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[5] Am 17. März im drittletzten Jahre des vorigen Jahrhunderts gab der Briefträger bei seinem Dienstgange durch die Jacques Cartierstraße in Montreal in Nr. 29 einen an Herrn Summy Skim adressierten Brief ab.
Der Inhalt des Schreibens lautete:
»Der Notar Snubbin empfiehlt sich Herrn Summy Skim bestens und bittet ihn, wegen einer ihn betreffenden Angelegenheit möglichst bald in seinem Bureau vorzusprechen.«
Warum mochte der Notar wohl Herrn Summy Skim zu sehen wünschen? Wie jedermann in Montreal, kannte auch dieser den Notar Snubbin als einen vortrefflichen Mann, einen zuverlässigen und klugen Berater, der, ein Kanadier[5] von Geburt, das am meisten in Anspruch genommene juristische Bureau der Stadt leitete, dasselbe, dessen Vorsteher vor sechzig Jahren der berühmte Notar Nick – eigentlich Nicolas Sagamore mit Namen – gewesen war, jener huronische Notar, der sich voller patriotischen Eifers der traurigen Angelegenheit eines gewissen Morgaz angenommen hatte, die gegen 1837 ein so weitreichendes Aufsehen erregte.1
Summy Skim erstaunte anfänglich ein wenig, als er das Schreiben des Notars Snubbin gelesen hatte, er machte sich aber sofort bereit, der Aufforderung zu folgen. Kaum eine halbe Stunde später hatte er den Bon-Secoursplatz überschritten und wurde in das Sprechzimmer des Notars eingeführt.
»Ah, guten Tag, Herr Skim,« sagte dieser aufstehend, »es ist mir eine Ehre, Sie zu begrüßen....
– Bitte.... ganz auf meiner Seite, antwortete Summy Skim, während er in der Nähe des Schreibtisches Platz nahm.
– Sie sind also der Erste, der gekommen ist, mein Herr Skim....
– Der Erste, sagen Sie, Herr Notar? Bin ich nicht der einzige, den Sie in Ihr Bureau bestellt haben?
– Ihr Vetter, der Herr Ben Raddle, antwortete der Rechtsgelehrte, hat einen mit dem Ihrigen gleichlautenden Brief erhalten.
– Dann darf es aber nicht ›hat‹, sondern es muß heißen ›wird ihn erhalten‹, erklärte Summy Skim. Ben Raddle befindet sich augenblicklich nicht in Montreal.
– Wird er denn bald zurückkehren? fragte Snubbin.
– Nach drei oder vier Tagen.
– Sapperment, das bedaure ich!
– Haben Sie uns denn eine so dringliche Mitteilung zu machen?
– In gewisser Beziehung, ja, antwortete der Notar. Doch.... nun ja.... ich werde Sie darüber aufklären und Sie teilen Herrn Ben Raddle nach seiner Heimkehr gefälligst mit, was ich Ihnen hier amtlich zu eröffnen habe.«
Der Notar setzte die Brille auf, durchblätterte einige auf dem Tische liegende Papiere und holte einen Brief daraus hervor. Ehe er ihn vorlas, stellte er aber noch die Frage:[6]
»Herr Raddle und Sie, Herr Skim, sind doch die Neffen des Herrn Josias Lacoste?
– Gewiß. Meine Mutter und die Ben Raddles waren dessen Schwestern, doch seit ihrem Ableben – es mag sieben bis acht Jahre her sein – waren alle Beziehungen zu unserm Onkel so gut wie abgebrochen. Damals kamen Vermögensfragen ins Spiel, er selbst hatte Kanada verlassen und war nach Europa gereist. Kurz, seit jener Zeit haben wir keine Nachricht von ihm oder über ihn erhalten und wissen deshalb auch nicht, was aus unserm Onkel geworden ist.
– Er ist gestorben, erklärte Snubbin. Ich habe soeben die Mitteilung über sein am 16. Februar erfolgtes Ableben erhalten.«
Obwohl alle Verbindungen zwischen Josias Lacoste und seinen nächsten Verwandten seit langer Zeit unterbrochen gewesen waren, fühlte sich Summy Skim von dieser Nachricht doch schmerzlich berührt. Sein Vetter Ben Raddle und er hatten weder Vater noch Mutter mehr; beide waren, als einzige Söhne, auf diesen leiblichen Verwandten beschränkt und Summy Skim war überzeugt, daß außer Ben Raddle und ihm von seiner nähern Familie nun keiner mehr übrig sei. Gewiß hatten sie wiederholt zu erfahren gesucht, was aus ihrem Onkel geworden sein möchte, da sie es immerhin bedauerten, daß er jedes Band zwischen sich und den beiden Neffen zerschnitten hatte. Sie hofften auch immer, ihn noch einmal wiederzusehen, und nun hatte der Tod diese Hoffnung endgültig vernichtet.
Der von Natur wenig mitteilsame Josias Lacoste hatte immer einen Hang zu Abenteuerlichkeiten gezeigt. Aus Kanada war er schon vor zwanzig Jahren fortgegangen, um sein Glück in fremder Welt zu suchen. Ein Hagestolz, besaß er ein bescheidnes väterliches Erbteil, das er durch Spekulation zu vermehren hoffte. Ob ihm das wohl gelungen war? Hatte er sich nicht vielmehr ruiniert bei seiner bekannten Neigung, leicht alles auf eine Karte zu setzen? Es war doch sehr fraglich, ob da seinen Neffen als einzigen Erbberechtigten auch nur noch Brocken von seinem einstigen Vermögen zufielen.
Im Grunde hatte Summy Skim nie an dergleichen gedacht und er schien auch jetzt nicht mehr daran zu denken, wo er nur bekümmert war, den letzten Verwandten verloren zu haben.
Snubbin störte seinen Klienten nicht, sondern wartete, daß dieser Fragen an ihn stellen sollte, die er zu beantworten bereit war.
»Unser Onkel ist also am 16. Februar gestorben, Herr Notar? fragte dieser.[7]
– Wie Sie sagen, Herr Skim, am 16. Februar.
– Das wäre demnach schon vor neunundzwanzig Tagen?
– Ganz recht. Es hat so langer Zeit bedurft, ehe die Meldung mich erreichte.
– Unser Onkel weilte damals also wohl in Europa.... tief drin in irgend einer entlegnen Gegend?
– Nein.... das nicht,« antwortete der Notar.
Er wies dabei gleich einen Briefumschlag vor, dessen Marken das Wappen Kanadas zeigten.
»Es handelt sich um einen Onkel aus Amerika, einen richtigen Onkel aus Amerika, wie die Europäer sagen, dessen Erben Sie beide sind. Nun gilt es nur noch zu wissen, ob dieser Onkel aus Amerika auch die klassischen Eigenschaften hatte, die man bei dieser Bezeichnung voraussetzt!
– Er befand sich also, fuhr Summy Skim fort, hier in Kanada, ohne daß wir etwas davon wußten?
– Jawohl, in Kanada, doch im entlegensten Teile der Dominion2, fast an der Grenze, die unser Land von dem amerikanischen Alaska scheidet und mit der die Verbindung ebenso langsam wie beschwerlich ist.
– Sie sprechen wohl von Klondike, Herr Notar?
– Ja, von Klondike, wo Ihr Onkel sich etwa seit zehn Monaten niedergelassen hatte.[8]
– Seit zehn Monaten! wiederholte Summy Skim. Und als er damals auf dem Wege nach dem Minenbezirke durch Amerika reiste, ist es ihm nicht eingefallen, einmal wieder nach Montreal zu kommen, um seinen Neffen die Hand zu drücken!
– Ja, was glauben Sie? sagte dazu der Notar. Herr Josias Lacoste hatte es, wie tausende seinesgleichen, überaus eilig, in Klondike einzutreffen, ich möchte sagen, wie tausende von Kranken, die von dem Goldfieber ergriffen waren, das schon unzählige Opfer gefordert hat und noch weiter fordern wird. Aus allen Winkeln der Welt wälzt sich ja jetzt ein reiner Strom nach den Placers (den goldführenden Plätzen). Nach Australien kam Kalifornien, nach diesem das Transvaal an die Reihe; dem Transvaal folgte Klondike und nach Klondike werden es andre goldhaltige Länder sein und so bleibt es voraussichtlich bis zum Tage des Gerichtes.... ich meine natürlich des Jüngsten Gerichtes!«
Snubbin teilte Summy Skim nun alles mit, was er wußte.
Gegen Anfang des Jahres 1897 war Josias Lacoste mit der vollständigen Ausrüstung des Prospektors nach Dawson City, der Hauptstadt von Klondike, ge kommen. Seit Juli 1896 hatte sich nach der Entdeckung von Gold im Gold Bottom, einem Nebenflusse des Hunter, die Aufmerksamkeit jenen Gebieten zugelenkt. Im folgenden Jahre erschien auch Josias Lacoste an den Lagerstätten, wo schon eine Menge Goldgräber zusammengeströmt waren, die das letzte ihnen übrig gebliebne Geld für die Erwerbung eines Claims – einer beschränkten,[9] ausschließlich dem Besitzer zur Ausbeutung überlassenen Stelle – zu opfern bereit waren. Einige Tage nach seiner Ankunft wurde er schon Eigentümer des Claims Nummer 129, der am Forty Miles Creek, einem Nebenarme der großen, Kanada und Alaska verbindenden Wasserader, des Yukonstromes, lag.
Snubbin fügte dem weiter hinzu:
»Aus dem mir zugegangnen Schreiben des Gouverneurs von Klondike habe ich übrigens nicht den Eindruck gewonnen, daß dieser Claim bisher die von Herrn Josias Lacoste erhoffte Ausbeute geliefert hätte. Immerhin scheint es nicht so, als ob er schon erschöpft wäre, und schließlich hätte Ihr Onkel davon doch noch den erwarteten Gewinn gehabt, wenn ihn nicht der Tod überrascht hätte.
– Vor Armut und Entbehrung ist unser Onkel also nicht gestorben? fragte Summy Skim.
– O nein, der Brief erwähnt wenigstens nichts davon, daß er so weit heruntergekommen wäre. Er ist dem unter dem dortigen Klima so gefährlichen Typhus erlegen, dem ja so viele zum Opfer fallen. Als bei ihm die Vorzeichen der Krankheit auftraten, hat Herr Lacoste seinen Claim verlassen; gestorben ist er dann in Dawson City. Da man wußte, daß er aus Montreal stammte, hat der Gouverneur mich aufgefordert, seine Familie auszukundschaften und sie von seinem Heimgange zu unterrichten. Herr Ben Raddle und Sie, Herr Skim, sind in Montreal zu bekannt, und ich füge hinzu, zu ehrenvoll bekannt, als daß in mir hätte ein Zweifel aufkommen können, an wen ich mich zu richten hätte, und so habe ich Sie beide ersucht, in meinem Bureau von den Ihnen an dem Nachlaß des Verschiedenen zustehenden Rechten Kenntnis zu nehmen!«
Von zustehenden Rechten! Über Summy Skims Züge flog ein Lächeln melancholischer Ironie. Er vergegenwärtigte sich das Leben Josias Lacostes bei einem so schwierigen und mühsamen Unternehmen. Sollte er nicht seine letzten Hilfsmittel daran gegeben haben, diesen Claim und obendrein vielleicht, wie so viele unkluge Prospektoren, zu übertriebenem Preise zu kaufen? War er nicht gar verschuldet, zahlungsunfähig verstorben? Solchen Gedanken nachhängend, sagte Summy Skim zu dem Notar:
»Lieber Herr Snubbin, es wäre ja möglich, daß unser Onkel in mißlichen Verhältnissen die Augen geschlossen hätte. In diesem Falle – ich verbürge mich auch für Vetter Raddle, der keiner andern Ansicht sein wird – werden wir keinen Flecken auf dem Namen unsrer Mutter haften lassen. Sind deshalb[10] Opfer zu bringen.... wir werden nicht zaudern. Darum erscheint es mir geboten, baldigst ein Verzeichnis des Nachlasses aufzustellen....
– Da muß ich Sie unterbrechen, verehrter Herr Skim, fiel ihm der Notar ins Wort. Soweit ich Sie kenne, verwundern mich solche Gefühle bei Ihnen freilich nicht. Ich glaube aber auch nicht, daß es solcher von Ihnen angedeuteter Opfer bedürfen werde. Obwohl Ihr Onkel wahrscheinlich ohne Barvermögen gestorben ist, wollen wir nicht vergessen, daß er Eigentümer eines Claims am Forty Miles Creek war, und dieses Besitztum hat einen Wert, der jedenfalls genügt, alle Forderungen an seinen Nachlaß, wenn solche vorhanden wären, zu decken. Dieses Besitztum ist jetzt auf Sie und Ihren Vetter Ben Raddle zu gleichen Teilen übergegangen, da Sie die einzigen berechtigten Erben des Herrn Josias Lacoste sind.«
Snubbin setzte jedoch hinzu, es empfähle sich auf jeden Fall, mit einiger Vorsicht zu handeln. Das Erbe dürfe nur nach Regulierung und Kenntnisnahme des Nachlasses angetreten werden. Es sollten deshalb die Aktiva und die Passiva zusammengestellt werden und dann erst, wenn sie einen Überblick über die Sachlage hätten, brauchten sich die Erben zu entscheiden.
»Ich werde mir das Nötige angelegen sein lassen, Herr Skim, schloß er, und werde die zuverlässigsten Erkundigungen einziehen. – Doch, mein Gott, wer weiß?.... Ein Claim ist doch ein Claim, selbst wenn er bisher so gut wie nichts ergeben hat. Vielleicht bedarf es nur eines glücklichen Hiebes mit der Spitzaxt, die Tasche zum Überlaufen zu füllen, wie die Prospektoren sagen.
– Ganz recht, Herr Notar, antwortete Summy Skim, und wenn der Claim unsers Onkels einigen Wert hat, werden wir ihn zum besten Preise an den Mann zu bringen suchen.
– Natürlich, stimmte ihm der Notar bei, und ich hoffe, daß Sie darin mit Ihrem Herrn Vetter übereinstimmen.
– Darauf rechne ich von vornherein, erklärte Summy Skim. Ich kann mir nicht denken, daß Ben Raddle je zu der Idee kommen könnte, ihn selbst ausbeuten zu wollen.
– Ja, wer weiß das, mein Herr Skim? Herr Ben Raddle ist Ingenieur und ein unternehmender, kühner Mann. Er könnte sich doch versucht fühlen.... und wenn er nun zufällig hörte, daß der Claim Ihres Onkels nahe einer reichen Ader liege....[11]
– Ich stehe dafür ein, Herr Snubbin, daß er sich gar nicht die Mühe nehmen wird, ihn zu besichtigen. Übrigens muß er binnen zwei bis drei Tagen zurück sein. Wir werden die Sache besprechen und Sie dann ersuchen, das Nötige zu veranlassen, entweder bezüglich des Verkaufs des Claims am Forty Miles Creek oder, was ich für wahrscheinlicher halte, ob wir Veranlassung haben, für den ehrlichen Namen unsers verstorbenen Onkels einzutreten.«
Mit dieser pessimistischen Schlußfolgerung verließ Summy Skim das Bureau des Notars, wobei er seinen nächsten Besuch nach zwei oder drei Tagen in Aussicht stellte, und kehrte dann nach dem Hause in der Jacques Cartierstraße zurück, das er und sein Vetter gemeinschaftlich bewohnten.
Summy Skim war der Abkömmling eines angelsächsischen Vaters und einer franko-kanadischen Mutter. Seine Familie reichte nachweisbar bis zur Zeit der Eroberung (1759) zurück. In Unterkanada im Bezirke Montreal ansässig, besaß sie hier große, einträgliche Ländereien, Wälder, Felder und Wiesen, die den größten Teil des Familienvermögens bildeten.
Zweiunddreißig Jahre alt, etwas über mittelgroß, von angenehmem Gesicht und der kräftigen Konstitution des die freie Luft gewohnten Mannes, mit seinen blauen Augen und dem blonden Barte, erschien Summy Skim als das ebenso ausgesprochene wie sympathische Musterbild eines Franko-Kanadiers, Eigenschaften, die er von der Mutter ererbt hatte. Sorg los und ohne ehrgeizige Ansprüche, lebte er von dem Ertrage seines Besitztums, ein »Gentleman-Farmer« dieses von der Natur bevorzugten Bezirkes der Dominion. Ohne gerade beträchtlich zu sein, gestattete ihm sein Vermögen, seinen bescheidnen Neigungen zu huldigen, und nie hatte er das Verlangen gespürt, sein Vermögen zu vermehren. Ein großer Freund des Fischfangs, stand ihm das ganze hydrographische Netz der Nebenarme und Zuflüsse des St. Lorenzo zur Verfügung, abgesehen von den zahlreichen Binnenseen, die sich im nördlicheren Amerika finden. Als eifriger Jäger konnte er ferner seiner Liebhaberei unbeschränkt auf den weiten Ebenen und in den wildreichen Waldungen nachgehen, die den größten Teil dieser Gegend Kanadas bedecken.
Das nicht luxuriöse, aber komfortable Haus, das die beiden Vettern besaßen, lag in einem der ruhigsten Stadtviertel Montreals, außerhalb des Getriebes der Industrie und des Handels. Hier verbrachten beide, immer sehnsüchtig die Wiederkehr der schönen Jahreszeit erwartend, die in Kanada so rauhe Winterszeit, obwohl dessen Breitenlage der des mittleren Europa entspricht.[12]
Montreal, seit 1843 der Sitz der Regierung, hätte Summy Skim wohl Gelegenheit bieten können, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu betätigen. Er war dazu aber von zu unabhängigem Charakter, hielt sich von den offiziellen Kreisen fern und verkehrte bei seinem Widerwillen gegen alle Politik auch niemals in der Gesellschaft hochstehender Beamten. Im übrigen fügte er sich gern der mehr scheinbaren als tatsächlichen Oberherrschaft Großbritanniens und hatte sich niemals an einer der Parteigruppen beteiligt, die eine Spaltung in die Dominion hineintragen. Kurz, er war ein Philosoph, der nach eignem Geschmacke zu leben vorzog und keinen Ehrgeiz irgendwelcher Art kannte.
Seiner Meinung nach mußte jede Veränderung seiner Lebensbedingungen belästigend und auf sein Wohlbefinden störend wirken.
Selbstverständlich hatte dieser Philosoph niemals an eine Eheschließung gedacht und dachte auch weiter nicht daran, obgleich schon zweiunddreißig Sommer über seinem Haupte dahingegangen waren. Ja, wäre ihm seine Mutter nicht entrissen – man weiß doch, wie es die Frauen lieben, kleine Enkel um sich zu sehen – hätte er vielleicht die nötige Anstrengung gewagt, sie mit einer Schwiegertochter zu beschenken. In diesem Falle hätte die betreffende Frau zweifellos die Neigungen Summy Skims geteilt. Unter den zahlreichen Familien Kanadas, die oft über zwei Dutzend Kinder zählen, hätte er, ob in der Stadt oder auf dem Lande, jedenfalls eine ihm passende einfache und gesunde Evastochter gefunden. Frau Skim war aber seit fünf Jahren – drei Jahre nach ihrem Gatten – verstorben und von da an hätte man unbesorgt darauf wetten können, daß ihren Sohn niemals Gelüste nach einer Ehe ankommen würden.
Sobald sich die Temperatur des rauhen Klimas von Montreal milderte und die frühzeitiger aufgehende Sonne die Rückkehr der schönen Jahreszeit verkündigte, trieb es Summy Skim, das Haus in der Jacques Cartierstraße zu verlassen. Er begab sich dann nach seiner zwanzig englische Meilen nördlich von Montreal gelegnen Farm Green-Valley am linken Ufer des St. Lorenzo. Hier nahm er dann sein Landleben wieder auf, das von der Unbill eines Winters unterbrochen gewesen war, der alle Wasserläufe in Eisesfesseln schmiedet und alle Ebenen mit einer dicken Schneedecke verhüllt. Dort befand er sich unter seinen Arbeitern, lauter braven, zum Teil schon seit einem halben Jahrhundert im Dienste seiner Familie ergrauten Leuten, die ihrem gütigen Herrn eine aufrichtige Zuneigung und unbeschränkte Ergebenheit entgegenbrachten, war ihr Herr doch immer freundlich und dienstbereit, selbst wenn er dazu die eigne Person[13] einsetzen mußte. Sein Eintreffen gab allemal Veranlassung zu lauten Freudenbezeugungen, wie sein Scheiden zu lebhaft geäußertem Bedauern.
Das Besitztum Green-Valley lieferte einen jährlichen Ertrag von dreißigtausend Francs, in die sich die beiden Vettern teilten, denn die Farm hatten sie eben so gemeinschaftlich behalten wie das Haus in Montreal. Hier wurde ein an Futtergewächsen und Getreide ertragreicher Boden kultiviert und zu dessen Ertrag kam noch der von den prächtigen Wäldern, die noch heute das Gebiet der Dominion, vorzüglich in ihrem östlichen Teile, weithin bedecken. Die Farm umfaßte eine Gruppe gut eingerichteter und wohlerhaltner Häuser, Schuppen, Ställe, Geflügelhöfe usw. und alle nötigen Geräte von bester Art, die allen Anforderungen der modernen Landwirtschaft genügten. Nahe dem Eingange zu einer großen Einfriedigung, die Rasenflächen und Baumgruppen umschloß, erhob sich ein größres Landhaus, das trotz aller Einfachheit jede Bequemlichkeit bot und dem Gutsherrn als Sommerwohnung diente.
Das war die Stätte, wo Summy Skim am liebsten weilte und wo auch Ben Raddle in der schönen Jahreszeit einige flüchtige Tage verbrachte. Wenigstens der Erstgenannte hätte sie mit keinem noch so fürstlichen Schlosse eines steinreichen Amerikaners vertauschen mögen. So bescheiden die Wohnung auch war, ihm genügte sie vollständig und er dachte weder an ihre Vergrößerung noch an eventuelle Verschönerungen, da er mit denen zufrieden war, deren Unkosten die gütige Natur allein trug. Hier verflossen seine Tage unter Jagdausflügen und seine Nächte unter friedlichem Schlummer.
Contentus sua sorte (mit seinem Lose zufrieden), wie es die Weisheit empfiehlt, fühlte sich Summy Skim reich genug durch den Ertrag seiner Ländereien, den er planmäßig und einsichtig zu verwerten verstand. Wenn er auch darauf achtete, sein Vermögen nicht zu verringern, so kam es ihm doch gar nicht in den Sinn, es vergrößern zu wollen. Um keinen Preis der Welt hätte er sich in irgendeins der unzähligen Geschäfte eingelassen, die Nordamerika immer in einer Art Spannung erhalten, wie kommerzielle und industrielle Spekulationen Eisenbahnen, Banken, Bergwerke, Schiffahrtsgesellschaften u. a. m. Nein! Dieser Weise hatte einen Abscheu gegen alles, was mit einem Risiko verknüpft oder Zufälligkeiten ausgesetzt war. Sich zu binden, einen guten Erfolg oder einen Fehlschlag hinzunehmen, sich auf Gnade und Ungnade Möglichkeiten ausgesetzt zu fühlen, die kein Mensch verhindern, keiner voraussehen kann, am Morgen mit dem Gedanken »Bin ich heute reicher oder ärmer als gestern?« aufzuwachen,[14] das wäre ihm zu widerwärtig erschienen und er hätte es dann vorgezogen, niemals einzuschlafen oder niemals aufzuwachen.
Zwischen den beiden Vettern bestand freilich ein sehr deutlicher Unterschied; gewiß waren sie beide von zwei Schwestern geboren und hatten sie französisches Blut in den Adern. Während Summy Skims Vater aber angelsächsischer Nationalität gewesen war, war der Ben Raddles ein geborner Amerikaner und zwischen dem Engländer und dem Yankee bestehen Unterschiede, die mit der Zeit immer mehr hervortreten. Wenn Jonathan und John Bull auch Verwandte sind, so sind sie das doch nur in entferntem Grade und diese Verwandtschaft scheint sich allmählich ganz verwischen zu wollen.
Ob die Verschiedenheit der Abstammung oder irgendwelche andre Ursache der Grund für die Ungleichheit ihrer Charaktere war, eins stand fest: daß die beiden, im übrigen einander warm zugetanen Vettern, die gewiß immer treu zusammenhielten, nicht dieselben Neigungen, dasselbe Temperament hatten.
Der etwas kleinere, braunhaarige und braunbärtige, um vier Jahre jüngre Ben Raddle betrachtete das Leben nicht unter demselben Gesichtswinkel wie sein Vetter Skim. Während der eine sich begnügte, als sorgenfreier Gutsherr zu leben und seine Ernten zu überwachen, verfolgte der andre eifrig die industrielle Entwicklung der Zeit. Nach Vollendung seiner Studien als Ingenieur war er schon bei einigen jener erstaunlichen Werke beteiligt gewesen, mit denen die Amerikaner sich durch die Kühnheit des Entwurfes und die Unverzagtheit der Ausführung über andre Nationen zu erheben trachten. Gleichzeitig stand sein Sinn auch nach Reichtum.... nicht nach dem bescheidnen Wohl stand unsrer mittelmäßigen Millionäre, sondern nach dem Goldstrome der Milliardäre Amerikas. Die fabelhaften Vermögen eines Gould, Astor, Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie, Morgan und so mancher andrer, die hatten es ihm angetan. Er träumte stets von außergewöhnlichen Gelegenheiten, die einen wohl in wenigen Tagen sozusagen das Kapitol ersteigen lassen, ihn aber auch zuweilen in wenigen Stunden den tarpejischen Felsen hinunterstürzen. Und während Summy Skim, abgesehen von seiner jährlichen Übersiedlung nach Green-Valley, ein Feind von Ortsveränderungen war, hatte Ben Raddle schon viele Male die Vereinigten Staaten durchstreift, die Fahrt über den Atlantischen Ozean gemacht und einen Teil Europas besucht, ohne bisher jemals die bewußte »große Gelegenheit« beim Schopfe fassen zu können. Erst unlängst war er von einer weiten überseeischen Reise zurückgekehrt und seitdem gönnte er sich keine Minute Ruhe, sondern[15] lauerte immer auf das geträumte ungeheure Unternehmen, woran er sich beteiligen könnte.
Dieser Widerspruch ihrer Neigungen machte Summy Skim heimlich rechten Kummer. Er fürchtete immer, daß Ben Raddle sich einmal gezwungen sehen würde, ihn zu verlassen, oder daß er das mäßige Vermögen, das ihnen beiden Unabhängigkeit und Freiheit sicherte, durch ein abenteuerliches Unternehmen verschlungen sehen könnte.
Das bildete auch unablässig den Gegenstand des Gesprächs der beiden Vettern.
»Sage mir nur, Ben, bemerkte gelegentlich Summy Skim, wozu dient es, sich den Kopf zu zerbrechen über das, was du so pomphaft ›große Geschäfte‹ nennst?
– Das dient dazu, reich zu werden, sehr reich zu werden, Summy, antwortete Ben Raddle.
– Ha, by God! Vetter, was hat einer davon, so reich zu sein? So viel braucht man doch nicht, in Green-Valley glücklich zu leben. Was würdest du denn mit so vielem Gelde anfangen?
– O, neue und noch bedeutendere Unternehmungen, lieber Vetter.
– Zu welchem Zwecke?
– Noch mehr Gold anzuhäufen, das ich dann zu noch umfänglicheren Geschäften verwenden würde.
– Und so weiter?
– Richtig.... und so weiter.
– Bis zum seligen Ende, nicht wahr? bemerkte Summy Skim ironisch.
– Bis zum letzten Atemzuge, Summy,« schloß Ben Raddle, ohne aus seiner Ruhe zu kommen, das Zwiegespräch, während sein Vetter, der nichts mehr zu erwidern wußte, verzweifelt die Arme zum Himmel emporstreckte.[16]
1 Diese Ereignisse sind in den »Außerordentlichen Reisen« in dem Romane »Die Familie ohne Namen« ausführlich geschildert.
2 Der offizielle Name Kanadas.
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