Fünftes Capitel.
Noch einmal die [47] Ragged-School.

Nach Hause gekommen, glaubte Grip den Herrn O'Bodkins auf das Betragen Carters und der übrigen aufmerksam machen zu sollen. Nicht, daß er da über ihm selbst gespielte Streiche – worüber er ja gutmüthig hinwegsah – Klage führen wollte, nein, nur die üble Behandlung, die dem kleinen Knaben zu Theil geworden war, lag ihm am Herzen. Und diesmal war das sogar so weit gegangen, daß das Kind ohne die Hilfe Grip's jetzt todt gewesen wäre.[47]

Als einzige Antwort zuckte O'Bodkins nur mit den Achseln. Grip mußte das verstehen: es handelte sich um Dinge, für die der Director nicht verantwortlich war und die ihn also nichts angingen. Das Hauptbuch konnte doch unmöglich noch eine Rubrik für Ohrfeigen und eine andre für Fußtritte erhalten.

So etwas ließ sich ja ebensowenig nach arithmetischen Regeln zusammenstellen, wie drei Kieselsteine und fünf Disteln. Ohne Zweifel war O'Bodkins als Leiter der Anstalt verpflichtet, das Betragen der Zöglinge zu überwachen, die Verantwortung[48] dafür liebte er aber auf den Aufseher der Schule – als solcher galt eben Grip – abzuwälzen.


Da höhlte der Kleine ein Loch aus. (S. 47.)
Da höhlte der Kleine ein Loch aus. (S. 47.)

Von diesem Tage ab ließ nun Grip seinen Schützling niemals aus dem Auge, vorzüglich nicht allein in dem großen Saale, und wenn er ausging, schloß er den Kleinen sorgsam in seine Dachkammer ein, wo dieser sich dann wenigstens in Sicherheit befand.

So verflossen die letzten Sommertage; der September kam heran. Für die nördlichen Bezirke des Landes bedeutet das schon den Beginn des Winters[49] und der Winter besteht für das obere Irland in fast ununterbrochenem Schneegestöber, scharfen Winden und Nebeln, die von den übereisten Ebenen des nördlichen Amerika stammen und von den Meereswinden nach Europa getrieben werden.


Die ganze Schule drängte sich um den Ofen. (S. 50.)
Die ganze Schule drängte sich um den Ofen. (S. 50.)

Es herrscht unfreundliches, rauhes Wetter an den Ufern der Bai von Galway, die zwischen den umgebenden Bergen wie zwischen den Wänden eines Gletschers liegt. Da giebt es kurze Tage und lange Nächte, peinlich genug für alle, in deren Kamin kein wärmendes Feuer flackert. In der Lumpenschule herrschte natürlich auch eine recht niedrige Temperatur, außer vielleicht im Zimmer des Directors O'Bodkins. Doch wenn«der verantwortliche Leiter der Anstalt nicht warm gesessen hätte, wäre ihm ja die Tinte im Schreibzeug eingefroren, und das ging doch nicht wohl an.

Jetzt galt es vor allem, auf Straßen und Landwegen zusammenzuraffen, was irgend brennbar war und einige Wärme liefern konnte. Freilich ergab das nicht viel, wenn man wie hier auf herabgefallene dürre Zweige, auf durch den Rost gefallene Kohlenstückchen, die in den Haufen vor den Häusern lagen, angewiesen war, und etwa auf die längs der Quais verstreut liegend verlornen Kohlenstücke, um die sich die armen Leute fast schlugen.

Die Zöglinge der Lumpenschule mußten sich also dieser Arbeit unterziehen und auch der Findling nahm daran ohne Widerspruch theil, das war doch wenigstens kein Betteln. Dann brannte denn auch ein Feuer im Ofen, so gut es eben zu unterhalten war.

Die ganze, in der zerrissenen Kleidung frierende Schule drängte sich um den Ofen, wobei die Größten natürlich die besten Plätze eroberten, während das Abendbrod im Kessel bereitet wurde. Und welches Abendbrod! Weggeworfene Kartoffeln, Brodrestchen, Knochen, an denen zuweilen noch ein Bissen zähes Fleisch hing.... Das ganze eine jämmerliche Suppe, worauf einige Fettklümpchen die Augen guter Bouillon vertraten.

Nahe dem Feuer gab es für den Findling selbstverständlich niemals einen Platz und selten einen Löffel von der Suppe, die die alte Hausverwalterin für die Größeren aufhob. Diese stürzten gleich hungrigen Hunden darüber her und wiesen den andern die Zähne, um ihre magere Mahlzeit zu vertheidigen.

Den Kleinen pflegte Grip in sein Loch mitzunehmen, wo er ihm das Beste von dem zuschob, was er von den täglichen Rationen empfing. Da gab es freilich kein wärmendes Feuer. Doch wenn sich beide unter das Stroh versteckten[50] und sich aneinander drängten, dann gelang es ihnen wohl, sich einigemaßen vor der Kälte zu schützen und einzuschlafen. Vielleicht wärmte sie wenigstens der wohlthätige Schlaf!

Eines Tages begünstigte Grip das Glück in ganz besondrer Weise. Er war unterwegs und ging eben auf der Hauptstraße von Galway hin, als er in das Royal-Hôtel zurückkehrender Reisender ihn beauftragte, noch einen Brief nach der Post zu besorgen. Grip beeilte sich, diesem Wunsche nachzukommen und er hielt einen ganzen Schilling zur Belohnung. Das war nun freilich immer noch kein großes Capital, um dessen Anlegung in Staatspapieren er sich etwa den Kopf zu zerbrechen brauchte, dagegen war er sofort entschlossen, für das Geld etwas Eßbares einzukaufen, was zum größeren Theil dem Findling, zum kleineren ihm selbst zu Gute kommen sollte. So erhandelte er denn einige Fleisch und Wurstwaaren, die für drei Tage ausreichten und die von Carker und den andern unbemerkt verzehrt wurden, denn Grip hatte begreiflicher Weise keine Ursache, mit den andern Zöglingen zu theilen, die auch niemals mit ihm theilten

Besonders wichtig wurde das Zusammentreffen Grip's mit dem Fremden noch dadurch, daß dieser angesichts der erbärmlichen Kleidung des Burschen ihm noch eine recht gut erhaltene wollene Weste schenkte.

Grip dachte natürlich gar nicht daran, diese selbst in Gebrauch zu nehmen; nur sein kleiner Schützling lag ihm am Herzen, und dieser sollte sich in der warmen Hülle unter seinen Lumpen gewiß recht wohl fühlen.

»Da steckt er darin wie ein Lamm in der Wolle!« sagte der brave junge Mann für sich.

Das Lamm wollte aber nicht zugeben, daß sich Grip seines Vließes beraubte. Es wurde hin und her verhandelt, und endlich kam man zu einer befriedigenden Entscheidung.

Der Herr, von dem die Weste herrührte, war ziemlich stark und Grip hätte in jene zweimal hinein gesteckt werden können. Er war auch groß, so daß die Weste dem kleinen Knaben vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt hätte. So erschien es also nicht unmöglich, das Kleidungsstück für beide Freunde zurecht zu machen. Die alte trunksüchtige Frau Kriß zum Zertrennen und wieder Zusammennähen desselben aufzufordern, wäre freilich ebenso viel gewesen, wie sie zum Verzicht auf ihre Pfeife zu bestimmen. So machte sich denn Grip in seiner Bodenkammer selbst an die Arbeit. Er nahm dem Kinde Maß und erwies sich so geschickt, daß er eine ganz brauchbare wollene Jacke zu Stande brachte.[51]

Er selbst erhielt dann noch eine Weste, freilich ohne Aermel, aber doch eine Weste, und das war auch etwas.

Natürlich bestimmte er den Findling, die Jacke unter seinen Lumpen zu tragen, damit die andern sie nicht sehen sollten. Statt sie ihm zu lassen, hätten diese sie ganz gewiß einfach zerrissen. Der Kleine befolgte den klugen Rath und befand sich denn auch bei strenger Winterkälte ganz erträglich in der weichen warmen Hülle.

Nach ungemein regenreichem October brachte der November recht kalten Wind, der alle Feuchtigkeit der Atmosphäre zu Schnee verwandelte. In den Straßen von Galway lag die weiße Decke zwei Fuß hoch. Das wirkte recht hemmend beim Einsammeln von Brennmaterial ein. In der Ragged-School froren alle gehörig, und wie es dem Ofen an Heizmaterial fehlte, so fehlte es dem Magen, der ja auch ein Ofen ist, daran oft nicht minder.

Dennoch mußten die Zöglinge, trotz der Schneestürme, dem eisigen Winde, auf Straßen und Wegen sich bemühen, den Bedarf der Schule zu decken. Auf dem Erdboden war nichts mehr zu finden, so blieb denn nichts anders übrig, als von Thür zu Thür zu gehen. Das Kirchspiel that ja für seine Armen, was es konnte; doch ohne von der Lumpenschule zu reden, machten noch recht viele Wohlthätigkeitsanstalten in harten Zeiten Anspruch auf die Mildthätigkeit der Einwohner.

Die Kinder sahen sich also gezwungen, von einem Hause zum andern betteln zu gehen, und wo nicht alles Mitgefühl erstorben war, da wurden sie auch nicht unfreundlich empfangen. Meist freilich wies man sie barsch genug ab und bedrohte sie wohl auch noch für den Fall, wenn sie wiederkämen, so daß sie nicht selten mit leeren Händen zurückkehrten.

Wohl oder übel mußte der Findling dem Beispiele der andern folgen, und doch, wenn er vor einer Thür stehen blieb und den Klopfer in die Höhe gehoben hatte, schien es ihm, als fiele dieser mit schwerem Schlage auf seine eigene Brust nieder. Statt dann die Hand auszustrecken, fragte er an, ob er nicht irgend etwas besorgen könnte. Das ersparte ihm doch die Beschämung zu betteln. Wer wollte aber einem fünfjährigen Knaben einen Auftrag anvertrauen?... So warf man ihm zuweilen lieber ein Stück Brod zu, das er weinend in Empfang nahm. Ja, Hunger thut weh!

Im December wurde die Kälte noch schlimmer. Immer und immer fiel der Schnee in großen Flocken. Kaum konnte man in den Straßen den Weg[52] noch erkennen. Um drei Uhr nachmittags wurde das Gas schon angezündet, doch das gelbliche Licht der Brenner vermochte den dicken Nebel kaum zu durchdringen, so als wenn es alle Leuchtkraft verloren hätte. Wagen und Karrewaren jetzt gar nicht mehr unterwegs, nur vereinzelt huschten die Menschen nach ihren Wohnungen. Und mit frostgerötheten Augen, Hände und Gesicht blau von dem schneidenden Winde, irrte der Findling umher, während er sich dicht in seine beschneiten Lumpen hüllte.

Endlich ging der traurige Winter zu Ende. Die ersten Monate des Jahres 1877 waren minder hart. Auch der Sommer trat zeitig ein und im Juni herrschte schon eine recht starke Wärme.

Am 17. August hatte der jetzt fünfeinhalb Jahre zählende Findling das Glück, etwas zu finden, was für ihn unerwartete Folgen haben sollte.

Gegen sieben Uhr ging er durch eine auf die Brücke von Claddagh mündende Straße auf dem Rückwege nach der Anstalt, wo ihm, da er mit leeren Händen kam, gewiß nicht der beste Empfang zutheil wurde. Hatte Grip nicht noch ein Stück alte Brodrinde übrig, so war für beide heut Abend nichts zu essen da. Das war übrigens nicht zum ersten Male der Fall, denn jeden Tag und zwar zur bestimmten Stunde essen zu wollen, das wäre eine Anmaßung gewesen.

Solche Gewohnheiten mochten reiche Leute haben, denen ihre Mittel das erlaubten, ein armer Teufel ißt aber, wenn er etwas dazu hat, und wenn's daran mangelt, dann ißt er einfach nicht, so sagte wenigstens Grip, der schon gewöhnt war, sich mit philosophischen Grundsätzen satt zu machen.

Da, kaum zweihundert Schritte von der Schule entfernt, stolperte der Findling und fiel der Länge nach hin. Da er nicht groß war, ging das ohne Schaden für ihn ab. Gleichzeitig rollte aber etwas, woran er mit den Füßen gestoßen hatte, vor ihm her. Es war eine große Weinflasche, die zum Glück nicht entzwei gegangen war, denn der Knabe hätte sich sonst schwer verletzen können.

Der Findling erhob sich und umhersuchend, fand er die Flasche, die zwei bis drei Gallonen fassen mochte. Ein Pfropfen verschloß deren Hals, und diesen brauchte er nur herauszuziehen, um zu sehen, was sie enthielt.

Der Knabe erkannte, daß sie voller Gin war.

Damit hätten sich alle Insassen der Lumpenschule befriedigen können, und der Findling durfte gewiß sein, mit dieser Bürde bestens empfangen zu werden.[53]

In der menschenleeren Straße hatte ihn niemand gesehen und die Anstalt lag ganz nahe.

Da kam ihm aber ein Gedanke, der Carker und dessen Genossen gewiß nie eingefallen wäre. Diese Flasche gehörte ihm doch nicht. Sie war kein Geschenk, war nicht auf den Kehricht geworfen, sondern offenbar ein verlorner Werthgegenstand. Den Eigenthümer zu finden, mochte freilich etwas schwierig sein. Immerhin sagte ihm sein Gewissen, daß er über den Fundgegenstand nicht nach Gutdünken verfügen dürfe. Es war der natürliche Instinct, der ihm das sagte, denn weder Thornpipe noch O'Bodkins hatte ihm je gelehrt, ehrlich zu sein. Zum Glück giebt es auch Kinderherzen, in die dieses Gebot schon allein eingeschrieben ist.

Sehr in Verlegenheit wegen seines Fundes, beschloß der Findling, Grip darum zu fragen; dieser würde die Wiedereinhändigung desselben an den rechtmäßigen Eigenthümer schon veranlassen. Jetzt kam es vorzüglich darauf an, die Flasche von den Taugenichtsen unbemerkt nach der Dachkammer zu schaffen, denn jene hätten sich gewiß nicht darum gekümmert, wem sie gehörte. Zwei bis drei Gallonen Gin! Welcher Ueberfluß!... Mit Anbruch der Nacht wäre aber doch kein Tropfen davon mehr dagewesen. Bei Grip dagegen stand der Branntwein sicher; dieser rührte die Flasche gewiß nicht an, sondern hätte sie unter das Stroh versteckt, bis er am folgenden Morgen in der Nachbarschaft Umfrage hielt. Wenn nöthig, wollten beide dazu von Haus zu Haus gehen... sie bettelten ja nicht.

Der Findling schritt also mit seiner Last der Schule zu, und bemühte sich, die Flasche unter seiner Kleidung zu verbergen.

Eben als er vor die Thür kam, stürmte aber zum Unglück Carker daraus hervor, so daß er einen Zusammenstoß mit diesem nicht vermeiden konnte. Da Carker ihn erkannte und allein vor sich sah, hielt er es für die beste Gelegenheit, dem Knaben zurückzuzahlen, was er ihm von dem Zusammentreffen an dem Strande von Salthill her schon zugedacht hatte.

Er warf sich also über den Findling und entriß diesem die Flasche, die er bald unter dessen Lumpen gefühlt hatte.

»Eh, was ist denn das? rief er.

– Das?... Das gehört nicht Dir!

– Also wohl Dir?

– Nein, mir auch nicht!«[54]

Der Knirps wollte Carker zurückdrängen, dieser versetzte ihm aber einen Stoß, daß er selbst drei Schritte weit zurücktaumelte.

Sofort ergriff Carker die Flasche und eilte damit nach dem Saal zurück während der kleine Knabe ihm weinend folgte.

Er versuchte noch Einspruch zu erheben, da aber Grip nicht da war, der ihn unterstützt hätte, so erhielt er nur tüchtige Prügel, bis die alte Kriß sich einmengte, sobald sie die Flasche bemerkt hatte.

»Gin, rief sie, guter Gin! O, das ist ja für alle genug!«

Der Findling hätte gewiß besser gethan, die Flasche in der Straße liegen zu lassen, wo sie deren Eigenthümer jetzt wahrscheinlich suchte, denn zwei bis drei Gallonen Gin kosten schon verschiedene Schillinge, ja sogar mehr als eine halbe Krone. Er hätte sich sagen müssen, daß es unmöglich sein würde, ungesehen bis zur Dachkammer Grip's zu gelangen. Jetzt war es freilich zu spät.

Sich an O'Bodkins zu wenden, diesem den Vorfall zu erzählen, würde auch nichts genutzt haben, und dem wäre ein schlechter Empfang zu Theil geworden, der die Thür zu des Directors Zimmer öffnete und den Insassen vielleicht bei seinen verwickeltsten Rechnungen störte. Im besten Falle hätte O'Bodkins die Flasche nach seinem Zimmer bringen lassen, und was da hinein kam, kam gewiß nicht wieder heraus.

Der kleine Knabe konnte also nichts thun und beeilte sich nur, Grip aufzusuchen, um diesem seine Noth zu klagen.

»Grip, eine Flasche, die man findet, gehört einem doch nicht?

– Nein, ich glaube nicht, antwortete Grip. Hast Du denn eine Flasche gefunden?

– Ja, und ich wollte sie Dir geben, und morgen hätten wir in der Nachbarschaft zu erfahren gesucht...

– Wem sie gehörte?... fiel Grip ein.

– Ja, und wenn wir uns erkundigten...

– Sie haben Dir wohl die Flasche weggenommen? unterbrach ihn Grip.

– Ja; Carker! Ich versuchte, sie ihm zu entwinden... und da waren die andern da... Ach, wenn Du hinunter gingst, Grip!

– Ich werde hinuntergehen, und da werden wir schon sehen, wer die Flasche behält!«

Als Grip aber die Kammer verlassen wollte, konnte er das nicht; die Thür war von außen verschlossen.[55]

Trotz seiner Bemühungen gab die Thür nicht nach, zur großen Freude der rohen Gesellen draußen, die von unten her riefen:

»He, Grip!...

– He, Findling!...

– Auf Eure Gesundheit!«

Da Grip die Thür nicht zu sprengen vermochte, fügte er sich wie gewöhnlich der Nothwendigkeit und bemühte sich nur, seinen erzürnten kleinen Freund zu beruhigen.

»Lassen wir sie tollen, die ungezogenen Burschen! sagte er.

– Oh, daß man nicht stark ist!

– Wozu das?... Hier, Kleiner, hier sind noch Kartoffeln, die ich für Dich aufgehoben habe. Komm her, iß lieber....

– Ich habe keinen Hunger, Grip!

– Iß trotzdem, nachher wickeln wir uns ins Stroh, um zu schlafen.«

Wenn Carker die Thür der Dachkammer versperrt hatte, so geschah das, um heute Abend jedenfalls nicht gestört zu werden. War Grip eingeriegelt, so konnte man beliebig sich dem Genusse des starken Getränkes hingeben, denn die alte Kriß, die ja auch ihren Theil davon erhielt, hatte gewiß nichts dagegen einzuwenden.

Nun kreiste der Branntwein in allerlei Gefäßen. Alle heulten und schrien, denn es dauerte nicht lange, bis alle berauscht waren, mit Ausnahme Carker's, der an starke Getränke schon gewöhnt war.

Noch war die Flasche kaum halb leer, obwohl die Kriß tüchtig dazu mitgeholfen hatte, als die ganze Bande kaum noch ihrer Sinne mächtig war. Das Geschrei, das Lärmen und Toben vermochte aber doch nicht, O'Bodkins aus seiner gewohnten Gleichgiltigkeit aufzurütteln.

Was ging's auch ihm an, was da unten vorging, wenn er oben vor seinen Büchern saß! Davon hätte die Trompete des Jüngsten Gerichtes ihn nicht fortlocken können.

Und doch sollte er heute sehr schnell aus seinem Zimmer getrieben werden – nicht ohne großen Nachtheil für seine Verantwortlichkeit.

Nachdem etwa einundeinhalb Gallonen verzehrt waren, lagen die meisten Theilnehmer an der Orgie schon auf dem Stroh, und hier wären sie ohne Zweifel bald eingeschlafen, wenn Carker nicht auf den Gedanken gekommen wäre, noch einen »Brander« zu brauen.[56]

Ein »Brander« ist nämlich ein Punsch. Statt des Rums gießt man Gin zu ein wenig Wasser in einem Gefäß, zündet das Gemisch an und trinkt es noch ganz heiß.

Das hatte denn auch Carker vor, zur großen Genugthuung der alten Kriß und zwei oder drei andrer, die sich noch auf den Füßen hielten. Wohl fehlten hier so manche Zusätze zu einem wirklichen Punsch. Die Insassen der Lumpenschule machten aber nicht so große Ansprüche.


O'Bodkins entschloß sich endlich, sich selbst zu retten. (S. 60.)
O'Bodkins entschloß sich endlich, sich selbst zu retten. (S. 60.)

Sobald die Flamme in dem Suppenkessel – dem einzigen Gefäße, das die alte Kriß zur Verfügung hatte – aufloderte, begannen die, die noch nicht ganz zusammengebrochen waren, einen wilden Tanz um den Kessel. Wer jetzt auf der Straße vorübergekommen wäre, der hätte glauben müssen, eine Legion von Teufeln sei in die Schule eingedrungen. Dieses Stadtviertel war jedoch mit Eintritt der Dunkelheit meist schon sehr verlassen.

Plötzlich leuchtete in dem Hause ein auffallend heller Schein auf. Das Gefäß, aus dem der brennende Gin emporflackerte, war durch Ungeschick umgestoßen worden, und schnell verbreitete sich die lodernde Flüssigkeit auf dem Stroh bis in alle Ecken des gemeinsamen Saales. Alle, die noch einigermaßen bei Sinnen waren, und alle, die durch das Knistern der Flammen aus dem Stroh aufgescheucht wurden, hatten nichts weiter zu thun, als die Thür aufzustoßen, die alte Kriß mit hinauszuschleppen und sich nach der Straße zu retten.

In demselben Augenblick suchten auch Grip und der Findling, die ebenfalls erwacht waren, vergebens aus der von erstickendem Qualm erfüllten Dachkammer zu entfliehen.

Der Brand war übrigens schon bemerkt worden. Mit Eimern und Leitern stürmten verschiedene Leute heran. Zum Glück lag die Lumpenschule isoliert, und der nach der Rückseite wehende Wind bedrohte auch die Häuser gegenüber nicht weiter.

War auch kaum Hoffnung vorhanden, die alte Baracke zu erhalten, so mußte man doch an die denken, die darin waren und denen die Flammen vielleicht den Ausgang versperrten.

Da öffnete sich ein Fenster im obern Stockwerk nach der Straße hinaus.

Es war ein Fenster von dem Zimmer O'Bodkin's, dem sich das Feuer mehr und mehr näherte. Der Director schien ganz von Sinnen zu sein und raufte sich die Haare.

An seine Zöglinge und ob diese in Sicherheit wären, daran dachte er freilich nicht, ja nicht einmal an die ihn selbst bedrohende Gefahr...[59]

»Meine Bücher... meine Bücher!« rief er verzweifelnd mit den Händen fechtend.

Nach vergeblichem Versuche, die Treppe hinabzugelangen, an der schon überall die Flammen leckten, entschloß er sich, seine Hefte, Bücher, Bureaugeräthschaften und alles mögliche zum Fenster hinauszuwerfen. Natürlich fielen die Schlingel gleich darüber her, traten darauf herum oder zerstreuten die losen Blätter, während O'Bodkins sich endlich entschloß, mittelst einer an die Mauer gelehnten Leiter sich selbst zu retten.

Was dem Director aber noch möglich gewesen war, das hatten Grip und das Kind nicht auch thun können. In die Dachkammer fiel das Tageslicht nur durch eine kleine Luke, und die hinausführende Treppe brach schon Stufe für Stufe unter der Glut zusammen. Jetzt begann auch das Holzwerk der Mauer zu brennen und ein Feuerregen fiel bald auf das Strohdach des Bauwerks nieder, der die Lumpenschule schnell in einen großen Brandherd verwandelte.

Grip's Hilferufe übertönten doch endlich einmal das Geräusch von der Feuersbrunst.

»Sind denn noch Menschen in dieser Spelunke?« fragte da eine Dame in Reisetracht, die ebenfalls nach der Unglücksstätte gekommen war.

Der Brand hatte schon so weit um sich gegriffen, daß man seiner nicht mehr Herr zu werden vermochte. Nachdem der Director sich gerettet hatte, dachte deshalb kaum jemand noch an Unterdrückung des Feuers selbst, da sich voraussichtlich niemand im Hause befand.

»Hilfe... Hilfe für die, die noch da oben sind!« rief von neuem die Reisende mit ausdrucksvollen Bewegungen. Leitern herbei, Ihr Leute, Leitern und ein paar beherzte Männer, die sich hinaufwagen!«

Wie konnte man aber Leitern an diese Mauern legen, die jeden Augenblick einzustürzen drohten? Wie hätte jemand die von dickem Rauch eingehüllte Dachkammer erreichen können, über der und um die herum die gierigen Flammen emporstiegen?

»Wer befindet sich denn in jenem Bodenraum? fragten mehrere O'Bodkins, der nur damit beschäftigt war, seine Schriftsachen zusammenzuraffen.

– Wer?... Das weiß ich doch nicht...« antwortete der ganz verstörte Director, den nur sein eigenes Unglück in Anspruch nahm.

Dann kam ihm aber doch die Erinnerung wieder.

»Ah,... ja,... zwei... Grip und der Findling....[60]

– Die Unglücklichen! rief die Dame. Mein Gold, meinen Schmuck, alles was ich besitze, dem, der sie rettet!«

In das Innere des Hauses zu gelangen, war jetzt ganz unmöglich; schon zischte eine rothe Lohe durch die geborstenen Mauern, der ganze untere Theil brannte, krachte und brach zusammen. Noch wenige Minuten bei dem Winde, unter dem die Flammen wie eine Flagge hinflatterten, und die ganze Lumpenschule war nichts mehr, als eine Feuerhöhle, ein Wirbel von glühenden Dämpfen.

Plötzlich entstand eine Oeffnung im Dache dicht über der Luke. Grip war es gelungen, die Bedeckung zu zerreißen und die Sparren zu durchbrechen, als die Holzwände seiner Kammer schon zu knistern anfingen. Er schwang sich dann durch das Sparrenwerk und zerrte den kleinen, halb erstickten Knaben nach sich. Als er dann bis zu dem Theile der Mauer gekrochen war, der die rechte Giebelwand bildete, ließ er sich auf der schrägen Kante hinabgleiten, wobei er den Findling immer in den Armen hielt.

In diesem Augenblick brach eine furchtbare Flammengarbe durch das Dach und schleuderte tausende glühender Funken hoch empor.

»Rettet ihn... rief Grip, rettet den Knaben!«

Damit ließ er das Kind nach der Seite der Straße zu fallen, wo es glücklicher Weise ein Mann auffing, ehe es auf den Erdboden stürzte.

Grip sprang nun ebenfalls herunter und stürzte halb bewußtlos an einem Trümmerhaufen neben der Mauer zusammen.

Da trat die Reisende auf den Mann zu, der den kleinen Knaben noch immer trug, und fragte ihn mit vor Erregung zitternder Stimme:

»Wem gehört dieses unschuldige Wesen?

– Niemand!... Es ist ein Findelkind, erklärte der Mann.

– Nun gut, so gehört es mir... mir...! rief sie, während sie schon den Knaben nahm und an ihr Herz drückte.

– Gnädige Frau... ließ sich da ihre Kammerfrau vernehmen.

– Schweig, Elisa, schweig! – Das ist ein Engel, der mir vom Himmel zugefallen ist.«

Da der »Engel« nun weder Eltern noch sonstige Angehörige hatte, war es ja das Beste, ihn den Händen der schönen, edelmüthigen Dame zu überlassen, und ein freudiges Hurrah dankte dieser in dem Augenblick, wo die letzten Reste der Ragged-School zusammenstürzten.[61]

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 47-57,59-62.
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