Neuntes Capitel.
Die Farm von Kerwan. (Fortsetzung).

[101] Am 20. October, nachmittags gegen drei Uhr, erschollen auf der nach der Farm von Kerwan führenden Straße laute Jubelrufe.

»Da kommt der Vater!

– Da ist die Mutter!

– Nun sind sie ja beide zurück!«

Kitty und Sim waren es, die Martin und Martine Mac Carthy schon von weither begrüßten.

»Guten Tag, Kinder! sagte Martin.

– Guten Tag, meine Söhne!« rief Martine, die in das Wörtchen »meine« ihren ganzen mütterlichen Stolz legte.

Der Farmer und seine Gattin hatten Limerick heute Morgen frühzeitig verlassen. So einige dreißig (englische) Meilen bei schon recht kühlem Herbstwind zurückzulegen, hat schon etwas auf sich, zumal wenn das mittelst eines »Jauntingcar« geschieht.

Das Gefährte wird »Car« genannt, weil es ein Wagen ist, und die nähere Bezeichnung durch das Beiwort »Jaunting« erhält es, weil seine Passagiere, Rücken gegen Rücken, auf zwei in der Längenachse des Fuhrwerks angebrachten Bänken sitzen. Man braucht sich nur die Ruhebänke in städtischen Parkanlagen verdoppelt und auf ein paar Rädern befestigt vorzustellen, wozu man noch je ein Brett als Fußstütze für die zu befördernden Personen zu denken hat, die sich an die Gepäckstücke hinter ihnen anlehnen, so hat man den in Irland am meisten gebräuchlichen Wagen. Wem er auch nicht sehr vortheilhaft erscheint, weil man davon nur nach je einer Seite Aussicht hat, und nicht sehr comfortabel, weil er ganz ohne Dach ist, so rollt er wenigstens ziemlich flott dahin und sein Kutscher entwickelt meist ebensoviel Geschicklichkeit wie Schnelligkeit.

So konnte es nicht wundernehmen, daß Martin und Martine Mac Carthy, die gegen sieben Uhr früh von Limerick abgefahren waren, gegen drei Uhr in Sicht des Pachthofs eintrafen. Sie befanden sich auf dem Jaunting-car auch[101] nicht allein, denn dieser brachte wohl noch zehn andre Personen mit. Nachdem die Farmersleute abgestiegen waren, rollte das Gefährt in schnellem Trabe nach dem Hauptorte der Grafschaft Kerry weiter.

Eben trat Murdock aus seinem an der Hofecke gelegenen Zimmer, wo die Nebengebäude der rechten Seite an das Wohnhaus stießen.

»Ihr habt eine glückliche Fahrt gehabt, Väterchen? fragte die junge Frau, nachdem sie Martine umarmt hatte.

– Eine sehr gute Fahrt, Kitty.

– Fandet Ihr auf dem Markte in Limerick die gewünschten Kohlpflanzen? erkundigte sich Murdock.

– Ja, mein Sohn; morgen sollen sie uns zugeschickt werden.

– Und auch den Rübensamen?...

– Gewiß; sogar von bester Sorte.

– Das ist gut, Vater.

– O, wir fanden auch noch eine andre Art Samen....

– Welche denn?

– Ein... Babysamenkorn, das uns von bester Sorte erschien.«

Murdock und sein Bruder machten große Augen, als sie das Kind bemerkten, das ihre Mutter in den Armen hielt.

»Da habt Ihr ein Knäblein, sagte sie, in Erwartung, daß Kitty uns einen kleinen Kameraden dazu schenkt.

– Er ist ja ganz erfroren, der Kleine! antwortete die junge Frau.

– Ich hab' ihn aber während der Fahrt in meinen Tartan (eine Hülle von großwürfeligem Wollenstoff) eingewickelt, so gut ich konnte, versicherte die Farmersfrau.

– Schnell, schnell, drängte Martin, wir wollen ihn vor dem Kamine wieder warm machen und auch die Großmutter begrüßen, die darauf warten wird.«

Kitty nahm den kleinen Knaben aus den Händen Martines, und bald war die ganze Familie in dem großen Mittelzimmer versammelt, wo die Großmutter auf einem alten gepolsterten Armstuhle saß.

Man zeigte ihr das Kind. Sie nahm es in die Arme und setzte sich's auf die Knie.

Der Kleine ließ es sich gefallen. Seine Blicke wanderten von einem zum andern. Er verstand nicht, was mit ihm vorging. Jedenfalls glich das Heute[102] nicht dem Gestern. War alles nur ein Traum? Er sah hübsche Gesichter, junge und alte um sich. Seit seinem Erwachen hatte er nur liebevolle Worte gehört. Die Fahrt auf dem schnell durch das Land hineilenden Wagen war ihm eine Zerstreuung gewesen. Gute Luft und der Morgenduft der Blumen und Büsche füllten seine Brust. Eine kräftige Suppe vor der Abfahrt hatte ihn gestärkt und unterwegs hatte er, immer an kleinen Kuchen aus der Tasche Martines nagend, erzählt, was er von seinem Leben wußte, von dem Aufenthalt in der abgebrannten Lumpenschule, von der Freundlichkeit Grips, dessen Name sehr oft über seine Lippen kam, ferner von Miß Anna, die ihn ihren Sohn genannt hatte und doch gar nicht seine Mutter war, weiter von einem sehr erzürnten Herrn, den sie den Herzog nannten, dessen Namen er aber vergessen hatte und der ihn mit wegnehmen wollte, endlich von seinem Verlassensein und wie er sich allein auf dem Friedhofe von Limerick befunden habe. Martin Mac Carthy und seine Frau verstanden von der ganzen Geschichte nicht viel, außer daß er weder Eltern noch Angehörige hatte, und daß er ein verlassenes kleines Geschöpf sei, das die Vorsehung ihrer treuen Sorge anvertraut hatte.

Gerührt umarmte ihn die Großmutter und dann auch die andern, deren Theilnahme für ihn erwachte.

»Ja, wie heißt er denn? fragte die Großmutter.

– Er konnte uns keinen andern Namen als »Findling« angeben, antwortete Martine.

– Na, er braucht keinen andern, meinte Martin; wir rufen ihn ebenso, wie er bis jetzt gerufen wurde.

– Wenn er aber einmal groß wird?... warf Sim ein.

– So bleibt er nach wie vor der Findling!« erklärte die Großmutter, die ihn mit einem herzhaften Kusse taufte.

Das war also der Empfang, den unser Held beim Eintreffen auf dem Pachthofe fand. Man nahm ihm die Lumpen ab, die er für die Rolle des Sib angelegt bekommen hatte. Dafür erhielt er die letzten Kleidungsstücke Sims, die dieser. als er im gleichen Alter war, getragen hatte und die zwar nicht neu, aber doch reinlich und warm waren. Seine Wollenjacke ließ man ihm, da er auf diese, obgleich sie allmählich zu egg wurde, viel zu halten schien.

Dann aß er, auf hohem Stuhle sitzend, mit der Familie und fragte sich, ob das alles nicht auch bald verschwinden würde. Doch nein, die Hafersuppe, die in reichlich vollem Teller vor ihm stand, verschwand nicht, auch nicht das[103] Stück Speck mit Kohl, wovon er ein gutes Theil erhielt, ebensowenig der Eierkuchen, der unter allen redlich vertheilt wurde und den man hier mit einem Schluck ausgezeichneten »Potheens« begoß, welchen der Farmer ans der eignen Gerste durch Gährung herstellte.

Das war ein Schmaus, zumal da das Knäblein nur fröhliche Gesichter sah, außer vielleicht an dem ältesten Bruder, der immer ernst, ja fast etwas traurig erschien. Da wurden ihm die Augen feucht und Thränen glitten seinen Wangen hinab.

»Was fehlt Dir, Findling? fragte Kitty.

– Ei, warum denn weinen! setzte die Großmutter hinzu. Hier werden Dir alle gut sein!

– Und ich besorge Dir auch Spielzeug, versprach Sim.

– Ich weine ja nicht, antwortete er. Das sind keine Thränen!«

Wirklich war es nur das Herz, das dem armen Kleinen überlief.

»Nun, heute mag's gut sein, erklärte Martin, doch gar nicht zürnenden Tones, ich sage Dir aber, mein Junge, daß es hier verboten ist, zu weinen.

– Ich werd' es auch nicht mehr thun!« versicherte er, in die ausgestreckten Arme der Großmutter hinübergleitend.

Martin und Martine bedurften der Ruhe. Auf der Farm legte man sich im allgemeinen zeitig nieder und stand sehr früh des Morgens auf.

»Wo werden wir das Kind denn unterbringen? fragte der Farmer.

– In meiner Stube, meldete sich Sim; ich trete ihm, wie einem kleinen Bruder, die Hälfte meines Bettes ab.

– Nein, Kinder, erklärte die Großmutter. Laßt ihn bei mir schlafen, er wird mich nicht belästigen. Da kann ich ihn schlummern sehen, und das wird mir eine Freude sein.«

Ein Wunsch der Großmutter fand nie auch nur einen Schatten von Widerspruch. Neben deren Bett wurde also, wie sie es verlangt hatte, eine Lagerstatt hergerichtet und der kleine Knabe sogleich hineingelegt.

Weißes Bettzeug und eine gute Decke hatte er schon kennen gelernt in den wenigen Wochen, wo er im Royal-George-Hôtel im Zimmer der Miß Anna Walston wohnte. Die Zärtlichkeiten der Schauspielerin wogen aber die dieser achtbaren Familie nicht auf. Gewiß bemerkte er darin schon einigen Unterschied, vorzüglich als ihm die Großmutter beim Niederlegen einen herzlichen Kuß gab.[104]

»Ach, ich danke... ich danke!« murmelte er.

Das war heute sein einziges Nachtgebet, und jedenfalls kannte er auch kein andres.


Hat er mit dem Langohr fast Freundschaft geschlossen. (S. 109.)
Hat er mit dem Langohr fast Freundschaft geschlossen. (S. 109.)

Man stand jetzt im Anfang der kalten Jahreszeit. Die Ernte war eben hereingebracht. Außerhalb des Pachthofes gab es wenig oder nichts zu thun. In diesen rauhen Gegenden findet die Einsaat des Korns, der Gerste und des Hafers nicht mit beginnendem Winter statt, weil dessen Länge und Strenge sie wie der vernichten könnte. Das ist Sache der Erfahrung. Martin Mac Carthy[105] pflegte hier den März und sogar den April abzuwarten, ehe er mit der sorgfältig gewählten Saat begann. Dabei hatte er sich bisher gut gestanden. Furchen in einem Boden zu ziehen, der bis auf mehrere Fuß Tiefe friert, das wäre eine ebenso harte wie unnütze Arbeit gewesen; da hätte er die Samenkörner auch auf einen sandigen Strand oder auf die Felsen der Küste verstreuen können.

Immerhin fehlte es im Pachthofe nicht an Arbeit. Galt es doch, die Vorräthe an Gerste und Hafer auszudreschen und an Geräthen auszubessern, was schadhaft geworden war. Der Findling konnte sich schon am folgenden Tage von der hier herrschenden Geschäftigkeit überzeugen und versuchte auch vom frühen Morgen an selbst, sich nützlich zu machen. So begab er sich nach den Viehställen. Jetzt nahe am Ende des sechsten Lebensjahres, mußte er doch, wenigstens im Stande sein, Gänse oder Kühe, ja auch Schafe zu hüten, wenn er einen guten Hund zur Seite hatte.

Beim Frühstück und vor einer Tasse warmer Milch sitzend, bot er sich zu einer solchen Dienstleistung an.

»Schön, mein Junge, antwortete Martin, Du willst arbeiten. Recht so. Man muß sich sein Brod verdienen....

– Und ich werd' es mir verdienen, Herr Martin, versicherte er.

– Er ist ja noch gar so jung, bemerkte die Großmutter.

– Das thut nichts, Madame....

– Ei was, nenne mich Großmutter!

– Nun gut... das thut nichts, Großmutter. Ich will so gern arbeiten....

– Und wirst auch hübsch thätig sein, fiel Murdock ein, den ein so entschlossener Charakter bei einem bisher vom Unglück verfolgten Kinde in Erstaunen setzte.

– Ich danke, Herr Murdock!

– Ich werde Dir lehren, die Pferde zu besorgen, fuhr Murdock fort, und auch darauf zu reiten, wenn Du keine Angst hast....

– O, so gern! jubelte der Knabe.

– Und ich, ich lehre Dir die Kühe zu pflegen, ließ Martine sich vernehmen, und sie zu melken, wenn Du Dich nicht vor ihren Hörnern fürchtest.

– Nein, gar nicht, Frau Martine!

– Ich zeige Dir dann, fiel Sim ein, wie man auf dem Felde die Schafe hütet....

– Ich freue mich schon darauf!

– Kannst Du lesen? fragte der Farmer.[106]

– Ein wenig, und auch ein bischen große Buchstaben schreiben.

– Und rechnen?

– Ja... ich kann bis hundert zählen, Herr Martin.

– Na, sagte Kitty lächelnd, ich werde Dir bis tausend zählen und auch kleine Buchstaben schreiben lehren.

– Ich danke, liebe Frau Kitty!«

Das Kind war thatsächlich zu allem bereit, was man ihm vorschlug. Der Kleine wollte sich offenbar dankbar beweisen für die Wohlthaten, die er bei den wackern Leuten schon genoß und noch zu genießen hoffte. Der kleine Diener der Farm zu werden, dahin strebte zunächst sein Ehrgeiz. Ein Zeugniß für den von Natur ernsten Sinn des Knaben lieferte aber die Antwort, die er dem Farmer gab, als dieser ihn lachend fragte:

»Ei, Findling, Du wirst uns ja ein schätzbarer Helfer sein!... Die Pferde, die Kühe, die Schafe... ja, wenn Du alles besorgst, bleibt ja für uns gar nichts zu thun übrig. Wie viel verlangst Du denn Lohn?

– Lohn?...

– Nun ja; Du wirst doch nicht ganz für nichts und wieder nichts arbeiten wollen?

– Nein, das nicht, Herr Martin.

– Wie? rief Martine verwundert, außer der Wohnung, Nahrung und Bekleidung verlangt er auch noch Bezahlung....

– Ja, Frau Martine!«

Alle sahen den Knaben an; es schien ihnen, als ob er etwas ganz ungeheuerliches ausgesprochen hätte.

Murdock, der ihn beobachtet hatte, bemerkte aber:

»Laßt ihn doch sich erst erklären!

– Freilich, meinte die Großmutter. Sag' uns frei heraus, was Du verdienen willst. Baares Geld?...«

Der Findling schüttelte den Kopf.

»Nun... vielleicht eine Krone für den Tag? sagte Kitty.

– Ach nein, Frau Kitty.

– Oder monatlich so viel?... fuhr die Pächtersfrau fort.

– Frau Martine!...

– Also wohl jährlich? meinte Sim, laut auflachend. Eine ganze Krone Jahreslohn....[107]

– Nun, was willst Du denn, lieber Junge? begann Murdock wieder. Ich begreife, daß Du Dir Deinen Lebensunterhalt verdienen willst, ganz wie wir. So wenig man auch empfängt, es sammelt sich endlich doch. Was willst Du also?... Einen Penny... einen Copper täglich?...

– Nein, Herr Murdock!

– So erkläre Dich doch!

– Nun, Herr Martin, Sie geben mir jeden Abend einen Kieselstein...

– Was? Einen Kiesel? rief Sim überrascht. Willst Du Schätze in Kieseln sammeln?...

– Nein... doch es wird mir Vergnügen machen, und nach Jahren einmal, wenn ich groß bin und Sie mit mir zufrieden waren...

– Richtig, Findling, fiel Martin ein, da vertauschen wir Deine Kieselsteine mit Pence oder Schillingen!«

Alle lobten den Kleinen wegen seiner guten Idee, und noch an demselben Abend gab ihm Martin einen Kiesel aus dem Bette des Cashen, der an solchen unerschöpflich war. Der Kleine aber legte ihn in einen alten Steinguttopf, den die Großmutter ihm als Sparbüchse zugewiesen hatte.

»Ein sonderbares Kind!« sagte Murdock zu seinem Vater.

Gewiß, doch dessen gute Natur hatte keinen Schaden erlitten, weder durch die herzlose Behandlung Thornpipe's, noch durch die schlechten Beispiele in der Lumpenschule. Als die Pächterfamilie ihn im Laufe einiger Wochen näher kennen lernte, traten seine natürlichen Eigenschaften nur noch mehr zutage. Ihm fehlte nicht einmal die Heiterkeit, der Grundzug des Nationalcharakters, den man in Irland auch bei den ärmsten Leuten ausgeprägt findet. Dann gehörte er auch nicht zu dem Schlage von Jungen, die den ganzen Tag lang nur herumlungern, deren Augen hierhin und dahin gehen, da sie durch jede Fliege, jeden Schmetterling abgelenkt werden. Immer sah man ihn überlegt, stets sachte er den suchen auf den Grund zu gehen und sich durch Befragung andrer zu unterrichten. Seinen Blicken entging auch nicht das geringste. Er hob jede Stecknadel ebenso auf, wie er einen Schilling aufgehoben hätte. Seine Kleidung hielt er stets reinlich und alles in musterhafter Ordnung. Der Sinn für diese war ihm angeboren. Er antwortete höflich, wenn man ihn fragte, und ließ sich jede erhaltene Antwort erklären, wenn er sie nicht ganz verstanden hatte. Gleichzeitig machte er im Schreiben sichtliche Fortschritte. Das Rechnen schien ihm sehr leicht zu fallen und dabei gehörte er nicht zu den frühreifen Wunderkindern die[108] später so oft nicht halten, was sie versprachen; er brachte aber Berechnungen im Kopfe fertig, bei denen viele andre zur Feder gegriffen hätten. Zu seinem wahrhaften Erstaunen erkannte Murdock auch, daß der Kleine sich bei allen Handlungen nur von seiner hochentwickelten Vernunft leiten ließ.

Dank den Lehren der Großmutter eignete er sich auch schnell die Gebote der Religion an, wie sie die katholische Lehre vorschreibt und die alle tief im Herzen jedes Irländers wurzeln. Jeden Tag verrichtete er sein Morgen- und sein Abendgebet mit aufrichtiger Innigkeit.

Der Winter verstrich – ein sehr kalter Winter mit vielen Stürmen, die oft erschreckend durch das Thal des Cashen brausten. Ost fürchtete man, daß die Strohdächer abgerissen oder daß die Lehmwände nicht Stand halten würden. Von dem Middleman John Eldon Reparaturen zu verlangen, wäre ganz nutzlos gewesen. Martin Mac Carthy und seine Kinder mußten sich eben selbst zu helfen suchen. Neben dem Ausdreschen des Getreides nahm sie das am meisten in Anspruch: hier war ein Stück Strohdach wieder herzustellen, dort eine Mauer zu dichten und an vielen Stellen die Einfriedigung zu stützen.

Inzwischen arbeiteten die Frauen in verschiedener Weise; die Großmutter spann fleißig in der Nähe des Kamins, Martine und Kitty besorgten die Ställe und den Geflügelhof, wobei sie der Findling nach Möglichkeit unterstützte. Er achtete genau auf alles, was den Betrieb der Wirthschaft anging. Zu jung, um schon mit Pferden umzugehen, hatte er mit einem grauen Langohr, einem gutmüthigen Thiere, fast Freundschaft geschlossen, die dieser ihm erwiderte. Er wollte, daß sein Esel ebenso sauber aussähe, wie er selbst, was ihm Martines besondre Anerkennung einbrachte. Bei den Schweinen wäre das freilich ein vergebliches Bemühen gewesen, so daß er darauf von vornherein verzichtete. Die Zahl der Schafe hatte er, nach sorgfältiger Feststellung derselben – mit 103 – in ein altes von Kitty erhaltenes Notizbuch eingetragen. Seine Neigung für eine solche Buchführung trat immer mehr hervor, und man hätte glauben können, daß ihm O'Bodkins in der Ragged-School diese übererbt habe.

Seine Peinlichkeit darin trat besonders hervor, als Martine eines Tags einige von den für den Winter aufbewahrten Eiern holen wollte.

Die Pächterin nahm etwa zwölf ohne Wahl heraus, als der Findling ihr zurief:

»Nicht diese, Frau Martine!

– Diese nicht?... Warum denn nicht?[109]

– Weil dadurch die gehörige Ordnung gestört würde.

– Welche Ordnung?... Sind denn diese Hühnereier einander nicht ganz gleich?

– Gewiß nicht. Sie haben das achtundvierzigste genommen, wo Sie beim siebenunddreißigsten hätten anfangen sollen. Sehen Sie nur hin.«

Wirklich entdeckte Martine da, daß jedes Ei eine Nummer auf der Schale trug, eine Nummer, die der kleine Knabe mit Tinte darauf geschrieben hatte. Da die Farmersfrau zwölf Eier haben wollte, mußte sie sie der Reihe nach entnehmen, d. h. vom siebenunddreißigsten bis mit dem achtundvierzigsten, nicht aber die Nummern achtundvierzig bis mit neunundfünfzig. Das that sie denn auch, nachdem sie das Knäblein für seinen Ordnungssinn belobt hatte.

Als sie die Sache beim Frühstück erwähnte, schlossen sich alle diesem Lobspruche an und Murdock fragte:

»Findling, hast Du denn auch die Hennen und die Küchlein im Hühnerstalle gezählt?

– O, gewiß!«

Damit zog er sein Notizbuch heraus.

»Es sind dreiundvierzig Hühner und neunundsechzig Küchlein darin.«

Darauf konnte sich Sim nicht enthalten zu bemerken:

»Du solltest auch zählen, wie viele Haferkörner in jedem Scheffel stecken....

– Scherzt darüber nicht! fiel Martin Mac Carthy ein. Das beweist, daß er Ordnung hält, und Ordnung im Kleinen bedeutet erst recht auch Ordnung im Großen und im ganzen Leben.«

Dann wendete er sich an das Kind.

»Und Deine Kiesel, fragte er, die Steine, die ich Dir jeden Abend gebe?...

– Die liegen in der Kruke, Herr Martin; ich habe schon siebenundfünfzig

– O, sagte die Großmutter lächelnd, das wären ja für ebenso viele Tage bereits siebenundfünfzig Pence, den Stein einen Penny gerechnet.

– He, Kleiner, scherzte Sim, für das Geld könntest Du Dir aber eine Menge Kuchen kaufen.

– Kuchen, Sim?... Ach nein, da würd' ich schöne Schreibhefte vorziehen!«

Das Ende des Jahres nahte heran. Auf den stürmischen November folgte eine sehr harte Kälte. Eine dichte Lage gefrorenen Schnees bedeckte die Erde, und für den Knaben war es ein entzückendes Bild, die Bäume im Schmuck[110] des Reifs und da und dort mit glitzernden Eiszapfen zu sehen. Auf den Scheiben der Fenster schlug sich die Feuchtigkeit in formenreichen Krystallen nieder, die hübsche Zeichnungen bildeten. Dazu war der Fluß ganz zugefroren und auf ihm lagerten übereinander gethürmt massige Schollen. Diese Winterbilder waren für ihn zwar nichts neues, denn er hatte sie auf den Landstraßen von Galway bis Claddagh wiederholt gesehen. Zu jener traurigen Zeit trug er aber kaum etwas auf dem Leibe und watete mit nackten Füßen durch den Schnee. Da thränten ihm die Augen und seine Hände wurden ihm rissig. lind wenn er dann in die Lumpenschule zurückkam, gab's für ihn kein Plätzchen am Ofen.

Wie glücklich fühlte er sich dagegen jetzt. Wie zufrieden verbrachte er seine Tage bei diesen einfachen Leuten, die ihn aber liebten! Fast schien es, als ob deren Zuneigung ihn noch mehr erwärmte, als seine Kleider, die ihn vor der eisigen Zugluft schützten, als die gesunde Nahrung, die auf den Tisch kam, mehr als die lodernden Flammen im Kamin. Jetzt, wo er sich schon etwas nützlich machte, fühlte er sich wie zum Hause gehörig. Hier hatte er eine Großmutter, eine Mutter, Brüder, Eltern.... Bei ihnen, so dachte er, wollte er sein ganzes Leben verbringen. Hier wollte er sich seinen Unterhalt verdienen, das war und blieb sein einziger Gedanke.

Wie freute er sich, zum ersten Male an dem Feste theilzunehmen, das im irischen Kirchenjahre fast als das heiligste gefeiert wird.

Es war der 25. December, Weihnachten, die Christmas. Der Findling wußte schon, welchem historischen Ereignisse die Feier galt, die alle Christen an diesem Tage veranstalten. Unbekannt war ihm aber, daß man im Vereinigten Königreich damit auch ein schönes Familienfest verband. Für ihn mußte das also eine Ueberraschung werden. Er bemerkte wohl am Morgen ungewöhnliche Vorbereitungen. Da die Großmutter, Martine und Kitty dieselben jedoch mit vollständiger Heimlichkeit betrieben, hütete er sich wohl, sie darüber zu fragen.

Jedenfalls wurde er veranlaßt, die besten Kleider anzulegen, was Martin Mac Carthy und seine Söhne, die Großmutter, deren Tochter und Kitty schon sehr frühzeitig gethan hatten, um nach der Kirche in Silton zu fahren. Sie behielten den Staat auch den ganzen Tag über an. Dazu kam, daß das Mittagsessen heute für zwei Stunden später angesetzt und es fast schon Nacht war, als der Tisch im großen Zimmer mit einem Reichthum an Licht, der geradezu blendend wirkte, hergerichtet wurde. Ferner gab es ganz besonders ausgewählte Speisen und deren gar noch drei oder vier Gerichte mehr als gewöhnlich. Hierzu wurde schäumendes[111] Bier aufgetragen und ein Ungeheuer von Kuchen, den Martine und Kitty nach einem schon sehr lange Zeit in der Familie aufbewahrten Recepte hergestellt hatten.

Daß tüchtig gegessen und getrunken wurde, versteht sich ja von selbst. Alle waren höchst aufgeräumt. Selbst Murdock ließ sich weit mehr gehen, als er das sonst zu thun pflegte. Wenn die andern laut auflachten, lächelte er freilich nur, und ein Lächeln von ihm glich einem Sonnenstrahl im Nebel.

Am meisten freute sich der Findling über den auf dem Tische stehenden Christbaum, eine Tanne mit Bänderschmuck und mit Lichtsternen, die zwischen den Zweigen funkelten.

Da sagte die Großmutter zu ihm:

»Sieh nur auch unter die Zweige, Kleiner; ich glaube, da findet sich noch etwas für Dich!«

Der Findling ließ sich darum nicht bitten; doch wie beglückt fühlte er sich, wie rötheten sich seine Wangen vor Vergnügen, als er unter dem Baume ein schönes irländisches Messer mit an einem Ledergürtel befestigter Tragkette entdeckte.

Das war das erste Weihnachtsgeschenk, das er je erhalten hatte, und wie stolz fühlte er sich, als Sim ihm half, den Ledergurt um die Hüften zu schnallen.

»Ach, herzinnigen Dank, Großmutter, herzlichen Dank allen... allen!« rief er jubelnd, während er von einem zum andern ging.

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 101-112.
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