Siebentes Capitel.
Eine gefährdete »Situation«.

[74] Sechs Wochen verflossen unter diesen Verhältnissen, und niemand wird es wundern, daß sich der Findling an dieses angenehme Leben gewöhnte. Wer das Elend erdulden gelernt hat, wird noch leichter das Wohlleben ertragen. Dagegen blieb es fraglich, ob Miß Anna Walston's warme Empfindung für den Knaben sich mit der Zeit nicht abkühlen würde. Gefühle unterliegen ja ebenso dem Gesetze der Trägheit wie greifbare Körper: erhält man die Triebkraft nicht länger, so kommen sie zum Stillstand. Sie war jener Zeit nur einer »Rührung« verfallen, wie sie durch manche Scene auf der Bühne die Zuschauer gefangen nehmen. Und dennoch durfte man nicht glauben, daß das Kind für sie nur den Werth eines Zeitvertreibs, eines Spielzeugs oder einer Reclame hatte, denn sie war von Natur wirklich gutherzig angelegt. Wenn sie auch weiter für den Kleinen sorgte, so wurden ihre Liebkosungen doch kürzer, ihre Aufmerksamkeiten seltner. Dazu kommt die starke Inanspruchnahme einer Schauspielerin, die ihre Rollen zu lernen, viele Proben zu besuchen hat, und der die Vorstellungen kaum einen Abend frei lassen. Das strengt ja schließlich an. In den ersten Tagen hatte sie sich den Cherub früh an ihr Bett bringen lassen, wo sie mit ihm wie ein »Mütterchen« spielte.[74]

Das störte aber ihren gewöhnlich lang ausgedehnten Morgenschlummer und so verlangte sie sehr bald das Kind erst beim Frühstück. Wie freute der Kleine sich, auf einem eigens für ihn beschafften hohen Stuhle zu sitzen, und wie schmauste er mit vortrefflichem Appetit!

»Na, mein Junge, so ist's hübsch, nicht wahr? fragte sie.

– Ach ja, Miß Anna, erwiderte er eines Tages, so gut wie das, was wir im Hospiz bekamen, wenn wir krank waren.«

Der Findling hatte eine feinere Lebensart eben noch nicht gelernt – weder Thornpipe noch O'Bodkins hätte ihm diese ja lehren können – er war sonst zurückhaltender Natur, sanften und liebevollen Charakters und, wie wir wissen, so ganz anders als die verwahrlosten Zöglinge der Ragged-School. Wie seinem Alter, war er aber auch nach geistiger Seite weit voraus, und Miß Anna Walston konnte das nicht entgehen. Von seiner Vergangenheit wußte sie freilich nur das, was er ihr darüber seit seiner Befreiung aus den Händen des Marionettenschaustellers erzählen konnte. Jedenfalls war er also ein Findelkind. Seine »angeborne Vornehmheit«, wie sie es nannte, bestärkte in der Künstlerin jedoch den Glauben, daß er der Sohn einer großen Dame sein müsse, wie das in Dramen ja so gewöhnlich ist, ein Sohn, von dem jene sich ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen habe lossagen müssen. Daraufhin dichtete sie sich über ihren Schützling einen ganzen Roman zusammen, der übrigens nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit hatte. So ersann sie gewisse »Situationen«, die in dramatischer Bearbeitung einen starken Thräneneffect erzielen würden. Sie wollte in diesem Stücke spielen, sie versprach sich davon einen ungewöhnlichen Erfolg... sie würde sich darin hinreißend... himmlisch zeigen u. s. w. Und als sie in Gedanken so weit gelangt war, da ergriff sie ihren Engel, umarmte ihn stürmisch, ganz wie auf der Bühne, und glaubte schon den jubelnden Beifall der Zuschauer zu hören.

Eines Tages sagte da der Findling, dem die Sache unheimlich zu werden anfing:

»Miß Anna?...

– Was willst Du, mein Herzchen?

– Ich möchte Sie etwas fragen.

– So frage nur, mein Schatz.

– Sie werden mir darum nicht böse?

– Ich... Dir böse werden?[75]

– Jeder hat doch wohl eine Mutter?

– Natürlich, mein Engel, hat jedes Kind eine Mutter.

– Warum kenne ich denn dann meine Mutter nicht?

– Warum?... Ja, weil... antwortete Miß Anna Walston verlegen, weil... das... seine Gründe hat. Später einmal... ja, das glaub' ich bestimmt... wirst Du sie schon zu sehen bekommen....

– Ich habe Sie doch sagen hören, daß es eine schöne Dame sei, nicht wahr?

– Ja, ganz gewiß!... Eine schöne Dame!

– Und warum denn gerade eine schöne Dame?

– Nun weil... nun ja, Deine Gestalt... Dein Gesichtchen... Ist er doch drollig, der liebe Kleine, mit seinen Fragen!... Uebrigens... die Situation... ja, die Situation in dem Drama erfordert, daß sie schön sei... vornehm... doch, das verstehst Du nicht....

– Nein, das versteh' ich auch nicht! versicherte der kleine Knabe traurig. Mir kommt es manchmal vor, als wäre meine Mama schon todt....

– Todt?... O nein!... Mach' Dir nicht solche Gedanken!... Wenn sie todt wäre, dann gäb's ja kein Stück mehr....

– Was für ein Stück?...«

Miß Anna Walston umarmte den Kleinen, und das war am Ende die beste Antwort, die sie ihm augenblicklich geben konnte.

»Wenn sie aber nicht todt ist, fuhr der kleine Bursche mit der seinem Alter eignen Zähigkeit fort, wenn sie eine schöne Dame ist, warum hat sie mich denn verlassen?...

– Sie wird dazu gezwungen gewesen sein, mein Babery... gewiß ganz wider Willen... doch... bei der Lösung des Knotens...

– Miß Anna?...

– Was willst Du noch?

– Meine Mama...

– Nun, weiter!

– Das sind Sie doch nicht?...

– Wie... ich... Deine Mama?

– Weil Sie mich »mein Kind« nennen.

– Das sagt man so, mein Cherub, so nennt man Kinder Deines Alters immer.... Das arme Würmchen, so etwas glauben zu können!... Nein, ich bin[76] Deine Mama nicht!.. Wärst Du mein eignes Söhnchen, ich hätte Dich nicht verlassen, Dich nicht dem Elend preisgegeben!... O, gewiß nicht!«

Mit einer neuen Umarmung beendete Miß Anna Walston das Gespräch, nach dem der Findling recht betrübt davonschlich.

Armes Kind! Ob reicher oder armer Herkunft, höchst wahrscheinlich sollte es seine Angehörigen niemals kennen lernen, wie so viele aufgelesene Findlinge.

Als Miß Anna Walston ihn mit sich nahm, hatte sie freilich nicht daran gedacht, welche Pflichten ihr das für die Zukunft auferlegen würde. Ja sie hatte sich nicht einmal vorgestellt, daß dieses Baby wachsen könnte, daß sie für seinen Unterricht, für seine Erziehung zu sorgen haben werde. Es ist ja recht gut und schön, ein kleines Wesen zu liebkosen, besser aber doch noch, auch seinem Geiste die nöthige Nahrung zu gewähren. Ein Kind zu adoptieren, schließt auch die Verpflichtung ein, es zum Menschen zu machen. Diese Pflicht hatte die Schauspielerin gar nicht bedacht. Freilich zählte der Findling jetzt kaum fünfeinhalb Jahre, in diesem Alter beginnt aber das Erwachen der geistigen Fähigkeiten. Was sollte nun aus ihm werden? Er konnte ihr doch nicht bei ihren Gastspielreisen von Theater zu Theater, von Stadt zu Stadt folgen, vorzüglich wenn sie ins Ausland ging... So würde sie sich also genöthigt sehen, ihn einer Pension anzuvertrauen... natürlich nur einer ganz guten. Auf jeden Fall würde sie ihn niemals verlassen.

Eines Tages bemerkte sie gegen Elisa:

»Er entwickelt sich alle Tage besser. Hast Du das nicht beobachtet? Welch' empfindsame Natur! O, seine Liebe wird mir lohnen, was ich für ihn that!... Und dann... wie frühreif! Alles will er wissen. Ich finde sogar, er ist überlegter, als er es bei seiner Jugend sein sollte... und er hat sich für meinen Sohn halten können! Der arme Kleine! Ich dürfte doch seiner Mutter schwerlich ähnlich sein!... Das war gewiß eine sinnende, ernste Frau. Sprich doch, Elisa, wir werden ja einmal daran denken müssen....

– Woran denn?

– Was aus ihm werden soll.

– Aus ihm werden?... Jetzt schon?...

– Nein, jetzt noch nicht, meine Liebe; jetzt mag er noch wie eine Blume freudig aufwachsen... Nein, später... später, wenn er sieben bis acht Jahre zählt. Ist das nicht das Alter, mit dem die Kinder gewöhnlich in eine Pension kommen?«[77]

Elisa wollte ihr schon entgegenhalten, daß der Junge doch an die Lebensweise in einer Pension schon gewöhnt sein müsse – sie hatte ja Recht, freilich nur in Bezug auf die Lebensweise in der Lumpenschule – und ihrer Meinung nach wäre es am besten, wenn er baldigst wieder einer, natürlich besseren Anstalt übergeben würde. Miß Anna Walston ließ sie darüber gar nicht zu Worte kommen.

»Sag' einmal Elisa...?

– Was denn, Miß Anna?

– Glaubst Du, daß unser Cherub Lust zum Theater haben könnte?

– Er?...

– Ja. Betrachte ihn nur genau. Er hat ein hübsches Gesicht, prächtige Augen und tadellose Haltung. Das erkennt man schon, und ich bin überzeugt, daß er einen entzückenden Liebhaber abgeben würde....

– Halt... halt... halt, Miß Anna! Sie lassen Ihren Gedanken die Zügel schießen!

– Ei, ich werde ihm Komödie spielen lehren. Der Schüler der Miß Anna Walston!... Ahnst Du den Effect?

– In fünfzehn Jahren....

– Zugegeben, Elisa, in fünfzehn Jahren, doch ich sage Dir, in fünfzehn Jahren wird er der reizendste junge Mann sein. Alle Frauen werden...

– Vor Eifersucht umkommen, fiel Elisa ein. Das kenne ich schon. Doch, Miß Anna, wollen Sie meine aufrichtige Meinung hören?

– Nun, und die wäre?...

– Aus diesem Kinde wird im Leben kein Schauspieler werden.

– Ja, warum denn nicht?

– Weil der Junge zu ernsthaft ist.

– Das ist wohl wahr, gab Miß Anna Walston zu, doch... wir werden ja sehen....

– Und Zeit genug haben wir dazu, Miß Anna!«

Gewiß war's dazu Zeit genug, und wenn der Findling dann, trotz der Vermuthung Elisas, Neigung für das Theater zeigte, war ja alles gut.

Inzwischen kam der Miß Anna Walston ein herrlicher Gedanke, wie solche ihr ganz ausschließlich eigen zu sein schienen: sie wollte das Kind baldigst auf der Bühne von Limerick einmal auftreten lassen.[78]

Wenn der und jener das auch als eine wahnsinnige Idee verurtheilen mochte, so zeigte sich doch, daß dieses »einzige Auftreten«, wie die Placate ankündigten, von ganz bedeutender Wirkung zu sein versprach.

Miß Anna Walston studierte jetzt aufs neue ein »Rührstück mit Knalleffecten« ein, wie solche im englischen Repertoire gar nicht selten sind. Dieses Drama, richtiger Melodrama, mit dem Titel »Die Reue einer Mutter«, hatte bereits einer ganzen Generation Thränen genug entlockt, um die Flüsse des Vereinigten Königreichs damit speisen zu können.

In diesem Stücke des Dramaturgen Furpill kam, wie allemal, eine Kinderrolle vor – ein Kind, das die Mutter nicht hatte behalten können, das sie ein Jahr nach seiner Geburt verlassen mußte, während sie es später elend wiederfand und man es ihr aufs neue rauben wollte u. s. w.

Selbstverständlich war das eine stumme Rolle. Der kleine Figurant, der sie spielte, hatte nur alles mit sich geschehen, sich umarmen, küssen, an einen Mutterbusen drücken und sich hierhin und dorthin zerren zu lassen, ohne je ein Wort zu sprechen.

Unser Held schien zu einer solchen Rolle ja wie geschaffen. Er hatte das richtige Alter und die passende Größe, dazu ein bleiches Gesichtchen mit Augen, die gar oft geweint hatten. Welcher Effect, wenn man ihn auf der Bühne sähe und hier gerade mit seiner Adoptivmutter! Mit welcher Begeisterung, welchem Feuer würde diese die fünfte Scene des dritten Actes spielen, die große Scene, in der sie das Kind vertheidigt, das man ihr wieder entreißen will! Hier kamen ja die thatsächlichen Verhältnisse den erdichteten zu Hilfe. Dabei entrang sich der Künstlerin unzweifelhaft ein aufrichtiger Schmerzensschrei und vergoß sie gewiß wirkliche Thränen... kurz, es winkte ihr ein Triumph ohne Gleichen.

Die Vorbereitungen nahmen ihren Anfang und der kleine Knabe mußte den letzten Proben beiwohnen.

Das erste Mal erstaunte er ungemein über alles, was er da sah und hörte. Miß Anna Walston nannte ihn wohl, gemäß dem Texte der Rolle, »mein Kind«, es schien ihm aber, als ob sie ihn nicht so innig wie sonst umschlänge und keine Thränen vergösse, wenn sie ihn an ihr Herz zog. Wozu auch weinen bei Theaterproben? Wozu die Augen abnutzen? Dazu war's bei der Aufführung Zeit genug.

Auf den kleinen Knaben machte übrigens alles einen tiefen Eindruck... die sperrigen Gestelle der Coulissen, die etwas feuchtmodrige Luft, der große,[79] leere Zuschauerraum, in den nur kleine Fenster über der höchsten Gallerie wenig Licht eindringen ließen, das Ganze sah so traurig aus, wie ein Haus mit einem Todten darin. Immerhin that Sib – so hieß der Kleine in dem Stücke – was man von ihm verlangte, und Miß Anna Walston prophezeite ihm schon den schönsten Erfolg... und sich natürlich mit.

Vielleicht wurde diese Zuversicht nicht allgemein getheilt. Der Künstlerin fehlte es ja, vor allem unter den Colleginnen, nicht an Neidern. Sie hatte diese verletzt durch ihre eigenwillige Persönlichkeit, ihre Launen, gewiß ohne Absicht und ohne daß sie es merkte, und wer hätte ihr das auch mittheilen sollen? Jetzt erklärte sie nun, eine Folge der Erregbarkeit ihres Temperaments, gar noch, der Kleine, der jetzt kaum so hoch wie ein Ritterstiefel war, werde noch einen Kean, einen Macready und andre Größen der heimischen Bühne ausstechen. Das ging doch über alles Maß hinaus.

Endlich kam der Tag der ersten Aufführung.

Es war am 19. October, an einem Donnerstage. Miß Anna Walston befand sich natürlich in hochgradiger Aufregung. Einmal ergriff sie Sib, umarmte ihn und schüttelte ihn mit nervöser Gewalt, dann wieder reizte sie seine Gegenwart und sie schob ihn weg, während dieser nichts von allem begriff.

Am Abende der ersten Aufführung strömten die Leute in hellen Haufen nach dem Theater in Limerick. Der Theaterzettel hatte eine ganz außergewöhnliche Zugkraft geübt.


Gastvorstellung


der Miß Anna Walston,


Die Reue einer Mutter.


Schauspiel von dem


berühmten Furpil.


Personen:


Die Herzogin von Kendalle .......... Miß Anna Walston.

Sib, dargestellt von deren Pflegesohne, der »Findling« genannt, z. Z. 5 Jahre 9 Monate alt ... u. s. w.


Wie stolz wäre der kleine Bursche gewesen, wenn er vor diesem Anschlage gestanden hätte. Er konnte ja lesen, und hier stand sein Name schwarz auf weiß in großen Buchstaben.[80]

Dieser Stolz wäre freilich bald gedemüthigt worden. In der Garderobe der Miß Anna Walston erwartete ihn ein wirklicher Kummer.

Bis zum heutigen Abend hatte er keine »Costümprobe« gehabt, weil man das für unnöthig erachtete. Er war also stets mit seinen besten Kleidern nach dem Theater gegangen. Jetzt brachte aber Elisa, während sich Miß Anna als Herzogin von Kendalle schmückte. für ihn eine ganz zerfetzte Tracht herbei, die sie ihm anzulegen begann, scheinbar schmutzige, zerrissene Lumpen, die freilich auf der Innenseite völlig sauber waren. In dem rührseligen Stücke ist Sib in[81] der That ein verlassenes Kind, das seine Mutter in den dürftigsten Verhältnissen wiederfindet, seine Mutter eine Herzogin, eine Schönheit in Sammet, Seide und duftigen Spitzen.


Während ihn der Regisseur an der Hand hielt. (S. 85.)
Während ihn der Regisseur an der Hand hielt. (S. 85.)

Als er den Anzug sah, glaubte der kleine Knabe zuerst, er solle nach der Lumpenschule zurückgeschickt werden..

»Miß Anna... Miß Anna! rief er schluchzend.

– Was willst Du? fragte die Künstlerin.

– Schicken Sie mich nicht wieder zurück, bitte, bitte!

– Dich zurückschicken?... Warum denn?

– Hier die alten, schlechten Kleider...

– Nein... was er sich gleich einbildet!

– Ach was, halte still, kleiner Querkopf! fiel Elisa ein, die ihn mit fester Hand anfaßte.

– Ach, die Engelsliebe!« sagte Miß Anna tiefgerührt.

Und mit seiner Pinselspitze malte sie sich leicht geschwungne Augenbrauen.

»Das süße Herz... wenn das jemand von den Zuschauern wüßte!«

Sie legte etwas Roth auf die Wangen.

»Die Leute sollen's aber erfahren, Elisa. Morgen schon steht es in den Blättern, daß er hat glauben können...«

Sie warf sich eine kostbare weiße Hülle um die Schultern.

»O über den seltsamen Babish!... Jene schlechten Kleider... ach, es ist zum Lachen...

– Zum Lachen, Miß Anna?...

– Ja, weinen darf man ja nicht.«

Sie hätte wohl Thränen vergossen, fürchtete aber ihre künstliche Färbung zu beschädigen.

Elisa bemerkte jedoch kopfschüttelnd:

»Sie sehen, Miß Anna, daß wir aus dem nie einen Komödianten machen werden!«

Der Findling ließ sich indeß, eingeschüchtert und recht schweren Herzens, die Lumpen für die Rolle Sibs anlegen.

Da kam Miß Anna Walston auf den Gedanken, ihm eine glänzende Guinee zu schenken, das sollte ihn beim ersten Auftreten ermuntern. Schnell getröstet, nahm der Kleine das Goldstück hastig an und steckte es, nach gehöriger Besichtigung, tief in seine Tasche.[82]

Nachher streichelte ihm die Künstlerin noch einmal die Wangen und begab sich nach der Bühne hinunter, indem sie Elisa beauftragte, ihn in der Garderobe zu behalten, da er erst im dritten Acte aufzutreten hatte.

Heute Abend füllten die seine Welt und die bessern Kreise überhaupt das Theater vom Orchester bis zum Schnürboden, obgleich dieses Stück keine Novität war. Schon seit zwölf bis dreizehn Jahren hatten es alle Bühnen des Vereinigten Königreichs aufgeführt, was effectreichen Stücken selbst untergeordneten Werthes ja nicht selten widerfuhr.

Der erste Act verlief nach Vorschrift. Miß Anna Walston erntete rauschenden Beifall, den sie durch die Leidenschaft ihres Spiels und den Glanz ihres Talents von den hingerissenen Zuschauern gewiß verdiente.

Nach dem ersten Acte begab sich die Herzogin von Kendalle nach ihrer Garderobe zurück und legte hier, zum größten Erstaunen Sibs, ihre Seiden- und Sammetkleidung ab, um diese mit der Tracht einer einfachen Magd zu vertauschen – wie es die, übrigens recht altersgraue Entwickelung des Dramas verlangte.

Der Findling starrte die Dame in Sammet an, die zu einer Frau in grober Wolle wurde. Ihn beunruhigte das mehr und mehr, denn es schien ihm, als wenn eine Fee jene phantastische Veränderung vor seinen Augen durchführte.

Dann tönte die Stimme des Inspicienten bis zur Garderobe herauf, eine Stentorstimme, die ihn erzittern machte, und die »Magd« gab ihm ein Zeichen mit der Hand und sagte:

»Nun, aufgepaßt, Findling, jetzt kommst Du bald dran.«

Damit stieg auch sie nach der Bühne herunter.

Zweiter Act: Die Magd erntet den gleichen Beifall, wie die Herzogin im ersten, und der Vorhang muß unter dreifachem Applaus ebenso viele Male wieder aufgezogen werden.

Den »guten Freundinnen« und deren getreuen Schildknappen fehlte es demnach an Gelegenheit, sich an Miß Walston zu reiben.

In ihrer Garderobe warf sich diese etwas ermüdet auf ein Sopha, obgleich sie ihren höchsten dramatischen Triumph erst im folgenden Acte ausspielen wollte.

Noch einmal wechselte sie das Costüm; jetzt verwandelt sie sich aus der Magd wieder zur Dame, zu einer etwas weniger jugendlich erscheinenden Dame in Trauer, denn zwischen dem zweiten und dritten Aufzuge liegen fünf Jahre.[83]

Regungslos in seiner Ecke macht der kleine Knabe große Augen, ohne ein Wort zu äußern. Die etwas angegriffene Miß Anna Walston beachtet ihn zunächst nicht weiter.

Nach Beendigung ihrer Toilette beginnt sie:

»Nun, Kleiner, nun kommst Du auf die Bühne.

– Ich, Miß Anna?...

– Weißt Du denn noch, daß Dein Name da »Sib« ist?

– Sib?... Ja wohl.

– Elisa, schärfe ihm ja noch einmal ein, daß er Sib heißt, bis zum Augenblicke, wo Du ihn dem Regisseur neben der Thür zuführst.

– Gewiß, Miß Anna.

– Und daß er nur das Stichwort nicht verfehlt! Du weißt übrigens, wendete die Künstlerin sich, mit den Finger drohend, an den Knaben, Du weißt, daß Dir sonst Deine Guinee wieder genommen wird. Also Achtung vor der Geldbuße....

– Und vor dem Gefängniß!« setzte Elisa dazu, ihn mit strengem Blicke musternd.

Genannter Sib sah nach, ob die Guinee, die er sich schon nicht wieder abnehmen lassen würde, noch in seiner Tasche war.

Jetzt kam der große Moment. Elisa faßte ihn an der Hand und ging mit ihm nach der Bühne hinunter.

Sib war anfänglich ganz verwirrt durch die vielen Flaschenzüge und Seile, wie über die von allen Seiten strahlenden Gasflammen und das Durcheinander von Figuranten und Schauspielern, die ihn lächelnd betrachteten.

Der arme Kleine schämte sich wirklich in seiner zerfetzten Hülle.

Endlich ertönte das Zeichen zum Anfang.

Sib zitterte, als hätten die Glockenschläge seinen Rücken getroffen.

Der Vorhang rauschte empor.

Die Herzogin von Kendalle war allein auf der Bühne und sprach in der eine ärmliche Hütte darstellenden Decoration einen Monolog. Bei einem gewissen Stichworte sollte sich die Thür im Hintergrunde öffnen, ein Kind eintreten, auf sie zugehen und bittend die Hand ausstrecken; in diesem Kinde sollte sie das ihrige erkennen.

Hier sei erwähnt, daß der Findling schon bei den Proben immer sehr betrübt darüber war, daß er um ein Almosen betteln sollte, wogegen sich sein[84] natürlicher Stolz ja bereits in der Lumpenschule auflehnte. Miß Anna Walston hatte ihm zwar wiederholt erklärt, daß es sich hier nicht um ein wirkliches Betteln handelte, das beruhigte ihn jedoch noch nicht. In seiner Naivität nahm er die suchen für Ernst und glaubte schließlich wirklich, daß er der unglückliche kleine Sib sei.

In Erwartung seines Auftretens und während ihn der Regisseur an der Hand hielt, lugte er durch die nur angelehnte Thür. Mit größter Verblüffung durchflogen seine Augen den gefüllten Zuschauerraum, der wie in einem Lichtmeer gebadet erschien, theils von den Girandolen der einzelnen Ränge und theils von dem großen, einem feurigen Ballon ähnlichen Kronleuchter. Das war ein so ganz andres Bild, als er es bei seinen wenigen Theaterbesuchen von der Loge aus gesehen hatte.

Da raunte der Regisseur ihm zu:

»Achtung, Sib!

– Ja, ja, Herr....

– Du weißt... Du gehst grade auf Deine Mama zu. Hüte Dich, nicht etwa zu fallen.

– Ich werde mich vorsehen.

– Und strecke hübsch die Hand aus...

– Ja, nicht wahr, so hier?«

Er zeigte dabei eine fest geschlossene Hand.

»Nein, Dummkopf!... Du machst ja eine Faust und mußt doch die Hand offen hinhalten, wenn Du um eine Gabe bittest....

– Ach ja, Herr....

– Und vor allem, sprich kein Wort... keine Silbe!

– Nein, Herr....«

Die Thür der Hütte öffnete sich und der Regisseur schob den Findling genau beim Stichworte hinein.

Der kleine Knabe hatte sein Debüt in der theatralischen Laufbahn. O, wie klopfte ihm das Herz!

Vom Zuschauerraume her tönte ein Gemurmel, ein Ausdruck theilnehmenden Mitleids, während Sib, mit gesenkten Augen und ungewissen Schritten herankommend, gegen die trauernde Dame die Hand ausstreckte. Die Zuschauer glaubten herauszufinden, daß er solche Lumpen gewöhnt gewesen war.

Man bereitete ihm einen »Empfang«, was den Kleinen noch mehr verwirrte.[85]

Plötzlich erhebt sich die Herzogin, sie starrt ihn an, sinkt zurück und öffnet die Arme.

Ein markdurchdringender Schrei nach allen Regeln der Kunst.

»Er ist's!... Er ist's!... Ich erkenne ihn wieder!... Das ist Sib, mein... mein Kind!«

Darauf zieht sie ihn an sich, drückt ihn ans Herz, bedeckt ihn mit Küssen... er läßt sie gewähren. Sie weint – diesmal leibhaftige Thränen – und schluchzt:

»Mein Kind... mein Kind ist es, dieser kleine Unglückliche, der mich um ein Almosen anfleht!«

Das ergreift den armen Sib.

»Ihr Kind, Miß Anna? fragte er trotz der Mahnung, kein Wort zu sprechen.

– Schweig doch!« zischelt ihm die Künstlerin heimlich zu.

Dann fährt sie fort:

»Um mich zu strafen, hatte der Himmel mir ihn genommen, heute giebt er ihn mir wieder!«

Unter diesen von Seufzern unterbrochenen Worten verzehrt sie Sib fast mit ihren Küssen, überschüttet sie ihn fast mit ihren Thränen. Niemals, nein, niemals war der kleine Knabe so stürmisch geherzt und gepreßt worden, nie hatte er sich so mütterlich geliebt gefühlt.

Die Herzogin erhebt sich, als höre sie Geräusch von draußen.

»Sib, ruft sie, Du wirst nicht von mir gehen!

– Gewiß nicht, Miß Anna!

– So schweig doch nur!« ruft sie auf die Gefahr hin, von den Zuschauern gehört zu werden.

Die Thür der Hütte wird hastig aufgestoßen. Zwei Männer erscheinen auf der Schwelle.

Der erste ist der Gemahl der Trauernden, der andre ein Gerichtsdiener der jenen zur Unterstützung begleitet.

»Ergreifen Sie dieses Kind... es gehört mir!

– Nein, das ist Dein Sohn nicht! antwortet die Herzogin, die Sib ein Stück hinwegzieht.

– Sie sind nicht mein Papa!« erklärt der kleine Junge laut

Die Fingerspitzen der Miß Anna Walston haben sich so tief in seinen Arm eingebohrt, daß ihm ein Schrei entfährt. Dieser Schrei paßt ja zur[86] Situation und compromittiert sie nicht. Jetzt ist es eine Mutter, die ihn an sich preßt... keiner soll ihr das Kind entreißen können. Eine Löwin vertheidigt ihr Junges....

Der kleine sich sträubende Löwe, der den Vorgang für Ernst nimmt, wird zu widerstehen wissen. Der Herzog hat sich seiner bemächtigt; er entschlüpft ihm und eilt auf die Herzogin zu.

»Ach, Miß Anna, ruft er weinend, warum haben Sie mir gesagt, daß Sie nicht meine Mama sind?

– Wirst Du schweigen, Unglücksvogel!... Wirst Du endlich schweigen! murmelt sie, während Herzog und Gerichtsdiener bei diesen unerwarteten Zwischenreden ganz aus der Rolle fallen.

– Ja, ja... antwortet Sib, Sie sind doch meine Mama... ich hatte es Ihnen ja gesagt, Miß Anna... meine richtige Mama.«

Die Zuschauer begreifen allmählich, daß das nicht zum Stüche gehört; sie kichern und lächeln, einige klatschen scherzweise Beifall. Eigentlich hätten sie weinen sollen, denn es war rührend zu sehen, wie das Kind in der Herzogin von Kendalle seine leibliche Mutter zu erkennen wähnte.

Die »Situation« blieb aber – so oder so – compromittiert. Man fing an zu lachen, wo hätte man weinen sollen, und um den großen Auftritt war es geschehen.

Miß Anna Walston erfaßte die ganze Lächerlichkeit der Lage. Ihre vortrefflichen Collegen raunten ihr ironische Bemerkungen zu.

Außer sich vor Erregung ergriff sie eine blinde Wuth. Den kleinen Dummkopf, der die Ursache all dieses Unheils war, hätte sie vernichten mögen!... Da schwanden ihr die Kräfte. sie fiel auf die Bühne nieder und der Vorhang senkte sich unter homerischem Gelächter der Zuschauer.

Noch in derselben Nacht verließ Miß Anna Walston, die man nach dem Royal-George-Hôtel geschafft hatte, die Stadt in Begleitung der Elisa Corbett. Sie verzichtete auf die für die folgende Woche angekündigten Vorstellungen und entrichtete deshalb die übliche Conventionalstrafe. Auf dem Theater in Limerick wollte sie nie wieder auftreten.

Um den kleinen Knaben hatte sie sich gar nicht weiter gekümmert. Sie entledigte sich seiner wie eines Dinges, das ihr nicht mehr gefiel und dessen Anblick ihr verhaßt war. Bei dem Frostschauer der Eigenliebe erstarrt jede andre Neigung.


Hier verbrachte das Kind die Nacht. (S. 89.)
Hier verbrachte das Kind die Nacht. (S. 89.)

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Der Findling, der sich allein sah, nichts begriff, aber doch ahnte, daß er ein großes Unglück angerichtet haben müsse, hatte sich unbemerkt geflüchtet. Aufs Gradewohl durchirrte er die ganze Nacht die Straßen von Limerick und verkroch sich endlich in eine Art großen Garten mit da und dort verstreuten[87] Häuschen und steinernen, von Kreuzen überragten Tafeln. In der Mitte erhob sich ein gewaltiges Bauwerk, das an der vom Mondschein nicht getroffenen Seite sehr düster aussah.


Großmutter hatte keine andre Beschäftigung. (S. 93.)
Großmutter hatte keine andre Beschäftigung. (S. 93.)

Dieser Garten war der Friedhof von Limerick – eine jener englischen Todtenstätten mit Buschwerk, blühenden Pflanzen, besandeten Wegen, mit Rasen[88] flächen und kleinen Springbrunnen, wodurch das Ganze zum vielbesuchten Spaziergang wird. Die Tafelsteine waren Gräber, die kleinen Häuser Grüfte, das große Bauwerk die Kathedrale der heiligen Maria.

Hier hatte das Kind Zuflucht gefunden und verbrachte es die Nacht auf einer Steinplatte im Schatten der Kirche, beim geringsten Geräusche zitternd vor Furcht... daß der böse Mann, der Herzog von Kendalle, es suchen könnte.[89]

Und nun war auch Miß Anna nicht zu seiner Vertheidigung da! Man werde ihn, so meinte er, weit wegführen in ein unbekanntes Land, wo er seine Mama nicht wiedersähe... und große Thränen perlten ihm aus den Augen.

Mit Tagesanbruch hörte der Findling eine Stimme, die ihn anrief.

Unsern von ihm standen ein Mann und eine Frau, ein Farmer und dessen Gattin. Beim Vorübergehen hatten sie den Kleinen bemerkt. Beide begaben sich nach dem Bureau des öffentlichen Fuhrwesens, von wo aus ein Wagen nach dem Süden der Grafschaft abgehen sollte.

»Was machst Du da, Kleiner?« fragte der Mann.

Der Knabe schluchzte, daß er kein Wort hervorbringen konnte.

»Nun, was hast Du denn da vor?« erklang jetzt die sanftere Stimme der Frau.

Der Findling schwieg noch immer.

»Wer ist Dein Vater? fuhr sie fort.

– Ich habe keinen Vater, antwortete er endlich.

– Aber Deine Mutter?...

– Ich habe keine mehr!«

Dabei streckte er die Arme gegen die Farmersfrau aus.

»Es ist ein verlassnes Kind,« sagte der Mann.

Hätte der Findling noch seine schöne Kleidung getragen, so würde der Farmer ihn für ein verirrtes Kind und sich für verpflichtet gehalten haben, es den Seinigen wieder zuzuführen. In den Lumpen Sibs aber konnte es nur einer jener kleinen Unglücklichen sein, die niemand angehörten.

»So komme mit!« schloß der Farmer.

Dabei hob er ihn schon auf, legte ihn seiner Frau in die Arme und sagte mit freundlicher Stimme:

»So ein Bübchen mehr im Hause, das merken wir auch nicht. Nicht wahr, Martine?

– Nein Martin!«

Und mit einem herzhaften Kusse löschte die gute Frau die Thränen des kleinen Knaben.[90]

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 74-91.
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