Drittes Capitel.
In Trelinger-castle.

[232] Als das Thor neben dem Pavillon sich aufthat, wollte der Verwalter Scarlett eben den Ehrenhof verlassen, um sich, entsprechend dem Befehle des Schloßherrn, nach Kanturk zu begeben. Die Hunde des Grafen Ashton, die Birk der ihnen offenbar nicht gefiel, wittern mochten, singen wüthend an zu bellen.

Da Findling fürchtete, daß sich hier eine Katzbalgerei entwickeln könnte, bei der Birk doch eine zu große Uebermacht gegen sich gehabt hätte, gab er diesem ein Zeichen, sich zu entfernen, und das gehorsame Thier verschwand hinter einem Busche, wo es nicht bemerkt werden konnte.

Als Scarlett den auf das Thor zuschreitenden Knaben bemerkte, rief er ihn heran.

»Was willst Du hier?« fragte er mit barscher Stimme.

Wenn der Verwalter sich nämlich kriechend unterwürfig gegen alle Vornehmen zeigte, so verleugnete er doch gegen niedriger Stehende, und vorzüglich gegen Kinder, niemals seine brutale Natur.

Seine Aufgeblasenheit konnte unsern jungen Helden freilich nicht schrecken. Er hatte noch weit härtere Anreden bei der Hard, von Thornpipe und in der Lumpenschule hinnehmen müssen. Wie es sich schickte, entblößte er den Kopf, als er auf Scarlett zuging, den er übrigens gleich nicht für Seine Herrlichkeit den Lord Piborne, den Schloßherrn von Trelingar, ansah.

»Wirst Du wohl sagen, was Du hier willst? herrschte ihn Scarlett noch einmal an. Bettelst Du um eine Gabe, dann mach' daß Du fortkommst. Kleine Herumtreiber wie Du erhalten hier nichts, nicht einmal einen Copper!«

Das waren recht unnütze Worte, vor denen Findling zu gar keiner Antwort kommen konnte, zumal er sich immer vor dem etwas unruhigen Pferde des Verwalters in Acht nehmen mußte. Gleichzeitig tobten die Hunde knurrend und bellend im Hofe umher. Das machte einen Lärm, der jede Verständigung erschwerte.

Scarlett mußte auch noch lauter sprechen, als er hinzufügte:[232]

»Wenn Du jetzt nicht Deiner Wege gehst und ich Dich noch einmal in der Nähe des Schlosses erwische, dann führ' ich Dich an den Ohren nach Kanturk, wo im Arbeitshause für einen solchen Burschen schon noch Platz ist!«

Findling ließ sich weder durch solche Drohungen, noch durch den Ton, in dem sie ausgestoßen wurden, einschüchtern. Als es aber einmal ruhiger war, antwortete er:

»Ich verlange kein Almosen und habe nie darum gebettelt!


 »Was willst Du hier?« (S. 232.)
»Was willst Du hier?« (S. 232.)

– Und Du würdest auch keines annehmen, he? erwiderte Scarlett ironisch.[233]

– Nein... von niemand.

– Was willst Du denn sonst hier?

– Ich wünsche den Lord Piborne zu sprechen.

– Seine Herrlichkeit selbst?

– Ja, Seine Herrlichkeit persönlich.

– Und Du bildest Dir ein, daß er Dich vorlassen wird?...

– Gewiß, denn es handelt sich um eine für den Lord Piborne sehr wichtige Sache.

– Eine sehr wichtige Sache?...

– Ja wohl, mein Herr.

– Und was beträfe denn diese?

– Das möchte ich dem Lord Piborne nur allein mittheilen.

– Dann hinaus!... Der Marquis ist nicht im Schlosse.

– O, so werde ich warten.

– Doch wenigstens nicht hier auf der Stelle.

– Gut, so komm' ich noch einmal wieder.«

Jeder andre als der häßliche Scarlett wäre von der auffallenden Zähigkeit, von den so bestimmten Antworten dieses Kindes betroffen gewesen. Jeder hätte sich gesagt, daß den Kleinen gewiß ein ganz besondrer Grund nach dem Schlosse getrieben habe, und hätte ihn aufmerksam angehört. Der Verwalter kam dadurch jedoch nur noch mehr »in die Wolle« und knurrte:

»So ohne Umstände spricht man nicht mit Seiner Herrlichkeit Lord Piborne. Ich bin der Intendant des Schlosses. Wer hier etwas will, hat sich an mich zu wenden, und Du weigerst Dich sogar zu sagen, was Dich herführte....

– Das kann ich niemand als dem Lord Piborne sagen, und ich bitte Sie, mich ihm zu melden!

– Dich Galgenstrick? versetzte Scarlett, die Reitgerte schwingend, jetzt packe Dich zum Teufel oder die Hunde sollen Dir in die Beine fahren!... Nimm Dich in Acht!«

Die polternde Stimme des Verwalters reizte die Hunde zu neuem Gekläff.

Findling fürchtete immer nur, daß Birk aus dem Gebüsch vorbrechen und ihm zu Hilfe kommen könnte, was der Sachlage eine noch üblere Wendung gegeben hätte.

Auf das immer tollere Bellen der Hunde hin erschien jetzt Graf Ashton auf dem Hofe und kam auf das Gitterthor zu.[234]

»Was giebt's denn hier? fragte er.

– O, einen Jungen, der betteln will....

– Ich bin kein Bettler! wiederholte Findling.

– Aber ein frecher kleiner Landstreicher...

– Pack' Dich fort, Schlingel, oder ich stehe nicht mehr für meine Hunde ein!« rief der Graf Ashton.

Die Thiere. die der junge Piborne jetzt noch zu bändigen versuchte, wurden in der That immer wüthender und bedrohlicher.

Da zeigte sich auf der Freitreppe vor dem Mittelportale des Schlosses der Lord Piborne selbst in all seiner Majestät, und als er sah, daß Scarlett noch immer nicht nach Kanturk weggeritten war, stieg er gemessenen Schrittes die Stufen hinab, ging steif über den Ehrenhof und erkundigte sich nach der Ursache der Verzögerung und des jetzigen Lärmens.

»Wollen Eure Herrlichkeit entschuldigen, stammelte der Verwalter, es ist der Bursche hier, ein Bettelbube....

– Ich erkläre Ihnen nun zum dritten Male, daß ich kein Bettler bin, fiel ihm Findling ins Wort.

– Was will dieser Knabe also? fragte der Marquis.

– Er will nur mit Euer Herrlichkeit sprechen.«

Lord Piborne trat einen Schritt zurück, nahm eine möglichst vornehme Haltung an und richtete sich dabei in seiner ganzen Länge auf.

»Was haben Sie mir zu sagen?« fragte er.

Er duzte ihn nicht, obwohl er noch ein Kind vor sich hatte. Als Ausfluß höchster Vornehmthuerei redete der Marquis überhaupt niemand mit »Du« an, weder die Marquise, noch den Grafen Ashton – wahrscheinlich vor fünfzig Jahren nicht einmal seine eigene Amme.

»Sprechen Sie! setzte er hinzu.

– Der Herr Marquis hatte sich gestern nach Newmarket begeben, nicht wahr?...

– Ja.

– Gestern Nachmittag?...

– Ja wohl.«

Scarlett wußte nicht, wie ihm geschah. Hier fragte der Gassenjunge, und Seine Herrlichkeit geruhte zu antworten!

»Herr Marquis, fuhr das Kind fort, haben Sie da nicht ein Portefeuille verloren?[235]

– Ganz recht; und dieses Portefeuille...

– Hab' ich auf der Landstraße nach Newmarket gefunden und komme, es Ihnen abzuliefern.«

Damit hielt er dem Lord Piborne das Portefeuille hin, dessen Verschwinden so viele Unruhe verursacht, so vielfachen Verdacht erweckt und in Trelingarcastle so viele Unschuldige compromittiert hatte. Die Schuld daran lag also, mochte sich seine Eigenliebe dadurch auch schwer verletzt fühlen, an Seiner Herrlichkeit selbst, jede Anklage gegen die Dienerschaft wurde zwecklos und es erschien jetzt – zu seinem lebhaften Bedauern – unnöthig, daß der Verwalter von Kanturk polizeiliche Hilfe herholte.

Lord Piborne ergriff das Portefeuille, das im Innern seinen Namen und seine Adresse trug, und überzeugte sich, daß es die Schriftstücke und die Banknote noch enthielt.

»Sie also haben dieses Portefeuille gefunden? fragte er Findling.

– Gewiß, Herr Marquis.

– Und haben es natürlich geöffnet?

– Das mußt' ich wohl, um zu erfahren, wem es gehörte.

– Sie haben darin eine Banknote gefunden... deren Werth war Ihnen aber wohl unbekannt?

– Das nicht; es war eine Banknote von hundert Pfund, erklärte Findling ohne Zögern.

– Hundert Pfund... das ist so viel wie?...

– Zweitausend Schillinge.

– Ah, das wissen Sie also, und trotzdem fiel es Ihnen nicht ein, sich das Geld anzueignen?

– Ich bin kein Dieb, Herr Marquis, erwiderte Findling stolz, so wenig wie ein Bettler!«

Lord Piborne hatte das Portefeuille wieder geschlossen, die Banknote daraus aber in seine Tasche gesteckt. Der Knabe verneigte sich grüßend und that schon einige Schritte rückwärts, als Seine Herrlichkeit ihn – doch ohne ein Zeichen, daß die ehrliche Handlungsweise seine Anerkennung fand – noch einmal ansprach.

»Welche Belohnung verlangen Sie für die Wiederbeschaffung dieses Portefeuilles?

– Ah, was da... ein paar Schillinge... meinte Graf Ashton.[236]

– Oder einige Pence, das ist für den Jungen übrig genug!« beeilte sich Scarlett hinzuzufügen.

Findling empörte es, daß man hier mit ihm handelte, wo er doch gar nichts verlangt hatte, und er erklärte deshalb:

»Mir kommen dafür weder Pence noch Schillinge zu.«

Dabei wandte er sich nach der Landstraße.

»Warten Sie, rief Lord Piborne. Wie alt sind Sie?

– Bald zehnundeinhalb Jahre.

– Und Ihr Vater... Ihre Mutter?...

– Ich habe keinen Vater und keine Mutter.

– Ihre sonstigen Angehörigen?

– Ich habe auch keine solchen.

– Woher kommen Sie überhaupt?

– Von der Farm von Kerwan, wo ich vier Jahre gewesen bin und die ich vor vier Monaten verlassen mußte.

– Weshalb denn?

– Weil der Farmer, der mich aufgenommen hatte, von den Gerichten vertrieben wurde.

– Kerwan... Kerwan... murmelte Lord Piborne. Ich glaube, das gehört ja zu dem Grundbesitze von Rockingham?

– Eure Herrlichkeit täuschen sich nicht, sagte der Verwalter.

– Und was denken Sie nun zu beginnen? wendete sich der Marquis wieder an Findling.

– Nun, ich kehre nach Newmarket zurück, wo ich mir bis jetzt mein Brod verdiente.

– Wollen Sie hier im Schlosse bleiben, so können Sie wohl in einer oder der andern Weise Beschäftigung finden.«

Das war gewiß ein verlockendes Angebot. Vom Herzen war es dem hochmüthigen, gefühllosen Lord Piborne aber keineswegs eingegeben, und von einem Lächeln oder einer Freundlichkeit war es auch nicht begleitet.

Findling empfand das ganz gut, und statt schnell zu antworten, begann er erst zu überlegen. Was er bisher vom Schlosse Trelingar gesehen hatte, gab ihm zu denken.

Er fühlte sich nicht angezogen von Seiner Herrlichkeit und von dessen Sohne Ashton, der recht spöttische, widerwärtige Züge besaß, und noch viel[237] weniger von dem Verwalter Scarlett, dessen brutaler Empfang ihn empört hatte. Dabei gedachte er auch noch Birks. Wenn man ihm Aufnahme bot, so würde man Birk diese doch verweigern, und zu einer Trennung von seinem Genossen in guten und bösen Tagen könnte er sich doch niemals entschließen.

Immerhin mußte der Knabe, dessen Lebensunterhalt bis heute doch keineswegs gesichert war, dieses Anerbieten als einen Wink der Vorsehung betrachten. Die Vernunft rieth ihm, darauf einzugehen, da er es vielleicht zu bereuen gehabt hätte, wenn er nach Newmarket zurückkehrte. Nur der Hund bildete ein Hinderniß, doch davon zu reden, würde es ja eine Gelegenheit geben. Vielleicht nahm man ihn, und wäre es nur als Wachthund, schließlich dennoch mit auf. Von einer Stellung im Schlosse mußte er ja Vortheil haben, und bei der nöthigen Sparsamkeit...

»Na... bist Du mit Dir im Reinen? brummte der Verwalter, der ihn lieber hätte zum Teufel gehen sehen.

– Was werd' ich verdienen? fragte Findling, den sein praktischer Sinn nie verließ, ohne alle Schüchternheit.

– Zwei Pfund Sterling monatlich,« erklärte Lord Piborne.

Zwei Pfund im Monat!... Das erschien ihm ungeheuer viel, und in der That konnte ein Kind seines Alters so viel ja kaum erwarten.

»Ich danke Eurer Herrlichkeit, sagte er. Ich nehme das Anerbieten an und werde mich bemühen, Sie nach Kräften zufriedenzustellen.«

Mit Zustimmung der Marquise noch desselben Tages unter die Schloßbediensteten aufgenommen, sah sich Findling eine Woche später schon zu der verantwortungsreichen Stellung eines Grooms des Erben der Piborne's erhoben.

Den armen Birk hatte sein Herr während der sieben Tage noch nicht am Hofe – natürlich des Schlosses – vorgestellt, denn er fürchtete für ihn einen ungnädigen Empfang.

Der Graf Ashton besaß nämlich drei Hunde, die er fast so sehr wie sich selbst liebte. In ihrer Gesellschaft zu leben, entsprach seinem Geschmacke und genügte seiner Intelligenz. Es waren Racethiere, deren Stammbaum – wenigstens – bis zur normännischen Eroberung zurückreichte, drei schöne, aber sehr bissige schottische Pointer (Wachtelhunde). Kam ein andrer Hund am Gitterthore vorbei, so mußte er sich schnell davon machen, um nicht von den wüthenden Thieren zerfleischt zu werden, die der Piqueur (Rüdenmeister) zu solchen Großthaten aufzuhetzen liebte. Birk begnügte sich auch, in der Nähe der Wirthschaftsgebäude[238] umherzustreifen und wartete ruhig, bis der neue Groom des Abends kam und ihm etwas Futter zusteckte, das der Findling sich an der eignen Nahrung absparte. Die Folge davon war, daß beide magrer wurden. Ei was, es würden ja auch wieder bessere Tage kommen, wo sie sich auf Vorrath mästen konnten.

Jetzt begann für den Findling, dessen traurige Geschichte wir erzählen, ein Leben, das sich von dem bisher geführten wesentlich unterschied. Ohne von den bei der Hard und in der Ragged-School verbrachten Jahren zu sprechen, zeigte seine Lage. nur im Vergleich zu der in der Farm von Kerwan. doch eine große Veränderung.

Bei der Familie Mac Carthy zählte er zum Hause, unbelastet von dem Joch der Knechtschaft. Hier im Schlosse galt er für nichts. Der Marquis betrachtete ihn als Almosenbecken, in das er monatlich zwei Pfund Sterling legte, die Marquise als ein kleines Vorzimmerhündchen, und der Graf sah ihn für ein Spielzeug an, das man ihm, sogar ohne die Ermahnung, es nicht zu zerbrechen, geschenkt hatte. Scarlett endlich hatte sich gelobt, ihm durch fortwährende Chicanen seine Abneigung fühlen zu lassen, und dazu fehlte es nicht an Gelegenheit. Selbst die Diener betrachteten das heimatlose Kind, das Lord Piborne in das Schloß Trelingar aufgenommen hatte, für tief unter ihnen stehend. Leute von gutem Herkommen haben einmal ihre Einbildung, ihren Stolz einer lange eingenommenen Stellung, und es paßt ihnen nicht, mit solchen Gestalten von der Landstraße her in einen Topf geworfen zu werden. Bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten ließen sie das Findling auch fühlen, wo es nur anging. Dieser ließ darum keine Klage laut werden; er antwortete nicht und that gewissenhaft seine Pflicht, wenn er auch nach Ausführung der letzten Befehle seines Herren mit großer Erleichterung nach seinem besondern Kämmerchen hinausging.

Inmitten so vielen Uebelwollens fand er doch eine Frau, die sich seiner annahm. Es war das nur eine Wäscherin, namens Kat, die, jetzt im Alter von fünfzig Jahren, von jeher auf der Piborne'schen Domäne gelebt hatte und hier voraussichtlich ihr Leben beschloß, wenn sie der Verwalter Scarlett nicht fortjagte – was er übrigens schon versucht hatte, da sie ihm etwas verhaßt war.


Wie er sich an das Wagenverdeck klammerte. (S. 242.)
Wie er sich an das Wagenverdeck klammerte. (S. 242.)

Ein Vetter des Marquis, Sir Edward Kinney, offenbar ein sehr geistreicher Herr, behauptete, daß die Kat schon zur Zeit Wilhelms des Eroberers am Waschzuber gestanden habe. Die Frau ließ sich jedoch durch nichts beirren. Sie[239] besaß ein vortreffliches Herz, und Findling schätzte sich glücklich, bei ihr Trost für manches Ungemach zu finden.


Er begab sich zu dem Perronbuchhändler. (S. 245.)
Er begab sich zu dem Perronbuchhändler. (S. 245.)

Ost plauderten beide, wenn der Graf Ashton einmal allein vom Hause weg war. Und wenn der Groom von dem Verwalter oder einem andern Diener angelassen worden war, dann ermahnte die Kat den Knaben:

»Nur Geduld, mein Sohn! Kümmere Dich nicht um ihre Redereien. Der beste unter ihnen ist nicht gar viel werth, ich wüßte wenigstens keinen, der das Portefeuille zurückgegeben hätte!«[240]

Vielleicht hatte die Wäscherin damit Recht, denn die gewissenlosen Leute erklärten Findling wegen seiner Ehrlichkeit nur für einen Einfaltspinsel.

Der Groom war dem Grafen Ashton also gewissermaßen als Spielzeug geschenkt worden, und wie ein launenhaftes, eigenwilliges Kind amüsierte sich der junge Graf auch mit ihm. Meist ertheilte er ihm ganz sinnlose Befehle und widerrief diese dann ohne Grund. Zehnmal in der Stunde klingelte er ihn herbei, um das oder jenes in Ordnung oder in Unordnung zu bringen. Er hieß ihn die große oder die kleine Livrée anlegen, mit hunderten von Knöpfen, wie die[241] Knospen an einem Rosenstock im Frühsommer. Ihn so zwanzig Schritte hinter sich her marschieren zu lassen, wobei die Hände auf der Naht der Beinkleider liegen mußten, und nicht nur in den Straßen der Ortschaft, sondern auch in den Alleen des Parks, das war für den eitlen Grafen das allergrößte Vergnügen. Findling unterwarf sich allen Launen, er gehorchte, wie eine Maschine ihrem Führer. Man hätte ihn nur sehen sollen, wie er mit fest gekreuzten Armen vor dem Pferde seines Herrn wartete, bis dieser in den Sattel stieg, oder wie er hinter dem in tollem Galopp hinsausenden Cabriolet sich an das zusammengeschlagene Wagenverdeck klammerte, wenn sein Herr damit über Stock und Stein jagte, oder gelegentlich einen Menschen umriß, wofür das Gefährt des Grafen Ashton in Kanturk schon bekannt war.

Abgesehen davon, daß er sich allen Thor- und Tollheiten seines Herrn zu fügen hatte, war Findling nicht eigentlich unglücklich. Das ging voraussichtlich so lange, wie jenem das neue Spielzeug gefiel. Bei dem unberechenbaren jungen Gentleman war freilich jede Ueberraschung möglich. Kinder bekommen ihr Spielzeug schließlich zum Ueberdruß und werfen es weg, wenn sie's nicht gar zerbrechen. Findling war freilich fest entschlossen, dergleichen von sich abzuwenden.

Seine Stellung im Trelingar-castle betrachtete er nur als Nothnagel und lebte der Hoffnung, daß sich ihm schon noch eine bessere bieten werde. Sein kindlicher Ehrgeiz strebte höher hinauf, als nach den Obliegenheiten eines Grooms. Die Verneinung seines eignen Ich gegenüber diesem Erben der Piborne's, dem er sich überlegen fühlte, erniedrigte ihn. Ja... überlegen, obwohl der Graf Ashton noch immer Unterricht in Latein, Geschichte u. s. w. genoß und seine Lehrer sich redlich bemühten, ihm wenigstens einige Kenntnisse einzutrichtern. Sein Latein blieb aber doch Hundelatein« (die englische Bezeichnung für unser »Küchenlatein«) und seine Geschichtskunde beschränkte sich auf das, was er im »goldenen Buche« der Pferdegeschlechter gelesen hatte.

Kannte Findling nun auch diese schönen Dinge nicht, so verstand er es doch mit zehn Jahren, zu denken, zu überlegen. Er schätzte jenen Sohn der Familie nach seinem richtigen Werthe und erröthete manchmal über die Dienste, die er ihm leisten mußte. Wie bedauernd erinnerte er sich dann der stärkenden, heilsamen Beschäftigung auf der Farm, seines Lebens inmitten der Mac Carthy's, von denen er noch immer keine Kunde erhalten hatte. Die Wäscherin im Schlosse war und blieb das einzige Wesen, dem er sich anschließen konnte.[242]

Uebrigens bot sich bald Gelegenheit, die Freundschaft der guten Frau zu erproben.

Hier sei noch angeführt, daß der Proceß mit dem Kirchspiele von Kanturk zu Gunsten der Familie Piborne ausgefallen war, doch nur, weil diese die von Findling abgelieferten Documente dabei in die Wagschale zu werfen vermochte. Was der Knabe gethan, war jetzt freilich vergessen, warum also hätte ihm dafür ein besondrer Dank gebührt?

Mai, Juni und Juli waren vorüber. Birk hatte, so gut es anging, sein Futter erhalten. Das Thier schien zu verstehen, daß es sich vorsichtig verhalten mußte, um in der Umgebung des Schloßparks unentdeckt zu bleiben. Findling hatte schon dreimal seine zwei Pfund Sterling eingeheimst, die in seiner Agende auf der Einnahmeseite gebucht standen, während die Ausgabenseite noch leer geblieben war.

Im Laufe dieser drei Monate hatten Lord und Lady Piborne nichts anderes zu thun, als Besuche zu empfangen und zu erwidern, und allerlei Höflichkeiten mit den Schloßbesitzern der Nachbarschaft auszutauschen. Hierbei drehte sich die Unterhaltung natürlich meist um die Lage der irischen Landlords. Da fielen recht grimmige Worte über die Ansprüche der Pächter und der Landliga, über den dreiundsiebzigjährigen Gladstone und über Parnell, den man an den höchsten Galgen wünschte. So verlief ein Theil des Sommers. Dann pflegten Lord und Lady Piborne nebst ihrem Sohne gewöhnlich eine mehrwöchige Reise, meist nach den schottischen Besitzthümern der Marquise, zu unternehmen. Dieses Jahr sollte sich der Ausflug nach einer andern Seite lenken, die von der großen Welt bevorzugt und von den Trelingarer Herrschaften noch nicht besucht worden war. Es handelte sich nämlich um die herrliche Gegend der Seen von Killarney, wohin am 3. August aufgebrochen werden sollte.

Findlings Hoffnung, infolge dessen eine Zeit lang dienstfrei zu werden, ging nicht in Erfüllung. Da Lady Piborne ihre Kammerfrau Marion und der Marquis seinen Leibdiener John mitnahm, mußte der Graf Ashton doch auch seinen Groom bei sich haben.

Dieser kam dadurch in nicht geringe Verlegenheit wegen Birks, da er nicht wußte, wer inzwischen für den Hund sorgen sollte.

Findling beschloß deshalb, Kat ins Vertrauen zu ziehen, die es gern übernahm, den Liebling des Knaben zu pflegen, ohne daß jemand davon etwas erführe.[243]

»Beruhige Dich, mein Sohn, erklärte die gute Frau. Ich liebe Deinen Hund schon ebenso wie Dich, und er wird in Deiner Abwesenheit keine Noth leiden!«

Findling umarmte die freundliche Kat für diese Zusage, und nachdem er sie am Abend vor der Abreise noch mit Birk bekannt gemacht hatte, nahm er von dem treuen Thiere Abschied.

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 232-244.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon