Neuntes Kapitel.
Der zweite Kanal.

[117] Der zweite Kanal, die Verbindung zwischen dem Rharsa und dem Melrir, war nur etwa ein Drittel so lang wie der erste, und während die Strecke zwischen Gabes und dem Rharsa Bodenniveau-Unterschiede von fünfzehn bis[117] sechsundvierzig Metern aufwies, überstiegen diese zwischen den beiden letzten Schotts an einer Bodenwelle bei Asloudje keine zehn Meter.

Hier sei auch hervorgehoben, daß die zweite Kanalstrecke – abgesehen von dem Rharsa und dem Melrir – durch mehrere, einige Kilometer lange Senkungsgebiete unterbrochen wurde, deren bedeutendstes das Schott von El Asloudje war und die man für die Linienführung des Kanales berücksichtigt hatte.

Die Ausschachtung der zweiten Strecke hatte deshalb weit weniger Zeit erfordert, als die der ersten, und sie war hier auch im ganzen leichter gewesen. Man hatte sie überhaupt erst später in Angriff genommen. Da hier die abschließenden Arbeiten mit der Provinz Constantine als Basis der Operationen und als Bezugsquelle für den Proviant ausgeführt werden konnten, war vor der Abreise von Schallers aus Gabes vereinbart worden, daß dieser beim Melrir, am Ende des zweiten Kanales, unter der Leitung eines im Wege- und Brückenbau gründlich erfahrenen Werkmeisters einen Bauhof mit Arbeitern finden würde, die sich nach der Bahnfahrt bis Biskra und einem Marsche längs der Farfaria mit ihm ins Einvernehmen setzen sollten.

Nach Besichtigung des Standes der bisherigen Arbeiten brauchte von Schaller dann nur die Grenzen des Schotts in Augenschein zu nehmen, und nach einem Ritt um diese nach seinem Ausgangspunkte zurückzukehren. Damit war dann seine Inspektionsreise abgeschlossen.

Als das Detachement des Ende des Rharsa erreichte, verwunderte sich der Ingenieur nicht wenig, hier keinen der arabischen oder der andern Arbeiter zu treffen, die von der Gesellschaft von Biskra ausgesendet worden waren.

Was mochte da vorgefallen sein? Die Sache schien etwas beunruhigend, vorzüglich wenn man sich den Angriff auf die Karawane und das Wiedererscheinen Hadjars vergegenwärtigte. Lag etwa eine Veränderung des Arbeitsplanes vor, ohne daß der Ingenieur rechtzeitig davon hatte benachrichtigt werden können, oder handelte es sich gar um eine in letzter Stunde beschlossene Verlegung der Kanallinie? Von Schaller hing seinen Gedanken darüber nach, als Kapitän Hardigan ihn fragte:

»Waren denn die Arbeiten an dieser Kanalstrecke noch nicht beendet?

– O doch, antwortete von Schaller, und nach den veröffentlichten Berichten mußte die Durchbrechung der Bodenwellen zwischen den überflutbaren Teilen mit Berücksichtigung des nötigen Falles bis zum Melrir hin fertig sein. Dieses selbst liegt ja im ganzen überall unter der Meeresfläche.[118]

– Warum wundern Sie sich dann, hier keine Arbeiter anzutreffen?

– Weil mir der Leiter der Arbeiter schon seit mehreren Tagen einige seiner Leute entgegengeschickt haben sollte, und weil ich mir keine Veranlassung vorstellen kann, durch die diese in Biskra oder am Melrir zurückgehalten worden wären.

– Und wie erklären Sie sich nun ihr Nichteintreffen?

– Das erkläre ich mir überhaupt nicht, gestand der Ingenieur, es müßte sie denn irgend ein Zwischenfall an der Hauptbaustelle, die am andern Ende des Kanals liegt, zurückgehalten haben.

– Nun, darüber werden wir ja bald Aufklärung erlangen, meinte der Kapitän Hardigan.

– Mag sein, mir ist die Sache doch recht unangenehm, und gleichzeitig erfüllt es mich mit einiger Besorgnis, die Leute, die ich brauche, hier nicht vorzufinden, da deren Abwesenheit meine Pläne stört.

– Wollen Sie, während das Lager instand gebracht wird, nicht vielleicht etwas weiter draußen Umschau halten? schlug Kapitän Hardigan vor.

– Ja, das möcht' ich wohl«, antwortete Herr von Schaller.

Man rief nun den Wachtmeister herbei. Dieser wurde beauftragt, den Ruheplatz für die Nacht in der Nähe einer Palmengruppe an der Mündung des Kanals einzurichten. Unter dem Schutze der Bäume wucherte ein üppiger Graswuchs, und neben den Palmen schlängelte sich ein kleiner Bach hin. An Wasser und an Futter fehlte es hier also nicht, und was frischen Proviant betraf, so konnte dieser in einer der Oasen am Rande des El Asloudje bequem beschafft werden.

Nicol kam den Befehlen seines Kapitäns getreulich nach, und die Spahis schlugen das Lager in derselben Weise auf, wie das unter ähnlichen Umständen bisher geschehen war.

Von Schaller und die beiden Offiziere benützten die letzte helle Stunde des Tages, am nördlichen Ufer entlang zu reiten, das sie wenigstens einen Kilometer weit verfolgen wollten.

Der kurze Ausflug belehrte den Ingenieur, daß die Ausschachtung der Strecke hier völlig beendet war und daß sich die Arbeiten in dem von ihm erwarteten guten Zustande befanden.

Der Erdboden des Einschnittes zwischen den Schotts gestattete ein ungehindertes Weiterströmen des Wassers aus dem Rharsa, sobald dieses mit dem[119] des Golfs gefüllt war, und der Neigungswinkel war entsprechend dem Plane des Ingenieurs eingehalten.

Von Schaller und seine Begleiter dehnten ihren Ritt nicht über einen Kilometer weit aus. So weit der Blick in der Richtung nach El Asloudje reichte, war das Land völlig verlassen. Da sie jedoch noch vor dem Abenddunkel wieder zurück sein wollten, schlugen der Ingenieur, Kapitän Hardigan und Leutnant Vilette alsbald den Weg nach dem Lagerplatze wieder ein.


Die Kafila setzte sich wieder in Bewegung. (S. 117.)
Die Kafila setzte sich wieder in Bewegung. (S. 117.)

Hier war schon ein Zelt für sie aufgeschlagen. François bediente sie in gewohnter tadelloser Weise. Als dann noch die nötigen Maßregeln wegen der Bewachung in der Nacht getroffen waren, konnten alle ruhig einschlummern, um sich für den Marsch des folgenden Tages zu kräftigen.

Wenn aber von Schaller und die zwei Offiziere bei ihrem Ausfluge keinen Menschen bemerkt hatten, und dieser Teil des zweiten Kanals ihnen völlig verlassen erschienen war, so traf das doch eigentlich nicht zu. Daß sie keinen der erwarteten Arbeiter entdecken konnten, darüber bestand ja kein Zweifel, und derIngenieur hatte auch nirgends eine Spur von Arbeiten aus der letzten Zeit gesehen.


Tuaregs. (S. 125.)
Tuaregs. (S. 125.)

Er und die beiden Offiziere waren aber von zwei, in einer Lücke der Dünenwand, hinter einem dichten Drißgebüsch versteckten Männern gesehen worden. Wäre Coupe-à-Coeur mit hier gewesen, so würde er die beiden jedenfalls aufgestöbert haben. Diesen kam es aber gar sehr darauf an, sich nicht zu zeigen. Aus der Entfernung von weniger als fünfzig Schritten beobachteten sie die drei Fremden, die sich am Kanalrande hinbewegten. Ebenso sahen sie die Drei, als diese den Rückweg eingeschlagen hatten. Als es dann dunkler zu werden anfing, wagten sie sich auch näher an das Lager heran.

Coupe-à-Coeur zeigte sich, als jene heranschlichen, zwar etwas unruhig und ließ ein dumpfes Knurren hören, der Wachtmeister beruhigte ihn aber, nachdem er die Umgebung, so gut es noch anging, überblickt hatte, und das Tier legte sich neben seinem Herrn nieder.

Anfänglich waren die Eingebornen am Saume des kleinen Gehölzes stehen geblieben; um acht Uhr war es aber schon völlig dunkel, denn in der dortigen Breite währt die Dämmerung nicht lange. Ohne Zweifel lag es ihnen daran, das am Anfang des zweiten Kanals rastende Detachement zu beobachten und zu erfahren, was es hier vorhatte und wer es befehligte.

Daß die Reiter einem Spahiregimente angehörten, wußten sie schon, denn sie hatten ja die beiden Offiziere in Begleitung des Ingenieurs bei deren kurzem Ausfluge gesehen. Jetzt wollten sie nur noch auskundschaften, wie zahlreich die Mannschaft der Abteilung wäre und welcherlei Material sie nach dem Melrir befördern möge.

Die beiden Eingebornen traten also in das Gehölz vollends hinein und krochen zwischen Gras und Gebüsch von einem Baum zum andern. Trotz der Dunkelheit konnten sie nun die am andern Rande des Gehölzes errichteten Zelte erkennen und auch die Pferde sehen, die sich auf dem Weideplatze hingelegt hatten.

In diesem Augenblicke war es, wo das Knurren des Hundes sie zur Vorsicht mahnte, und sie wandten sich auch sofort nach den Dünen zurück, ohne daß jemand im Lager von ihrer Nähe etwas geahnt hätte.

Erst als sie wußten, von niemand mehr gehört werden zu können, begannen sie ein Gespräch über ihre Beobachtungen.

»Also... er ist es doch... der... der Kapitän Hardigan?[123]

– Jawohl, derselbe, der Hadjar schon einmal gefangen hatte...

– Und auch derselbe Offizier, der damals unter seinem Befehle stand?

– Ja, sein Leutnant. O, ich habe beide sehr gut wiedererkannt...

– Wie sie jedenfalls auch dich erkannt haben würden...

– Du aber... mit dir sind sie niemals zusammengetroffen?

– Niemals.

– Gut!... Vielleicht... vielleicht gelingt es... da bietet sich eine Gelegenheit, die nicht so bald wiederkehren wird.

– Und wenn dieser Kapitän und sein Leutnant Hadjar in die Hände fallen...

– Dann... werden die nicht wieder daraus loskommen, wie Hadjar aus dem Bordj entwichen ist!

– Es waren nur ihrer drei, als wir sie sahen, nahm der eine der Eingebornen wieder das Wort.

– Ja, und auch, die da unten im Lager ruhen, sind nicht besonders zahlreich, antwortete der andre.

– Wer mochte aber jener Dritte sein?... Ein Offizier war es doch nicht.

– Nein; irgend ein Ingenieur von der verfluchten Gesellschaft. Er wird in Begleitung hierher gekommen sein, den Bestand der Kanalarbeiten zu besichtigen, ehe das Wasser eingelassen wird. Die ziehen offenbar alle nach dem Melrir, und wenn sie erst am Schott angelangt sind... und dann sehen werden...

– Daß sie es nicht überschwemmen können, rief der heftigere von den beiden Männern, und daß aus ihrem Saharameere nichts wird, dann werden sie stutzen, ziehen nicht weiter... und nun bedarfs nur eines Hunderts getreuer Tuaregs...

– Ja, das ist ganz gut; doch wie können wir sie benachrichtigen, damit sie rechtzeitig an Ort und Stelle sind?

– Die Oase von Zenfig ist ja keine zwanzig Lieues weit von hier... und wenn das Detachement nur bis an den Melrir geht und wir es dort einige Tage zurückhalten können...

– Ja ja, das wäre nicht unmöglich, freilich vorausgesetzt, daß sie keine Veranlassung haben, noch weiter zu ziehen.

– Und wenn sie dort warten, daß das Wasser des Golfs sich in das Schott ergießen soll, da können sie gleich ihr Grab an derselben Stelle ausgraben,[124] denn tot sind sie doch alle, ehe hier ein Tropfen Seewasser blinkt. – Komm, Harrig, komm!

– Ja ja, ich folge dir, Sohar!«

Diese Männer waren die beiden Tuareg, die bei Hadjars Flucht die Hand im Spiele gehabt hatten: Harrig, der Vermittler der Angelegenheit bei dem Mercanti von Gabes, und Sohar, der leibliche Bruder des Tuareghäuptlings. Sie verließen nun den Platz und verschwanden schnell in der Richtung nach dem Melrir.

Am nächsten Tage gab der Kapitän Hardigan eine Stunde nach Sonnenaufgang das Zeichen zum Aufbruch. Die Pferde wurden angeschirrt, die Leute stiegen in den Sattel, und die kleine Truppe zog in gewohnter Ordnung am nördlichen Ufer des Kanalbettes hin. Frisch und sorgfältig rasiert, nahm François seinen gewohnten Platz an der Spitze der Proviant- und Materialwagen ein, und da sich der Brigadier Pistache zu Pferde neben ihm hielt, konnten beide bequem über allerlei plaudern.

»Na, wie geht's denn, mein Herr François? fragte Pistache in dem humorvollen Ton, der ihm eigen war.

– O, vortrefflich, antwortete der würdige Diener des Herrn von Schaller.

– Der Zug wird Ihnen doch nicht zu langweilig und zu anstrengend?

– Nein, Brigadier; das ist ja nur ein Spaziergang durch ein merkwürdiges Land.

– Nun, das Schott wird bald ein andres Gesicht haben, wenn es erst unter Wasser steht.

– Freilich, ein ganz andres«, anwortete François mit gemessener und schulmeisternder Stimme.

Der peinliche, sorgsame Mann hatte seine Worte überhaupt niemals halb verschluckt. Er »saugte sie vielmehr aus«, hätte man sagen können, wie einer, der ein feinschmeckendes Bonbon im Munde hat.

»Und wenn ich mir vorstelle, fuhr Pistache fort, daß hier, wo unsre Pferde hintrotten, bald Fische schwimmen und Schiffe dahindampfen sollen...

– Jawohl, Brigadier, Fische jeder Art, Braunfische, Delphine und Haifische...

– Und Walfische, setzte Pistache hinzu.

– Nun, nein, das glaube ich denn doch nicht, Brigadier, für die dürfte es hier wohl an Wasser fehlen.[125]

– Oho, Herr François, nach der Aussage unsers Wachtmeisters wird die Tiefe des Rharsa zwanzig, und die des Melrir fünfundzwanzig Meter betragen.

– Doch nicht überall, Brigadier, und diese Meeresriesen brauchen viel Wasser, sich austummeln und nach Belieben durch die Spritzlöcher blasen zu können.

– Die Burschen haben wohl einen tüchtigen Atem, Herr François?

– Das will ich meinen! Genug für einen Hochofen oder die Orgeln aller Kathedralen Frankreichs ertönen zu lassen!«

Daß »Herr« François höchst befriedigt war von seiner entscheidenden Antwort, die den wackern Pistache nicht wenig Verwunderung abnötigte, bedarf wohl keiner besondern Versicherung.

Weiter beschrieb er mit einer Handbewegung die Gestalt des zukünftigen Meeres und sagte:

»Ich sehe im Geiste dieses Meer inmitten des Landes durchfurcht von Dampfern und Segelschiffen, die die kleine und große Küstenfahrt betreiben und dabei von Hafen zu Hafen fahren. Wissen Sie aber, was mein sehnlichster Wunsch wäre, Brigadier?

– Nur heraus mit der Sprache, Herr François.

– Nun, ich möchte mit an Bord des ersten Schiffes sein, das über die neuen Wasserflächen des alten algerischen Schotts hinsteuert. Ich rechne auch sehr darauf, daß der Ingenieur auf diesem Schiffe Plätze belegt hat, und daß ich mit ihm diese Fahrt auf dem von unsrer Hand geschaffenen Meere teile!«

Der gute Herr François war wirklich nahe daran zu glauben, daß er eine Art Mitarbeiter seines Herrn wäre, dem man die Schöpfung des zukünftigen Saharameeres mit zu verdanken habe.

Alles in allem – und damit beendigte der Brigadier Pistache diese interessante Unterhaltung – konnte man nach dem bisherigen glücklichen Verlauf der Expedition wohl erwarten, daß diese auch ein ebenso glückliches Ende nehmen werde.

Unter Beibehaltung des gewohnten Marschplanes – täglich zwei Etappen von sieben bis acht Kilometern – hoffte von Schaller, das Ende des zweiten Kanals in kurzer Zeit zu erreichen. Erst wenn das Detachement an der Grenze des Melrir angelangt war, sollte entschieden werden, ob man diesen von dem nördlichen oder dem südlichen Rande ausgehend umkreisen wollte. Viel kam ja[126] darauf nicht an, da es im Plane des Ingenieurs vorgesehen war, die Grenzlinie des Schotts in dessen ganzem Umfange zu besichtigen.

Die erste Strecke am Kanale hin wurde noch am Vormittage zurückgelegt. Dieser Teil reichte vom Rharsa bis zu der kleinen, unter dem Namen El Asloudje bekannten Bodensenkung, die von sieben bis zehn Meter hohen Dünen eingerahmt war.

Ehe das Melrir erreicht wurde, mußte man aber noch durch eine Reihe kleiner Schotts oder an deren Rande hinziehen, die, einander staffelförmig folgend, eine fast ununterbrochene Linie seichterer und von niedrigeren Rändern eingeschlossener Vertiefungen bildeten und vom Wasser aus dem Mittelmeere unbedingt überflutet werden mußten.


Sie waren von zwei hinter einem dichten Drißgebüsch... (S. 123.)
Sie waren von zwei hinter einem dichten Drißgebüsch... (S. 123.)

Hieraus ergab sich also die Notwendigkeit, sie von einem Durchstich zum andern mit Bojen auszustatten zur Bezeichnung der Fahrrinne durch diese Schotts, da sich auf diesem neuen, durch die Kenntnisse und die Tatkraft des Menschen geschaffenen Meere doch bald Schiffe aller Art einfinden würden. Dasselbe war ja bei der Anlage des Suezkanales, da wo er die Bitterseen durchschneidet, notwendig gewesen, wo ein sichres Steuern der Schiffe ohne zuverlässige Anhaltspunkte ebenso unmöglich gewesen wäre.

Auch hier waren die Arbeiten in erwünschter Weise vorgeschritten; die mächtigen Maschinen hatten tiefe Fahrrinnen bis zum Melrir hin ausgehoben. Was hätte man da erst heute, wenn das erforderlich gewesen wäre, ausführen können, ausführen mit Hilfe der neuesten Maschinen, der riesigen Trockenbagger, der Gesteinsbohrer, denen nichts widerstehen kann, mit den Abraum-Transportwagen, die über provisorisch gelegte Gleise hinrollen, kurz, mit den gewaltigen Hilfswerkzeugen, von denen der Kommandant Roudaire und seine Nachfolger keine Ahnung haben konnten, von allem, was Erfinder und Ingenieure seit den Jahren erdacht und ausgeführt hatten, die zwischen dem Anfang der Ausführung des Roudaireschen Planes, nachher des von der Franco-orientalischen Gesellschaft entworfenen und von ihr wieder aufgegebenen Projektes lagen bis zur Wiederaufnahme der Angelegenheit durch die Französische Gesellschaft des Saharameeres unter Leitung des Herrn von Schaller?

Alles, was bisher geschaffen worden war, erwies sich in dem guten Zustande, wie ihn der Ingenieur Schaller vorausgesehen und in der Versammlung in Gabes mit so beredten Worten dargelegt hatte, als er von den dem afrikanischen Klima eignen, konservierenden Eigenschaften sprach, die sogar die in[127] der Vorzeit unter Sand begrabenen und erst vor nicht langer Zeit wieder aufgedeckten Ruinen geschont hatten. In der Umgebung der fast oder völlig vollendeten Kanalarbeiten herrschte aber die trostloseste Öde. Wo sich früher eine geschäftige Arbeiterschar bewegt hatte, da lastete trauriges Schweigen auf dem Platze, wo man keinem menschlichen Wesen begegnete und nur die jetzt verlassenen Arbeiten dafür zeugten, daß hier einmal menschliche Tatkraft, Ausdauer und Energie geherrscht und der verlassenen Gegend vorübergehend den Schein frisch pulsierenden Lebens verliehen hatten.[128]

Es war also eine Besichtigung in der Einöde, die von Schaller jetzt vornahm und die er völlig durchführen mußte, ehe er die neuen, und – alles deutete darauf hin – endgültigen Projekte in erwünschter Weise verwirklichen konnte. Gerade gegenwärtig erschien diese Verlassenheit aber besonders drückend, und der Ingenieur empfand es als eine schwere Enttäuschung, hier, wie es doch ausgemacht war, keinen der Leute von der Rotte aus Biskra anzutreffen.


Die Umgebung war öde. (S. 131.)
Die Umgebung war öde. (S. 131.)

Eine grausame Enttäuschung, wenn sich von Schaller auch sagte, daß man von Biskra zum Rharsa nicht so bequem gelangen könne wie von Paris nach Saint-Cloud, und daß auf einem so langen Wege ein Zwischenfall nicht ausgeschlossen sei, der alle vorhergehenden Berechnungen und den Marschplan umstieße. Dennoch schien das kaum möglich, da der Gesellschaftsvertreter in Biskra ihm nach Gabes telegraphiert hatte, daß bis zu jener Stadt alles gut gegangen und man den van Paris selbst erhaltenen Instruktionen genau nachgekommen wäre. Es konnte also nur auf dem weitern Marsche, vielleicht in der sumpfigen, oft überschwemmten und wenig bekannten Gegend der Farfaria, zwischen Biskra und dem Schott Melrir, wo er bald einzutreffen hoffte, etwas vorgekommen sein, was die Leute zurückgehalten haben würde, die er hier zu finden hoffte. Betritt man nur einmal das Feld der Vermutungen, so kommt man kaum wieder davon weg. Die eine drängt mit peinlicher Beharrlichkeit die andre, und sie beschäftigten jetzt die Einbildungskraft von Schallers, ohne ihm doch eine gut annehmbare, ja nur eine wahrscheinliche Erklärung zu geben. Sein Erstaunen und seine Enttäuschung verwandelten sich, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, zur wirklichen Besorgnis, und das Ende des halben Tagesmarsches kam heran, ohne seinen bedenklichen Gesichtsausdruck zu mildern. Der Kapitän Hardigan hielt es auch für angezeigt, die Umgebung absuchen zu lassen.

Auf seinen Befehl mußte der Wachtmeister mit einigen Reitern ein bis zwei Kilometer seitwärts vom Kanale hintrotten, während das übrige Detachement seinen Weg am Kanalbette fortsetzte.

Die Umgebung war öde, es sah jedoch aus, als ob sie erst seit kurzem so verlassen wäre. Nach Zurücklegung der zweiten Marschstrecke machte die Abteilung am Rande des kleinen Schotts Halt. Ringsumher alles kahl und keine Oase in der Nähe. Bisher war das Nachtlager noch nie unter so ungünstigen Verhältnissen – ohne Bäume als Schutz, ohne Weideplätze für die Pferde – aufgeschlagen worden. Überall nichts als der Reg, das trostlose Gemenge von Kiesel und Sand, ohne die Spur eines grünen Halmes auf dem ebenen Boden.[131]

In den Wagen befand sich jedoch genug Futter für die Ernährung der Reit- und der Zugtiere. Längs des Melrir, wo der Weg der kleinen Truppe von Oase zu Oase führte, war übrigens Gelegenheit genug, sich mit allem neu zu versorgen. Fehlte es hier auch an wirklichen Oueds (Bächen), so fanden sich doch einige »Ras« (Wüstenquellen), aus denen Menschen und Tiere ihren Durst löschen konnten; freilich hätte man fürchten können, sie völlig zu leeren, so erstickend war die Hitze dieses Tages gewesen.

Die Nacht verlief ganz ruhig; sie war sehr hell, da gerade der Vollmond von dem sternenbesäten Himmel leuchtete. Wie immer, wurde die nächste Umgebung sorgsam überwacht. Bei dem überall offenen Terrain hätten übrigens weder Sohar noch Harrig den Lagerplatz umschleichen können, ohne bemerkt zu werden.

Dem wollten sie sich, da es ihren Absichten nicht entsprach, gewiß auch nicht aussetzen; der Ingenieur, der Kapitän Hardigan und seine Spahis sollten erst weiter nach den algerischen Schotts vorgedrungen sein.

Am nächsten Tage erfolgte der Aufbruch wieder in sehr früher Morgenstunde. Von Schaller drängte es, das Ende des Kanals zu erreichen. Dort lag der Durchstich, der dem Schott Melrir das Wasser des Golfs von Gabes zuführen sollte.

Noch immer zeigte sich aber keine Spur von der Arbeiterrotte aus Biskra, deren Ausbleiben ein wirkliches Geheimnis blieb.

Was mochte ihr zugestoßen sein? Von Schaller erschöpfte sich in den verschiedensten Vermutungen. An der vorher genau festgesetzten Stelle angekommen, fand er doch keinen von denen, die er erwartete, und deren Nichterscheinen ihn mehr und mehr mit Besorgnis erfüllte.

»Da muß offenbar etwas Ernstes vorgekommen sein! wiederholte er immer und immer.

– Das fürchte ich auch, stimmte Kapitän Hardigan bei. Wir wollen nur versuchen, vor Anbruch der Nacht das Melrir zu erreichen.«

Die Mittagsrast wurde also möglichst abgekürzt. Die Wagen blieben bespannt und die Pferde wurden nicht abgeschirrt... man gönnte sich nur die Zeit, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Nach dieser letzten Marschstrecke war ja Zeit genug, ordentlich auszuruhen.

Das Detachement, das auch auf dem weitern Wege keiner lebenden Seele begegnete, beeilte sich nun dermaßen, daß schon um vier Uhr nachmittag die[132] Höhen auftauchten, die das Schott an dieser Seite umschließen. Zur Rechten, beim Kilometersteine 347, befand sich der letzte Werkplatz der Gesellschaft, von wo aus die Arbeiten beendigt werden sollten; bis dahin hatte man nur noch den Durchstich nach dem Schott Melrir und seines Eingangsteiles, das Schott Sellna, zu passieren, um an den aufragenden Wall zu gelangen.

Wie der Leutnant Vilette bald bemerkte, kräuselte sich am Horizont aber keine Rauchsäule, und ebensowenig war aus der gerne ein Geräusch zu vernehmen.

Die Pferde wurden so viel wie möglich angetrieben, und da der Hand immer vor diesen hersprang, konnte es Nicol nicht verhindern, daß sein Pferd der Spur Coupe-a-Coeurs folgte.

Schließlich setzten sich alle in Galopp, und in eine dichte Staubwolke gehüllt, machten die Spahis an der Ausmündung des Kanals Halt. Hier zeigte sich, ebensowenig wie beim Rharsa, auch nur eine Andeutung von dem Eintreffen der Arbeitergruppe, die von Biskra hatte kommen sollen, wie groß war dagegen die Überraschung, das schmerzliche Erstaunen des Ingenieurs und seiner Begleiter, als sie den Werkplatz verwüstet, das Kanalbett ein Stück weit ausgefüllt und jeden Durchgang von einer künstlichen Barre versperrt sahen. Ohne eine Wiederaufnahme der Arbeiten an dieser Stelle war es vorläufig also ganz unmöglich, daß sich zugeleitetes Wasser in die Bodensenke des Melrir ergießen könnte!

Quelle:
Jules Verne: Der Einbruch des Meeres. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVII, Wien, Pest, Leipzig 1906, S. 117-121,123-129,131-133.
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