Hadjar!« rief der Kapitän Hardigan.
Ja... es war der Tuareghäuptling, und wenn seine Begleiter und er mit verhängtem Zügel daherrasten, geschah es, weil sie den Wirbeln einer hinter ihnen heranbrausenden, ungeheuern Flutwelle zu entweichen suchten, einem Wasserschwall, der über die ganze Breite des Schotts reichte.
Zwei Stunden waren seit dem Vorüberstürmen der Tiere verflossen, und die Sonne neigte sich schon dem Untergange zu. Inmitten der wachsenden Überschwemmung bot sich das Tell – ein Eiland in dem neuen Meere – der Bande Hadjars offenbar als einzige Zufluchtsstätte dar.
Jedenfalls hatten Hadjar und die Tuaregs die Bodenerhebung, von der sie nur noch einen Kilometer entfernt waren, bemerkt und stürmten jetzt in gestrecktem Galopp darauf zu. Wenn sie diese aber noch vor der gurgelnden Flutwelle hinter ihnen erreichten, was würde das Schicksal der Flüchtlinge sein, die sich seit gestern unter den Bäumen des Hügels geborgen hatten?
Der flüssige Berg, eine wirkliche Sturmflutwoge oder eine Reihe schäumender Wasserschwalle von unwiderstehlicher Gewalt, lief aber doch noch schneller, so schnell, daß ihm auch die flüchtigen Pferde nicht vorauskommen konnten.
Dem Kapitän und seinen Gefährten bot sich jetzt ein entsetzliches Schauspiel: an die hundert Männer, die von dem Schaume der riesigen Flutwelle ereilt wurden, so daß Roß und Reiter in wirrem Durcheinander bald verschwanden, und beim letzten Dämmerscheine sah man nur noch, wie die vielen Leichen von der Wasserflut nach dem Westen des Melrir getragen wurden.
Und als heute die Sonne ihren Tageslauf vollendete, da versank sie unter einem weit entfernten Meereshorizonte.
Welch furchtbare Nacht für die Flüchtlinge! Waren sie auch einem Überfalle durch die Raubtiere und dann einem Zusammentreffen mit den Tuaregs[220] glücklich entgangen, so konnten sie doch befürchten, daß das Wasser auch noch den höchsten Punkt ihres Zufluchtsortes erreichen möchte.
Dennoch war es unmöglich, diesen zu verlassen, und mit Schrecken hörten sie in der tiefen Finsternis das Wasser immer höher steigen, das brandend an den kleinen Hügel schlug.
Wer könnte sie sich ganz ausmalen, die furchtbaren Stunden dieser Nacht, wo das Herandonnern der vom scharfen Ostwind getriebenen Wogen keinen Augenblick verstummte! Und dazu das Gekreisch zahlloser Seevögel, die jetzt über der Fläche des Melrir umherflatterten!
Endlich wurde es doch wieder Tag. Die Flut hatte den Gipfel der Zufluchtsstätte nicht erreicht, und sie schien, während das Schott bis zum Überströmen sie gefüllt hatte, auf dem höchsten Stand angekommen zu sein.
Doch jetzt war nichts zu erblicken, was über die flüssige Ebene emporgeragt hätte.
Die Lage der Flüchtlinge erschien verzweifelt. An Nahrungsmitteln besaßen sie nichts mehr, als was vielleicht für diesen Tag genügte, und doch hatten sie keine Möglichkeit, sich auf dem unfrüchtbaren Eilande neue zu verschaffen. Fliehen... auf welche Weise?... Sollten sie aus den Bäumen ein Floß herstellen und sich darauf einschiffen?... Ja, wie aber die Bäume fällen?... Und wie sollten sie überdies ein solches Floß steuern, ohne daß es bei dem heftigen Winde von den Strömungen, gegen die nicht aufzukommen war, irgendwo hinaus auf den Melrir verschlagen würde?
»Es wird sehr schwierig sein, uns aus dieser Lage zu retten, sagte der Kapitän Hardigan, nachdem er die Blicke hatte über das ganze Schott hin schweifen lassen.
– O, Herr Kapitän, antwortete der Brigadier Pistache, wenn wir aber Hilfe bekämen?... Man weiß doch niemals...«
Der Tag verging ohne eine Änderung der Sachlage. Das Melrir war zu einem See geworden und das Rharsa jedenfalls auch. Und wie weit mochte sich wohl die Überschwemmung erstrecken, wenn etwa die Böschungen des Kanals in ihrer ganzen Länge zerstört worden waren?
Nefta und andre Flecken konnten ja der Vernichtung anheimgefallen sein, entweder durch das Erdbeben oder durch die Flutwelle, die diesem folgte. Ja, die Verwüstung konnte sich vielleicht gar über das ganze Gebiet des Djerid bis zum Golfe von Gabes erstreckt haben.[221]
Der Abend kam heran, und nachdem sie sich gegen Mittag noch einmal gesättigt hatten, war dem Kapitän Hardigan und seinen Gefährten nichts mehr zu essen übrig geblieben. Schon beim Betreten des Tell hatten sie ja gesehen, daß keine Frucht an den Zweigen der Bäume mit ihrem abgestorbenen Holze hing. Auch kein Vogel war zu erspähen, nicht einmal einer jener Habibis, die in der Ferne zahlreich vorüberzogen, rastete auf dem trostlosen Eilande; keiner der vielen Stare, mit dem sich ein vom Hunger gequälter Magen begnügt hätte. Tummelten sich auch einzelne Fische in dem neuen Gewässer, so bemühte sich der Brigadier Pistache doch vergeblich, einen davon zu fangen. Und wie sollten die Flüchtlinge endlich ihren Durst stillen, da die sie umgebende Wassermasse jetzt stark salzhaltig war?
Da – gegen halb acht Uhr und die letzten Sonnenstrahlen wollten eben verlöschen – rief François, der nach Nordosten hinausblickte, mit einer Stimme, der übrigens keine besondre Erregung anzumerken war:
»Ein Rauch!...
– Ein Rauch? wiederholte der Brigadier Pistache.
– Ja... eine Rauchsäule«, versicherte François.
Aller Augen wandten sich in der angedeuteten Richtung hin.
Richtig... da draußen schwebte eine Rauchsäule, die nach dem Tell zu getrieben wurde und schon ganz deutlich sichtbar war.
Die Flüchtlinge standen wortlos an die Stelle gebannt, erfüllt von der Furcht, daß der Rauch wieder verschwinden und das Schiff, aus dem er aufwirbelte, weiter hinaus steuern und sich von dem Tell entfernen könnte.
Die kurz vorher abgegebene Erklärung des Ingenieurs erschien hiermit also bestätigt... seine Ahnung hatte sich erfüllt.
In der Nacht vom 26. zum 27. war das Wasser des Golfs über den ganzen östlichen Teil des Djerid hereingebrochen. Jetzt bestand also eine Verbindung zwischen der Kleinen Syrte und dem Melrir, eine Verbindung, die sogar ausreichte, daß ein Schiff sie benutzen konnte, und jedenfalls auf der Linie des Kanals, der Meeresstraße durch die Gebiete der Sebkhas und der Schotts.
Fünfundzwanzig Minuten nach dem ersten Bemerken des Schiffes tauchte sein Schornstein am Horizonte auf, dann zeigte sich auch sein Rumpf... der Rumpf des ersten Fahrzeuges, das die Gewässer des neuen Sees durchkreuzte.[222]
»Schnell Signale!... Wir wollen ihm Signale geben!« rief einer der Spahis.
Doch wie hätte der Kapitän Hardigan die Anwesenheit der Flüchtlinge auf dem beschränkten Gipfel des Eilandes zu erkennen geben sollen? War der kleine Erdhaufen überhaupt hoch genug, daß die Mannschaft jenes Schiffes ihn sehen konnte? Und obendrein befand sich dieses jetzt in einer Entfernung von zwei reichlichen Lieues im Nordosten.
Schnell folgte die Nacht der kurzen Dämmerung und in der Dunkelheit war der Rauch bald nicht mehr sichtbar.
Der Spahi aber, der ganz außer sich war, rief in voller Verzweiflung:
»Wir sind verloren!
– Nein, gerettet... im Gegenteil: gerettet, antwortete der Kapitän Hardigan. Unsre Signale, die, so lange es hell war, nicht hätten bemerkt werden können, werden in der Nacht deutlich sichtbar sein.«
»Feuer an die Bäume! Zündet die Bäume an, setzte er hinzu.
– Ja, ja, Herr Kapitän, schrie der Brigadier Pistache zustimmend, Feuer an die Bäume... brennen werden sie wie Streichhölzchen!«
Sofort wurde Feuer angeschlagen und ein Haufe abgefallner Zweige am Fuße der Bäume aufgeschichtet. Bald züngelten die Flammen hinauf, erreichten die oberen Äste und verbreiteten einen blendenden Schein in der vorher finstern Umgebung des Eilands.
»Wenn sie nun unser Freudenfeuer nicht sehen, rief Pistache, dann sind an Bord jenes Schiffes alle mit Blindheit geschlagen!«
Der helle Brand der Baumgruppe hielt jedoch nicht länger als eine Stunde an. Das dürre Holz wurde bald verzehrt, und als die letzten Flammen erloschen, wußte man noch nicht, ob sich das Schiff dem Tell genähert hätte, denn es hatte das Signal von der Insel mit keinem Kanonenschuß beantwortet.
Rings um das Eiland herrschte wieder tiefe Finsternis. Die Nacht verstrich, doch kein Pfeifen von Dampf, kein gurgelndes Geräusch von einer Schraube oder einem Schaufelrade schlug den Flüchtlingen ans Ohr.
»Es ist da... ist da!« rief Pistache beim ersten Morgengrauen, und Coupe-à-Coeur bellte dazu aus Leibeskräften.
Der Brigadier täuschte sich nicht.
Zwei Seemeilen draußen ankerte ein kleines Fahrzeug, an dessen Gaffelbaume die französische Flagge im Winde flatterte. Als die Flammen das unbekannte[223] Eiland beleuchteten, hatte dessen Kapitän seinen Kurs geändert und war nach Südwesten gesteuert. Da das Eiland aber nach dem Erlöschen der Flammen unsichtbar war, hatte er aus Vorsicht den Anker fallen lassen und die Nacht über still gelegen.
Der Kapitän Hardigan und seine Gefährten riefen nun so laut sie konnten, und bald antworteten darauf andre Stimmen, unter denen sie aus einem sich nähernden Boote die des Leutnants Vilette und des Wachtmeisters Nicol erkannten.
Das Fahrzeug war der Aviso »Benassir« von Tunis, ein Dampfer von geringem Tonnengehalt, der vor sechs Tagen in Gabes eingetroffen war und sich als erster furchtlos auf das neuentstandene Meer gewagt hatte.
Wenige Minuten später legte das Boot am Fuße des Tell an, das den Flüchtlingen zum Retter geworden war, und der Kapitän Hardigan preßte den Leutnant Vilette in die Arme und der Wachtmeister den Brigadier Pistache in die seinigen, während Coupe-à-Coeur freudig an ihm in die Höhe sprang. Nicol hatte freilich große Mühe, in dem vor ihm stehenden Mann mit Backen- und Schnurrbart »Herrn« François wiederzuerkennen, und dessen erste Sorge war es gewiß, sich zu rasieren, sobald er den »Benassir« betreten hätte.
In den letzten achtundvierzig Stunden hatte sich aber folgendes ereignet:
Durch ein Erdbeben war das ganze östliche Gebiet des Djerid zwischen dem Golf und dem Melrir erschüttert und verändert worden. Nach dem Durchbruch der Küstenschwelle von Gabes und der über zweihundert Kilometer weit reichenden Senkung des Erdbodens hatte sich das Wasser der Kleinen Syrte durch den Kanal hereingestürzt, der den Schwall aber nicht allein aufzunehmen vermochte.
So hatte sich die Überflutung über das Gebiet der Sebkhas und der Schotts verbreitet und nicht allein das Rharsa gänzlich angefüllt, sondern neben diesem auch noch die ausgedehnte Niederung des Fejey-Tris. Glücklicherweise waren die Ortschaften La Hamma, Nefta, Tozeur und andere, dank ihrer etwas höhern Lage, nicht davon betroffen worden, sie konnten also auf der zukünftigen Landkarte als Seehäfen verzeichnet stehen.
Was das Melrir anging, war das Henguiz in diesem zu einer großen Zentralinsel geworden; doch wenn auch Zenfig verschont geblieben war, so hatten doch der Häuptling Hadjar und seine Räuberhorde, von der Flutwelle, überrascht, bis zum letzten Mann den Untergang gefunden.[224]
Der Leutnant Vilette hatte sich natürlich vergebens bemüht, den Kapitän Hardigan und dessen Begleiter wiederfinden. Alle Nachsuchungen waren erfolglos geblieben. Nachdem er die nächste Umgebung des Melrir zur Seite des Werkplatzes beim Kilometerstein 347 abgesucht hatte – wo übrigens die erwartete Arbeiterschar nicht eingetroffen war, da Pointar auf eine ihm von Biskra zugesagte Bedeckungsmannschaft gewartet hatte – war der Leutnant schleunigst nach Nefta aufgebrochen, um eine Expedition zustande zu bringen, mit der er gegen die verschiedenen Tuaregstämme zu ziehen gedachte.[225]
Hier hatte er aber die Führer und die beiden Spahis angetroffen, die durch einen glücklichen Zufall dem Schicksale ihrer Vorgesetzten entronnen waren.
Er befand sich in dieser Stadt zur Zeit des Erdbebens und war immer noch da, als der Befehlshaber des »Benassir«, der von Gabes abgefahren war, sobald die Überschwemmung das ermöglichte, hier eintraf, um den Stand der Dinge auf dem Rharsa und dem Melrir zu besichtigen.
Der Kommandant des Avisos erhielt sofort den Besuch des Leutnants und bot diesem, als er über die Sachlage unterrichtet war, an, mit dem Wachtmeister bei ihm an Bord zu bleiben. Vor allem galt es ja jetzt, nach dem Kapitän Hardigan, dem Ingenieur von Schaller und nach deren Gefährten zu suchen.
Der unter Volldampf fahrende »Benassir« steuerte deshalb nach Durchkreuzung des Rharsa auf die Gewässer des Melrir ein, um die Oasen an seinen Ufern und die der Farfaria, die von der Überschwemmung nicht betroffen sein konnten, eingehend abzusuchen.
In der zweiten Nacht der Fahrt hatte der Kommandant, aufmerksam gemacht durch den Schein der Flammen, den Kurs in der Richtung auf das Tell zu genommen, auf dem noch unbekannten Meere und mit Rücksicht auf seine zahlreiche Mannschaft hatte er aber, trotz des Drängens Vilettes, davon abgesehen, vor Anbruch des folgenden Tages mit dem Eiland in nähere Verbindung zu treten, und jetzt befanden sich nun die Flüchtlinge, alle heil und gesund, auf seinem Schiffe.
Sobald der Aviso seine neuen Passagiere aufgenommen hatte, schlug er den Weg nach Tozeur ein, wo der Kommandant die Geretteten aus Land setzen und den vorgesetzten Behörden schnellstens von dem Vorgefallenen Mitteilung machen wollte, ehe er seine Fahrt zur Besichtigung des Melrir bis an dessen äußerste Grenzen fortsetzte.
Als Herr von Schaller nebst seinen Begleitern in Tozeur das Land betrat, fand der Kapitän Hardigan auch seine hierher abgesendeten Leute wieder, und man kann sich wohl vorstellen, mit welch freudiger Genugtuung sich alle hier begrüßten.
Sogar die unauffindbare Arbeiterrotte von Biskra war hier durch eine von Tunis eingetroffene Depesche vertreten, in der Pointar, der mit seinen Leuten hatte bis Biskra zurückweichen müssen, um neue Instruktionen ersuchte.[226]
Bei dieser Gelegenheit sah endlich auch Va d'l'avant, »der alte Bruder«, Coupe-à-Coeur wieder, und es läßt sich gar nicht beschreiben, welche Befriedigung die treuen Tiere darüber zeigten.
Und alles das vollzog sich inmitten einer Volksmenge, die mit ihrer Begeisterung zwar nicht zurückhielt, in der jedoch noch immer die Erregung nachzitterte über die Vorgänge, die mit dem schrecklichen Naturereignisse verknüpft waren, während sie sich um die ersten Erforscher des neuen Meeres drängte.
Plötzlich sah sich da der Ingenieur einem Unbekannten gegenüber, der sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Volksmasse gebahnt hatte. Der Mann begrüßte ihn erst mit einer tiefen Verbeugung and sagte dann mit auffallend fremdem Akzent:
»Ich habe wohl die Ehre, Herrn von Schaller vor mir zu sehen?
– Das stimmt, antwortete der Ingenieur trocken.
– Nun, Herr Ingenieur, ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich auf Grund einer gerichtlichen und notariell bestätigten Vollmacht, versehen mit der Beglaubigung des Herrn Präsidenten des Gerichtshofes erster Instanz, betreffend die Angelegenheit der Franco-tunesischen Gesellschaft, visiert durch Exequatur des französischen Generalresidenten von Tunis – an deren Rande sich folgende Bemerkung findet: »Registriert Folio 200«, auf der Rückseite: »Abteilung 12. Kosten 3 Frcs. 75 bezahlt« – Unterschrift unleserlich daß ich der Mandatar der Liquidatoren der genannten Gesellschaft und mit den weitgehendsten Befugnissen ausgestattet bin, in der Sache zu verhandeln und gegebenenfalls einen Vergleich abzuschließen. Genannte Vollmachten ebenfalls gerichtlich bestätigt. Sie werden sich nicht verwundern, mein Herr Ingenieur, daß ich, auf diese Befugnis gestützt, im Namen der Gesellschaft von Ihnen Abrechnung verlange über die von jener unternommenen Arbeiten, die Sie sich weiter zu führen verpflichtet hatten.«
Infolge der überquellenden Freude, die ihn mehr und mehr erfüllte, seit er seine Gefährten wiedergefunden hatte und sein Werk auf eine so unerwartete Weise vollendet sah, verwandelte sich der sonst so kühle, so methodische Mann, der sich auch den verzweifeltsten Fällen so vollkommen zu beherrschen wußte, für einen Augenblick wieder in den Spaßvogel von früher, und spöttischen Tones wandte er sich an sein so sorgsam bevollmächtigtes Gegenüber mit den Worten:[227]
»Herr Mandatar mit den so weitreichenden Vollmachten, ein freundschaftlicher Rat: Nehmen Sie lieber Aktien des neuen Saharameeres!«
Unter lauten Hurrarufen und wohlgemeinten Glückwünschen setzte er seinen Weg fort und machte sich sofort daran, Anschläge zu den neuen Arbeiten aufzustellen, die sein Werk vervollständigen sollten und die er dem Berichte beizufügen gedachte, den er noch am heutigen Tage an die Verwalter der Gesellschaft absenden wollte.
Ende.
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