Fünfzehntes Capitel.
Ein schlechtes Jahr.

[180] Die Verletzung Findlings erwies sich nicht als gefährlich, obwohl er dadurch viel Blut verloren hatte. Wären die drei andern aber nur eine Minute später gekommen, so hätten sie nur eine Leiche gefunden und würde Kitty ihr Kind nie wiedergesehen haben.

Natürlich wurde Findling in den wenigen Tagen bis zu seiner Wiederherstellung aufs sorgfältigste gepflegt. Mehr als je empfand es da der arme Knabe, daß er, eine Waise von unbekannter Herkunft, jetzt eine Familie hatte.[180]

Wie dankbar nahm er alle Liebe und Güte hin, zumal wenn er an die vielen glücklichen Tage dachte, die er in der Farm schon verlebt hatte. Um deren Zahl zu wissen, brauchte er ja nur die Kieselsteine zu zählen, wovon ihm Martin jeden Abend einen gegeben hatte, doch mit ganz besondrer Freude sah er den Stein in seiner Kruke verschwinden, den er am Abend nach dem Vorkommnisse mit dem Wolf empfing.

Mit dem Neujahr setzte der Winter nochmals in alter Strenge ein und es machten sich jetzt gewisse Vorsichtsmaßregeln nöthig. Aus der Umgebung der Farm wurde das Erscheinen starker Banden von Wölfen gemeldet, deren Zähnen die morschen Wände des Hauses kaum widerstanden hätten. Martin und seine Söhne mußten wiederholt auf die hungernden Bestien Feuer geben. So war es in der ganzen Grafschaft, wo das Land in den langen Nächten von erschreckendem Geheul widerhallte.

Dieses Jahr brachte einen jener schlimmen Winter, die über das nördliche Europa die eisigschneidenden Winde des Polarbeckens zu entfesseln scheinen. Immer blieb eine nördliche Luftströmung vorherrschend, und diese führt ja bekanntlich die schlimmste Kälte mit sich. Leider drohten diese Verhältnisse sich lange auszudehnen, wie die algide Periode bei von Fieber verzehrten Kranken. Und wenn die Kranke die Erde ist, die sich verzieht, wie die Lippen eines Sterbenden, die unter dem Einfluß der Kälte zu Stein verhärtet, dann möchte man glauben, daß ihre Fruchtbarkeit für immer erlöschen müsse, wie es für jene todten Weltkörper gilt, die schon so zahlreich durch den Himmelsraum irren.

Die Befürchtungen des Farmers und seiner Familie waren bei der ungewöhnlichen Härte des Winters also gewiß gerechtfertigt. Durch den Verkauf eines Theils seiner Schafe hatte Martin indeß das Geld für Abgaben und Pachtzins herbeischaffen können, und als sich der Middleman zu Weihnachten einstellte, erhielt er unverkürzt, was ihm zukam. Das verwunderte den Mann ein wenig, denn in den meisten Farmen blieb er unbefriedigt und hatte den gerichtlichen Weg zur Austreibung der Pächter einschlagen müssen. Martin Mac Carthy wußte freilich auch nicht, wie er im nächsten Jahre seinen Verpflichtungen werde nachkommen können, wenn es ihm an dem nöthigen Saatgetreide fehlte.

Hierzu kam auch noch weiteres Unglück. Infolge der bis auf dreißig Grad unter Null herabsinkenden Kälte gingen in den Ställen vier Pferde und fünf Kühe ein, da es unmöglich gewesen war, die in verfallenem Zustande befindlichen Gebäude, welche dem Anpralle des Sturmes nicht mehr gewachsen waren, genügend[181] dicht geschlossen zu halten. Auch der Hühnerhof erlitt trotz aller Bemühungen, die man auf ihn verwandte, empfindliche Verluste. Jeden Tag wuchs die Deficitseite in Findlings Notizbuche. Am bedrohlichsten aber erschien es, daß auch das Wohnhaus der Zerstörung durch die Witterung anheimfallen könnte. Martin, Murdock und Sim blieben deshalb auch unausgesetzt thätig, dasselbe auszubessern und widerstandsfähiger zu machen.

Manchmal kamen ganze Tage, an denen kein Mensch einen Fuß ins Freie setzen konnte. Die Wege, auf denen mannshoher Schnee lag, waren völlig ungangbar. Die am Geburtstage Jennys mitten im Hofe gepflanzte Tanne streckte nur noch den vom Rauchfrost weißen Kopf hervor. Um zu den Ställen zu gelangen, mußte ein Gang ausgeschaufelt und dieser täglich zweimal gereinigt werden. Ebenso gelang die Beförderung des Futters von einem Hofgebäude zum andern nur mit größter Mühe.

Ganz unfaßbar schien es, daß die Kälte trotz des fort und fort herabfallenden Schnees nicht nachließ. Freilich rieselte der Schnee nicht in leichten sternförmigen Flocken nieder, sondern stürmte wie ein Platzregen aus kleinen Eiskrystallen einher, die sich in den tollen Luftwirbeln jagten. Hierdurch wurden alle Bäume und Sträucher mit perennierenden Blättern der letzteren vollständig beraubt.

Zwischen den Ufern des Cashen bildete sich allmählich ein Eisschutz von enormem Umfang. Fast glich dieser einem wirklichen Eisberge und legte die Befürchtung weiterer Unfälle bei eintretendem schnellen Thauwetter nahe. Wälzte dann der Fluß seine Wassermassen bis an die Farm heran, so hätten Martin und seine Söhne gewiß nicht mehr gewußt, wie sie die Baulichkeiten derselben schützen sollten.

Für jetzt lagen ihnen jedoch andre Sorgen, die für die Pflege und Ernährung des Viehbestandes, näher. Von der Geißel des Orkans wurden die Strohdächer der Stallungen zerrissen, und diese mußten zunächst ausgebessert werden. Was von den Schafen, den Kühen und Pferden noch übrig war, blieb mehrere Tage der außerordentlichen Kälte ausgesetzt, und mehrere von den Thieren kamen noch vor Frost um. So mußten denn die Dächer trotz des schneidenden Sturmwindes wohl oder übel wiederhergestellt werden, und es machte sich dazu nöthig, den vordern Theil der nach der Straße zu gelegenen Stallungen ganz abzudecken, um mit dem gewonnenen Langstroh andre Lücken zu verschließen.

Das Wohnhaus der Familie Mac Carthy blieb auch nicht verschont. Eines Nachts stürzte die Mansarde ein, und Sim, der sie bewohnte, mußte nach dem[182] großen Zimmer im Erdgeschoß übersiedeln. Da nun aber auch von diesem die Decke bedroht war, weil sich der Schnee immer mehr darüber anhäufte, mußte diese mit rohen Pfählen gestützt werden.

Auch weiterhin verlor der Winter nichts an seiner Strenge. Der Februar blieb noch ebenso kalt, wie der Januar, und die Mitteltemperatur hielt sich auf zwanzig Grad unter Null. Die Insassen der Farm glichen mehr Schiffbrüchigen im Polarmeere, die das Ende des Winters nicht abzusehen vermögen. Leider drohte hier das endliche Thauwetter mit neuen Katastrophen, wenn der Cashen weit aus seinen Ufern trat.

Zum Glück war auf der Farm kein Nahrungsmangel zu fürchten; an Fleisch und Zuspeisen fehlte es nicht; dazu lieferten die nur durch den Frost umgekommenen und jetzt leicht zu conservierenden Thiere einen reichlichen weiteren Vorrath.

Wurde der Hühnerstall decimiert, so ertrugen die Schweine die niedrige Temperatur ganz gut, und schon durch sie allein wäre die Ernährung der Pächterfamilie auf sehr lange Zeit gesichert gewesen. Was das Heizmaterial anging, brauchten sie nur die vom Sturme abgebrochenen Zweige aus dem Schnee aufzulesen, um an Torf zu sparen, der allmählich zur Neige ging.

Kräftig und gesund, von langer Zeit her abgehärtet, erwiesen sich jedoch der Vater und dessen Söhne dem rauhen Klima völlig gewachsen und auch der Findling zeigte eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit. Bisher hatten sich auch die Frauen, Martine und Kitty, ohne sich der allgemeinen Arbeit zu entziehen, recht wohl befunden. Die kleine Jenny, immer im dicht verschlossenen Zimmer gehalten, wuchs wie eine Pflanze im Warmhause auf. Dagegen schien die Großmutter, trotz aller ihr gewidmeten Pflege, ernstlicher angegriffen zu sein. Ihre körperlichen Leiden wurden von der heimlichen Angst, die Zukunft der Ihrigen bedroht zu sehen. natürlich noch verschlimmert. Das war mehr als sie aushalten konnte und bereitete der ganzen Familie recht schmerzliche Unruhe.

Im April wurde die Temperatur wieder normaler und stieg endlich über den Gefrierpunkt. Der Erdboden brauchte aber noch die ganze Wärme des Mai, um seiner Eiskruste ledig zu werden, und zur Einsaat war es also schon spät, sehr spät. Die Futterkräuter konnten vielleicht noch gedeihen, die Getreidearten aber schwerlich reif werden.


Indem er die Wiege mit fortschleppte. (S. 179.)
Indem er die Wiege mit fortschleppte. (S. 179.)

So dachte man schon daran, das Saatkorn nicht unnütz zu verwenden und sich lieber des Anbaues von Gemüse und Knollenfrüchten zu befleißigen, deren Ernte im October zu erwarten war, –[183] vorzüglich der Kartoffeln, durch die das Land wenigstens vor den Schrecken einer Hungersnoth bewahrt blieb.

Nach der Schneeschmelze zeigte sich der Erdboden leider fünf bis sechs Fuß tief fest gefroren. Das war keine zerreibliche Erde mehr, sondern ein Humus von Granit, in dem keine Pflugschar eine Furche aufreißen konnte.


Findling erwartete den Wolf festen Fußes. (S. 179.)
Findling erwartete den Wolf festen Fußes. (S. 179.)

Der Anfang der Feldarbeiten mußte bis zu den letzten Tagen des Mai hinausgeschoben werden. Die Erde schien alle Wärme verloren zu haben so[184] langsam thaute die Schneedecke hinweg, und in den mehr bergigen Theilen der Grafschaft dauerte das gar bis in den Juni hinein.

Der Beschluß, sich auf den Anbau von Kartoffeln zu beschränken und auf Getreide ganz zu verzichten, wurde ganz allgemein gefaßt. Was auf der Farm von Kerwan geschah, wiederholte sich in allen andern Farmen des Gebietes von Rockingham. Dieselbe Maßnahme beschränkte sich nicht allein auf die Grafschaft Kerry, sondern erstreckte sich auch über die Westirlands in Munster, wie in Connaught und Ulster. Nur die Provinz Leinster war eher frei von Schnee[185] und hier konnte die Feldbestellung noch mit einiger Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden.

Die Folge war also, daß die schwergeprüften Pächter sich tüchtig anstrengen mußten, um die Felder für den Anbau von andern Früchten und Gemüsen in Stand zu setzen. In der Farm von Kerwan unterzogen sich Martin und seine Söhne dieser Arbeit, die für sie um so beschwerlicher war, weil es ihnen an Zugthieren fehlte. Nur ein einziges Gespann, von einem Pferde und dem Esel gebildet, stand ihnen zur Verfügung.

Mit unausgesetztem Fleiße gelang es ihnen jedoch bei je zwölfstündiger Arbeit nach und nach einige dreißig Acres zu bepflanzen, freilich mit der Befürchtung, daß ein vorzeitiger Winter sie auch um die Frucht dieser Mühen bringen könnte.

Da ereignete sich noch ein allen Gegenden Irlands gemeinsames Unglück. Gegen Ende des Juni brannte die Sonne so heiß, daß der noch auf den Bergen lagernde Schnee sehr schnell niederschmolz. Am schlimmsten hatte, ihrer vielverzweigten Wasserläufe wegen, hiervon die Provinz Munster zu leiden. In der Grafschaft Kerry steigerte sich das bis zur wirklichen Katastrophe. Die vielen Flüsse schwollen mächtig an und verursachten ausgedehnte Ueberschwemmungen. Viele Häuser fielen der Fluth zum Opfer. Ueberrascht von der plötzlich eintretenden Wassersnoth warteten die Bewohner derselben vergeblich auf Hilfe. Fast alles Vieh kam um, und gleichzeitig wurde die so mühsam vorbereitete Ernte vollständig vernichtet.

In der Grafschaft Kerry verschwand ein Theil der Domäne Rockingham unter den Fluthen des Cashen.

Vierzehn Tage lang blieb die Umgebung der Farm auf einen Umkreis von zwei bis drei Meilen in einen See verwandelt – in einen See mit wilden Strömungen, die entwurzelte Bäume, Trümmer von Hütten, abgehobene Dächer und auch die Cadaver der Thiere, deren die Bauern sehr viele verloren, in brodelndem Strudel mit sich fortrissen.

Die Ueberschwemmung erstreckte sich bis zu den Scheuern und Stallungen der Farm, die davon fast gänzlich zerstört wurden. Trotz unmenschlicher Anstrengung gelang es, außer bezüglich einiger Schweine, nicht, die noch vorhandenen Thiere zu retten. Wurde das Wohnhaus auch von der Fluth nicht weggetragen, so reichte sie doch bis zum Niveau des Erdgeschosses heran, und auch dieses war in der schlimmsten Nacht recht schwer bedroht.[186]

Den Todesstoß aber erhielt das Land weithin durch die Vernichtung der erhofften Kartoffelernte, denn die Fluthen hatten auch die Setzkartoffeln herausgespült.

Noch niemals hatte die Familie Mac Carthy auf ihrem Pachtgute eine solche Kette von Mißgeschick erlitten, niemals hatte sich dem irischen Farmer der Ausblick in die Zukunft so schwer verdüstert. Jetzt war seine Lage thatsächlich unhaltbar und die Existenz der unglücklichen Leute ernstlichst bedroht. Martin wußte wahrlich nicht, was er antworten sollte, wenn ihm die Staatsabgaben und die Pachtzinsen abgefordert würden.

Die Lasten eines solchen Pächters sind in der That gar so schwer. Wenn der Steuereinnehmer und der Pachtcassierer sich einstellen, wandert stets der allergrößte Theil seines Baarvermögens in deren Tasche. Haben die Latifundienbesitzer auch dreihunderttausend Pfund Sterling an Grundrente und sechshunderttausend Pfund Armenabgabe zu leisten, so sind die Bauern doch noch mehr bedrückt durch persönliche Lasten, d. h. durch die Abgaben für Straßen und Brücken, für Polizei und Justiz, für die Gefängnisse und öffentlichen Arbeiten... was zusammen die ungeheure Summe von einer Million Pfund Sterling (20 Millionen Mark) ausmacht, und zwar allein für das arme Irland.

Ist die Ernte gut ausgefallen, hat das Jahr einige Ersparnisse ermöglicht, kurz, sind die Verhältnisse günstig gewesen, so wird es dem Pächter schon schwer genug, den Anforderungen des Staates und der Gemeinde zu entsprechen, während er ja überdies noch den Pachtschilling aufzubringen hat. Was beginnt er aber, wenn sein Land nur dürftigen Ertrag lieferte, wenn Winterfrost und Ueberschwemmungen die Felder verwüsteten und dann die Gespenster des Hungers und der drohenden Vertreibung aus seinem Gütchen am Horizonte aufsteigen? Alles das hindert ja den Einnehmer nicht, zur gewöhnlichen Zeit vorzusprechen, und nach seinem Besuche... sind die letzten Sparpfennige verschwunden. So stand es jetzt Martin Mac Carthy bevor.

Frohe festliche Stunden, wie sie Findling in der ersten Zeit seines Aufenthaltes hier kennen gelernt hatte, gab es jetzt nicht mehr. Aus Mangel an Arbeit rasteten alle, und so saß die ganze Familie in den langen Sommertagen verzweifelt bei der Großmutter, die zusehends schwächer und schwächer wurde.

Die traurigen Unglücksfälle hatten die meisten Bezirke der Grafschaft gleichmäßig betroffen. Von Eintritt des Winters 1881 an hörte man schon überall von einem allgemeinen Boycott sprechen, einer Einstellung aller nothwendigen[187] Feldarbeiten, um eine Weiterverpachtung und jeden sofortigen Anbau des Ackerlandes zu hintertreiben – eine Maßregel, die den Pächter ebenso wie den Grundeigenthümer ruiniert. Durch solche unüberlegte Mittel wird sich Irland niemals den Fesseln der Feudalherrschaft entziehen, nie eine allmähliche Ueberlassung des Bodens in das wirkliche Eigenthum der Kleinpächter erwirken und wird es nie die verderblichen Gepflogenheiten des Landlordismus beseitigen können.

Die Erregung verdoppelte sich indeß in den von so vielem Unglück betroffenen Kirchspielen. Vor allen zeichnete sich Kerry aus durch den Widerhall aus seinen Meetings und durch die Kühnheit der Verfechter der Autonomie, die es unter Entfaltung der Fahne der Landliga durchzogen. Im Vorjahre schon war Parnell in drei Wahlbezirken gewählt worden.

Zum Schrecken seiner Gattin und seiner Mutter stürzte sich Murdock ohne alle Rücksicht in den Strudel dieser Bewegung. Frost und Hunger trotzend, eilte er von Ort zu Ort, um Einigkeit in der Pachtzinsverweigerung zu erzielen und eine Weiterverpachtung der Felder nach etwaiger Vertreibung der jetzigen Pächter unmöglich zu machen. Martin und Sim hätten vergeblich versucht, ihn zurückzuhalten. Im Grunde stimmten sie ihm ja völlig bei, da sie sahen, daß alle ihre Mühe und Arbeit nun doch zu... nichts anderem geführt hatte, als daß man sie in der nächsten Zeit aus der so lange von ihrer Familie bewirthschafteten Farm von Kerwan verjagen würde.

Die Regierung aber hatte, in Voraussicht von Unruhen nach einem so verderblichen Jahre, bereits ihre Maßregeln getroffen. Schon schwärmten Abtheilungen der »mounted constabulary« (berittene Polizei) durch das Land, mit der Anweisung, die Gerichtsdiener und Häscher mit bewaffneter Hand zu unterstützen. Ebenso hatten sie, wenn nöthig, die Volksversammlungen mit Gewalt zu sprengen und die übrigens schon bekannten fanatischen Agitatoren zu verhaften. Wenn Murdock zu diesen augenblicklich vielleicht noch nicht gehörte, so mußte das gewiß sehr bald der Fall sein. Uebrigens vermögen die Irländer ja gegen ein System, das sich auf dreißigtausend alle Zeit fertige Gewehre stützt, doch nichts auszurichten.

Nun vergegenwärtige man sich die quälende Angst der Familie Mac Carthy! Sobald von der Straße Schritte ertönten, wurden Martine und Kitty todtenbleich. Die Großmutter richtete langsam den Kopf auf und ließ ihn kraftlos wieder niedersinken. Immer fürchteten die Frauen, es könnten Polizisten eindringen, um Murdock und vielleicht auch dessen Vater und Bruder in Hast zu nehmen.[188]

Wiederholt hatte Martine ihren ältesten Sohn angefleht, sich den den hervortretenden Mitgliedern der Landliga drohenden Maßregeln nicht auszusetzen. Erst waren in den Städten Verhaftungen vorgenommen worden, und auf dem Lande mußten solche bald folgen. Murdock hätte sich dann kaum verbergen können.

An die Aufsuchung einer Zufluchtsstätte in den Felsenhöhlen der Küste oder im Dickicht des Waldes war im Winter gar nicht zu denken. Murdock wollte sich von Frau und Kind auch nicht trennen, und wenn er auch in den weniger überwachten Grafschaften des Nordens hätte etwas mehr Sicherheit finden können, so fehlte es ihm doch an Mitteln, Kitty dahin mitzunehmen und für deren Unterhalt zu sorgen. Die Casse der Nationalisten war, trotz ihres Bestandes von zwei Millionen Pfund, nicht in der Lage, die Erhebung gegen den Landlordismus siegreich durchzuführen.

Murdock blieb also in der Farm, doch stets bereit zur Flucht, wenn die Constabler hier etwa zu einer Haussuchung einträfen. Findling und Birk blieben in der Umgebung auf der Wacht. Niemand hätte sich bis auf eine halbe Meile nähern können, ohne bemerkt und gemeldet zu werden.

Weit mehr beunruhigte Murdock übrigens das nächste Erscheinen des Pachtcassierers, der die zu Weihnachten fällige Bodenrente einzuholen käme.

Bisher war Martin Mac Carthy immer im Stande gewesen, seinen Verpflichtungen aus dem laufenden Ertrage der Farm und im Nothfall aus früheren Ueberschüssen nachzukommen. Nur ein- oder zweimal hatte er, wenn auch mit Mühe, eine kurze Gestundung erbeten und erlangt, um die volle Summe herbeizuschaffen. Heute wußte er leider nicht, woher das Geld kommen oder was er verkaufen sollte, da ja nichts mehr vorhanden war, weder von den Hausthieren, die er zum Theil verloren hatte, noch von seinen Ersparnissen, die schon von den Staatsabgaben aufgezehrt waren.

Der Eigenthümer der Domäne von Rockingham war – wie schon erwähnt – ein englischer Lord und noch niemals nach Irland gekommen. Beseelten ihn auch die besten Absichten bezüglich seiner Pächter, so kannte er diese doch nicht und konnte ebenso wenig für sie im Einzelfalle eintreten, wie diese sich an ihn selbst wenden. Der Middleman, der die Ausbeute der großen Besitzung auf eigne Rechnung übernommen hatte, wohnte in Dublin. Auch er kam mit den Pächtern nur selten in Berührung und überließ es einem Unterbeamten, die Grundrenten zur gewohnten Zeit einzuziehen.[189]

Dieser Mann, der sich jährlich beim Pächter Mac Carthy einfand, hieß Harbert. Rauh und hart, zu sehr gewöhnt an den Anblick des Elends, um davon noch ergriffen zu werden, war er mehr ein Art Gerichtsbote, ein Häscher, den kein Bitten und Flehen zu erweichen vermochte. Bei seinen Besuchen in den Farmen der Grafschaft hatte er schon genügend bewiesen, wessen er fähig war – hatte ohne Gnade so manche unglückliche Familie in die Winterkälte hinausgetrieben, selbst ohne Gewährung einer Frist zur Beschaffung eines andern Unterkommens. Mit bestimmten Vorschriften hinausgeschickt, schien es, als ob der Mann sich ein Vergnügen daraus machte, diese in aller Härte auszuführen. Die Grüne Insel ist ja das Land, aus dem der traurige Ausspruch herstammt: »Man verletzt das Gesetz nicht, wenn man einen Irländer tödtet!«

In Kerwan herrschte jetzt die schlimmste Unruhe. Der Besuch Harbert's konnte nicht mehr lange ausbleiben. Die letzte Decemberwoche benützte er gewöhnlich, die Domäne von Rockingham zu bereisen.

Am Morgen des 29. December kam Findling, der jenen zuerst bemerkt hatte, athemlos nach dem Hause gelaufen, um die Familie in der großen Stube von dem Eintreffen des gefürchteten Mannes zu benachrichtigen.

Alle – der Vater, die Mutter, die Söhne, die Urgroßmutter und ihre Urenkelin, die Kitty auf den Knien hielt – waren hier beisammen.

Der Beamte stieß das Gitterthor auf, schritt sicher und fest – mit dem Tritte des Herrn – durch den Hof, öffnete die Thür des Zimmers und setzte sich, sogar ohne den Hut abzunehmen, ohne einen Guten Tag, wie einer, der sich hier weit mehr zu Hause fühlte als die Insassen der Wohnung, auf einen Stuhl vor dem Tische, zog einige Papiere aus einem Lederportefeuille und sagte ohne Vorrede.

»Für das verflossne Jahr hab' ich hundert Pfund zu bekommen, Mac Carthy. Das stimmt doch wohl?...

– Gewiß, Herr Harbert, antwortete der Farmer mit leise zitternder Stimme. Es macht hundert Pfund. Ich werde Sie aber um einen kleinen Aufschub bitten müssen... den Sie mir ja schon früher einige Mal bewilligt hatten....

– Einen Aufschub... immer Aufschub? unterbrach ihn Harbert. Was soll das heißen? Diesen Refrain hör' ich nun schon in allen Farmen. Kann denn Herr Eldon seine Verpflichtungen gegen den Lord Rockingham mit lauter Aufschüben ausgleichen?[190]

– Das Jahr ist für alle sehr schlecht gewesen, Herr Harbert, und Sie dürfen glauben, daß auch unsre Farm davon betroffen wurde....

– Das geht mich nichts an, Mac Carthy. Ich kann Ihnen keinen Aufschub bewilligen!«

In eine finstre Ecke gedrückt, mit gekreuzten Armen und weit geöffneten Augen war Findling Zeuge dieses Auftritts.

»Ich bitte Sie, Herr Harbert, haben Sie Mitleid mit den Armen!... Es handelt sich ja nur darum, uns etwas Zeit zu gönnen. Der halbe Winter ist schon vorbei, und er ist auch nicht zu streng gewesen. Im nächsten Erntejahre werden wir uns erholen...

– Wollen Sie jetzt bezahlen oder nicht, Mac Carthy?

– Wir möchten's ja gern. Herr Harbert... so hören Sie doch... ich versichere Ihnen auf mein Ehrenwort, daß es uns unmöglich ist...

– Unmöglich! rief der herzlose Beamte So verschaffen Sie sich Geld durch den Verkauf....

– Das haben wir gethan, doch was uns davon verblieb, wurde durch die Ueberschwemmung im Frühjahr vernichtet. Für das Mobiliar im Hause bekämen wir ja keine hundert Schillinge!

– So? Und jetzt, wo sie nicht einmal imstande sind, die Feldarbeiten wieder aufzunehmen, rief der Beamte, jetzt denken Sie durch die nächste Ernte alles wieder einzubringen? Halten Sie mich denn für einen Narren, Mac Carthy?

– Nein, gewiß nicht, Herr Harbert, da sei Gott vor! Doch aus Mitleid, rauben Sie uns nicht die allerletzte Hoffnung!«

Bewegungslos und stumm unterdrückten Murdock und sein Bruder nur mühsam die innere Empörung, als sie ihren Vater sich vor diesem Menschen so bücken und beugen sahen.


Nur ein einziges Gespann von einem Pferde und einem Esel. (S. 186.)
Nur ein einziges Gespann von einem Pferde und einem Esel. (S. 186.)

Eben hatte sich die Großmutter in ihrem Lehnstuhle halb aufgerichtet und begann mit ernster Stimme:

»Herr Harbert, ich bin siebenundsiebzig Jahre alt und lebe seit siebenundsiebzig Jahren auf diesem Pachthofe, den mein Vater vor meinem eignen Manne und vor meinem Sohne bewirthschaftete. Bis zum heutigen Tage haben wir unsern Pachtzins noch stets auf Heller und Pfennig gezahlt, und jetzt, wo wir Sie zum ersten Male um einen Aufschub bis zur nächsten Ernte ersuchen, kann ich nimmermehr glauben, daß der Lord Rockingham uns von hier zu vertreiben beabsichtige....[191]

– Um den Lord Rockingham handelt es sich hier auch gar nicht! fiel Harbert barsch ein. Der Lord Rockingham kennt Sie ja nicht im geringsten. Der Herr John Eldon aber kennt Sie... er hat mir bestimmte Befehle ertheilt, und wenn Sie mich nicht bezahlen, verlassen Sie einfach die Farm von Kerwan....

– Kerwan verlassen! schrie Martine, bleich wie eine Todte, auf.

– Binnen acht Tagen!

– Und wo werden wir ein Obdach finden?

– Wo es Ihnen paßt!«[192]

Findling hatte schon manche traurige Dinge mit angesehen, hatte selbst schon viel des Schweren erduldet, und doch schien es ihm, als überträfe das, was hier vorging, alle seine schlimmsten Erfahrungen. Ohne von Thränen und Klagen begleitet zu sein, war der Auftritt doch um so ergreifender.


Abtheilungen der »mounted constabulary«. (S. 188.)
Abtheilungen der »mounted constabulary«. (S. 188.)

Inzwischen hatte sich Harbert erhoben und fragte, ehe er die Papiere wieder einsteckte:

»Zum letzten Male also: wollen Sie bezahlen?

– Und womit denn?«[193]

Murdock war es, der diese Gegenfrage mit lauter Stimme aufwarf.

»Jawohl... womit denn?« wiederholte er, langsam an den Beamten herantretend.

Harbert kannte Murdock schon lange: er wußte auch, daß dieser einer der eifrigsten Vorkämpfer der Liga gegen den Landlordismus war, und ohne Zweifel kam ihm hierbei der Gedanke, daß sich jetzt eine gute Gelegenheit biete, das Land von ihm zu befreien. In der Meinung, es nicht nöthig zu haben, gegen ihn Schonung walten zu lassen, antwortete er ironisch und mit verächtlichem Achselzucken:

»Womit bezahlen, fragen Sie?... Nun freilich, nicht damit, daß man nach allen Meetings läuft, sich den Empörern anschließt, nicht damit, daß man die Bodeneigenthümer boycoitiert... Nur durch Arbeit...

– Durch Arbeit! fiel Murdock ihm ins Wort, indem er dem Manne seine schwieligen Hände entgegenstreckte. Hier, diese Hände haben wohl nicht gearbeitet? Glauben Sie etwa, mein Vater, meine Mutter, meine Brüder hätten seit so vielen Jahren hier auf dem Hofe nur die Arme zusammengeschlagen?... Herr Harbert, sprechen Sie nicht solche Worte, denn ich bin nicht imstande, dergleichen anzuhören....«

Murdock begleitete seine Rede mit einer Bewegung, vor der der Beamte zurückwich. Jener aber machte jetzt dem ganzen Ingrimm Luft, den sociale Ungerechtigkeit in seinem Herzen aufgespeichert hatte, und er that dies mit der Eindringlichkeit des Ausdruckes, die der irischen Sprache so eigen ist, der Sprache, von der es heißt: »Wenn Du Dein Leben vertheidigst, so thu' es in irischer Zunge!« – Und sein Leben galt es ja, wie das Leben der Seinigen, als er sich zu so schrecklichen Drohungen hinreißen ließ.

Als er sich das Herz erleichtert hatte, setzte er sich an der Seite nieder.

Sim fühlte die Wuth in sich aufflammen, wie das Feuer unter dem Roste.

Martin Mac Carthy stand mit gesenktem Kopfe da und wagte nicht, das peinliche Schweigen zu brechen, das auf Murdocks zornige Worte gefolgt war.

Harbert dagegen sah alle wie vorher mit verächtlichem Hochmuth an.

Da erhob sich Martine und wandte sich an den Beamten.

»Herr Harbert, begann sie, lassen Sie auch mich die Bitte wagen, uns einen Aufschub zu verwilligen... das wird es ermöglichen, Sie zu bezahlen... nur wenige Monate... und bei fleißigster Arbeit... sollten wir auch selbst dabei[194] zu Grunde gehen!... Ich flehe Sie an... ich bitte Sie auf den Knien... haben Sie Erbarmen!«

Die unglückliche Frau sank in die Knie vor dem herzlosen Manne, der sie schon durch seine freche Haltung verletzte.

»Genug, Mutter!... Zuviel... zuviel schon der Erniedrigung! rief Murdock, der Martine zum Aufstehen zwang. Mit Bitten und Flehen antwortet man solchem Elenden nicht!

– Nein, versetzte Harbert, ich sehe auch nicht ein, wozu die vielen Worte nützen sollen. Geld... das Geld augenblicklich her, oder Ihr seid vor Ablauf von acht Tagen alle von Haus und Hof verjagt....

– Vor Ablauf von acht Tagen, mag sein! rief Murdock. Jetzt kommen Sie aber erst an die Reihe, jetzt werf' ich Sie zur Thür des Hauses hinaus, in dem wir noch Herr sind....«

Damit drang er auf den Beamten ein, faßte ihn, hob ihn auf und schleuderte ihn auf den Hof hinaus.

»Was hast Du gethan, mein Sohn, was hast Du angerichtet? sagte Martine, während alle übrigen die Köpfe hängen ließen.

– Nur das, was jeder Irländer thun sollte, antwortete Murdock, die Lords von Irland verjagen, wie ich diesen Agenten aus unsrer Farm verjagt habe!«

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 180-195.
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