|
[85] So wie alle inmitten einer wegelosen Gegend verlornen Halteplätze, wo es an Beförderungsmitteln fast gänzlich mangelt, war auch Skagway ursprünglich nur ein Goldsucherlager gewesen. Allmählich entstanden hier aus einem Durcheinander von Zelten etwas wohnlicher eingerichtete Hütten, bis sich auf dem immer im Werte steigenden Terrain wirkliche Häuser erhoben. Wer weiß aber, ob die von dem Bedürfnisse des Augenblickes geschaffne Stätte in Zukunft nicht wieder verlassen werden, ob die ganze Gegend nicht wieder zur menschenleeren Wüste wird, wenn ihre Goldlager einmal erschöpft sind.
Man kann diese Länder unmöglich mit Australien, Kalifornien und dem Transvaal in gleiche Linie stellen. In den genannten drei Ländern hätten sich auch ohne die Goldfunde die Dörfer zu Städten entwickeln können. Da war[85] der Erdboden fruchtbar, die Gegend zum Bewohnen geeignet und Handels- und Industriebetriebe konnten sich zu wirklicher Bedeutung erheben. Auch wenn dem Boden seine metallischen Schätze geraubt waren, genügte er noch, die auf ihn verwendete Arbeit zu lohnen.
Hier dagegen, in diesem Teile der Dominion, an der Grenze von Alaska, nahe dem Polarkreise und unter einem eisigen Klima, lagen die Verhältnisse ganz anders. Warum sollte jemand, wenn einst die letzten Pepiten gefunden waren, noch in dieser aller Hilfsquellen baren und von den Pelzhändlern schon ausgesaugten Gegend länger verweilen?
Es ist also recht leicht möglich, daß die in aller Hast emporgewachsenen Städte dieses Landesteiles – Städte, denen es gegenwärtig weder an geschäftigem Treiben noch an Belebtheit durch zahlreiche Reisende fehlt – nach und nach wieder verschwinden, sobald die Minen von Klondike geleert sind, und das auch trotz der finanziellen Gesellschaften, die jetzt zusammentreten, um Verkehrserleichterungen zu schaffen, trotz der Bahnlinie, die zwischen Wrangel und Dawson City gebaut werden soll.
Zur Zeit wo der »Foot-Ball« hier eintraf, wimmelte es in Skagway von Auswandrern, die zum Teil mit Paketbooten des Stillen Ozeans, zum Teil auch über die Eisenbahnen Kanadas und der Vereinigten Staaten hierhergekommen waren... alle aber mit der Absicht, sich nach Klondike zu begeben.
Eine Anzahl der Reisenden ließ sich bis Dyea, einem Flecken am inneren Kanalende, befördern, doch nicht auf Dampfern, für die der Kanal zu wenig Wassertiefe gehabt hätte, sondern auf flachen, mehr prahmähnlichen Schiffen, für deren Tiefgang der Kanal zwischen den beiden Ortschaften ausreichte. Damit wurde der beschwerliche Weg über Land wesentlich abgekürzt.
Doch so oder so: in Skagway begann allemal der anstrengendere Teil der Reise nach der verhältnismäßig bequemen Beförderung auf den Paketbooten, die den Dienst längs des Küstengeländes versehen.
Die beiden Vettern hatten sich bald ein Hotel gewählt, denn Skagway enthielt damals schon mehrere solche. Sie bewohnten hier gemeinsam ein Zimmer, jedoch für einen Preis, der über die in Vancouver üblichen Preise noch hinausging. Sie wollten auch alles daransetzen, so bald wie möglich daraus fortzukommen.
Das Hotel war gestrotzt voll Gästen, die sich alle auf die Weiterreise nach Klondike vorbereiteten. Im Dining Saloon (Speisesaale) drängten sich alle[86] Nationalitäten durcheinander, nur das Essen war leider allein alaskisch: die Auswandrer, denen in den nächsten Monaten so viele Entbehrungen bevorstanden, hatten im Grunde freilich kein Recht, sich wählerisch zu zeigen.
Summy Skim und Ben Raddle sollten während ihres Aufenthaltes in Skagway keine Gelegenheit haben, mit den beiden Texanern zusammenzutreffen, mit deren einem Summy kurz vor dem Verlassen des »Foot-Ball« so hart aneinandergeraten war. Hunter und Malone waren gleich nach der Ankunft nach Klondike aufgebrochen. Da sie nur dahin zurückkehrten, von wo sie vor sechs Monaten gekommen waren, fanden sie jetzt die nötigen Transportmittel bereit and brauchten nur abzureisen, ohne sich mit weiterem Material zu belasten, denn das fanden sie auf ihrer Arbeitsstätte am Forty Miles Creek ja wieder vor.
»Wahrhaftig, sagte Summy Skim, es ist ein rechtes Glück, die rohen Tölpel nicht zu Reisegefährten zu haben. Ich bedaure alle, die mit ihnen unterwegs beisammen sind... wenn sie nicht ebensoviel und ebensowenig wert sind wie jene beiden, was ja bei dieser Goldsucherhorde sehr wahrscheinlich ist.
– Gewiß, antwortete Ben Raddle; die beiden Tölpel sind aber besser ausgerüstet und versorgt als wir. Sie haben sich in Skagway nicht aufgehalten, wir dagegen werden mehrere Tage brauchen...
– Tut nichts, Ben, wir kommen schon auch noch an Ort und Stelle! rief Summy Skim, und da werden wir die Burschen auf dem hunderteinunddreißigsten Claim schon wiederfinden. Eine herrliche Nachbarschaft! Eine köstliche Gemeinschaft... wahrlich, eine verlockende Aussicht! Hoffentlich veranlaßt sie uns, unsre Kieselgrube für jeden Preis zu verkaufen und so schnell wie möglich den Rückweg anzutreten.«
Während Summy Skim sich wegen Hunters und Malones nicht weiter zu beunruhigen brauchte, fand er im Gegenteil die beiden jungen Damen wieder, deren er sich so ritterlich herzhaft angenommen hatte. Da diese in demselben Hotel wie die beiden Vettern abgestiegen waren, kreuzten sich ihre Wege ziemlich häufig. Dann wurden im Vorübergehen einige Worte gewechselt, deren Kürze eine gewisse Vertraulichkeit nicht ausschloß, und nachher ging jeder seinen Geschäften nach.
Es war ja nicht schwierig, zu erraten, was den beiden jungen Mädchen besonders am Herzen liegen mußte, denn ohne Zweifel bemühten sie sich in erster Linie, herauszufinden, wie sie am besten und sichersten nach Dawson City ämen. Das war für sie freilich keine so leicht zu lösende Aufgabe. Achtundvierzig[87] Stunden nach ihrem Eintreffen in Skagway deutete noch nichts darauf hin, daß sie in dieser Beziehung einen nennenswerten Fortschritt gemacht hätten, wenigstens wenn man das nach dem Gesichtsausdrucke Jane Edgertons beurteilte, der, trotz der Bemühung des jungen Mädchens, nichts von ihrer Stimmung zu offenbaren, doch leicht eine beginnende Unruhe verriet.
Ben Raddle und Summy Skim, deren Interesse für die jungen Reisenden von Tag zu Tag zunahm, konnten nicht ohne Erregung, ohne Mitleid an die Gefahren und Mühseligkeiten denken, denen Jane und Edith ausgesetzt sein würden. Welche Unterstützung, wel che Hilfe würden sie gegebenenfalls jemals finden bei dieser Horde von Auswandrern, die vor Verlangen, vor leidenschaftlichem Durste nach Gold jede Empfindung von Gerechtigkeit, jedes Ehrgefühl eingebüßt hatten!
Am 23. April gegen Abend konnte sich Summy Skim nicht mehr zurückhalten und mußte die blonde Cousine ansprechen, die ihm – mit Recht oder Unrecht – von den beiden am zugänglichsten erschien.
»Nun, Fräulein Edith, fragte er, nichts Neues seit Ihrer Ankunft in Skagway?
– Nein, gar nichts,« antwortete das junge Mädchen.
Summy bemerkte jetzt plötzlich, daß es eigentlich das erste Mal wäre, wo er diese Stimme mit dem metallischen Wohlklange vernähme.
»Jedenfalls, fuhr er fort, unterrichteten Sie und Ihr Fräulein Cousine sich über die Beförderungsmittel nach Dawson?
– Ganz recht, mein Herr.
– Sie haben sich aber noch nicht für das oder jenes entschieden?
– Bis jetzt noch für keines.«
Liebenswürdig... ja, ermutigend aber war diese Edith Edgerton nicht. Die dienstfertigen Anerbieten, die Summy noch unklar durch den Kopf gingen, wurden dadurch gelähmt und das Zwiegespräch nahm hiermit vorläufig ein Ende.
Summy hatte aber nun einmal seinen Plan entworfen und die unterbrochne Unterredung wurde am nächsten Tage wieder aufgenommen. Die beiden jungen Mädchen verhandelten gerade über ihren Anschluß an eine Gesellschaft, deren Reisevorbereitungen nach wenigen Tagen vollendet sein sollten. Dieser Trupp bestand aber nur aus ärmlichen, ungebildeten und rohen Burschen. Welche Gesellschaft wäre das gewesen für die so sein auftretenden, so sorgfältig erzogenen jungen Damen![88]
Sobald er sie gewahr wurde, ging Summy auf sie zu, diesmal auch mutiger, weil Ben Raddle und Jane Edgerton gleichzeitig anwesend waren.
»Nun, Fräulein Edith, begann der brave Summy wie das vorige Mal, nichts Neues?
– Gar nichts, mein Herr, antwortete Edith wie vorher.
– Das kann freilich noch längere Zeit so fortgehen, wertes Fräulein.«
Edith machte eine ausweichende Handbewegung und Summy fuhr fort:
»Erscheint es Ihnen indiskret, wenn ich frage, auf welche Weise Sie Ihre Fahrt bis Dawson fortzusetzen gedenken?
– Keineswegs, erwiderte Edith. Wir beabsichtigen so eine Art kleine Karawane mit den Leuten zu bilden, mit denen wir eben darüber sprachen.
– Nun ja... im Grunde ist das ja... an und für sich ein ganz guter Gedanke. Doch verzeihen Sie, Fräulein Edgerton, wenn ich mich in suchen mische, die mich nichts angehen. Haben Sie sich diesen Entschluß denn auch reiflich überlegt? Die Leute, mit denen zusammen Sie die Reise unternehmen wollen, sehen wenig empfehlenswert aus, und erlauben Sie deshalb, Ihnen zu sagen...
– Ja, mein Gott, man nimmt eben, was man bekommen kann, unterbrach ihn Jane Edgerton lachend. Unsre Vermögensverhältnisse gestatten uns nicht, fürstliche Ansprüche zu machen.
– O, es braucht einer noch lange kein Fürst oder Prinz zu sein, um doch weit über Ihren zukünftigen Reisegenossen zu stehen. Ich bin überzeugt, Sie werden sich veranlaßt sehen, jene bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu verlassen.
– Na, wenn's so kommt, reisen wir eben allein weiter,« bemerkte Jane entschlossen.
Summy streckte die Arme zum Himmel empor.
»Allein... aber, meine Damen, wo denken Sie hin! Sie kämen ja unterwegs um!
– Warum sollten wir eventuelle Gefahren mehr zu fürchten haben als Sie vielleicht selbst? entgegnete Jane, die sich jetzt selbstbewußt in die Brust warf. Was Sie ausrichten können, das können wir wohl auch.«
Offenbar ließ sich die eifrige Frauenrechtlerin nicht so leicht entwaffnen.
»Natürlich... natürlich, stimmte ihr Summy versöhnlich bei. Die Sache liegt aber so, daß weder mein Cousin noch ich die Absicht haben, die Reise nach[89] Dawson so allein auf unsre Kräfte angewiesen zu unternehmen Wir nehmen uns einen Führer, einen bewährten Führer mit, der uns mit seiner Erfahrung unterstützt und mit allem nötigen Material versorgt.«
Summy machte eine Pause und setzte dann mit einnehmender Stimme hinzu:
»Warum sollten Sie sich diese Vorteile nicht zunutze machen?
– Ja... unter welchen Verhältnissen?
– Natürlich als eingeladne Gäste,« erklärte Summy mit Wärme.
Jane hielt ihm ohne Zieren die Hand entgegen.
»Meine Cousine und ich, Herr Skim, sind Ihnen sehr dankbar für Ihr edelmütiges Anerbieten, wir können es aber leider nicht annehmen. Wir besitzen noch, wenn auch bescheidne, doch hinreichende Mittel und sind entschlossen, niemandem als uns selbst etwas zu schulden, solange keine bittre Not uns zum Gegenteil zwingt.«
Aus dem ruhigen Tone, womit diese Erklärung erfolgte, ließ sich entnehmen, daß dagegen jeder Einspruch erfolglos bliebe. Wenn Jane Edgerton an die großen Schwierigkeiten dachte, denen sie entgegenging, so vermochten diese sie doch nicht zu erschrecken, sondern bestärkten sie im Gegenteil nur in ihrem persönlichen Stolze, sich wider sie aufzulehnen.
So sagte sie denn auch zu Ben Raddle gewendet:
»Sprechen Sie: Habe ich nicht recht, Herr Raddle?
– Vollkommen, Miß Jane,« erklärte Ben, ohne die verzweifelten Zeichen seines Vetters im mindesten zu beachten.
Seit der Ankunft in Skagway hatte sich's Ben Raddle nur angelegen sein lassen, seine und Summys Beförderung bis nach der Hauptstadt von Klondike sicherzustellen. Nach den Hinweisen, die man ihm schon in Montreal gegeben hatte, hatte er sich mit einem gewissen, allseitig gut beleumundeten Bill Stell in Verbindung gesetzt und mit diesem alles Nötige verabredet.
Bill Stell war ein ehemaliger Prärieläufer von kanadischer Herkunft. Mehrere Jahre hatte er zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten für verschiedene Truppen der Dominion Dienste als Scout (Kundschafter) geleistet und auch an den langwierigen Kämpfen teilgenommen, die diese gegen die Indianer auszufechten hatten. Allgemein galt er als ein Mann von hohem Mute, großer Kaltblütigkeit und unbeugsamer Energie.
Jetzt betrieb der frühere Scout den Beruf eines Auswandrerführers, der mit dem Eintritt der schönen Jahreszeit alle geleitete, die dann zum ersten Male[90] nach Klondike gehen oder dahin zurückkehren wollten. Er war aber nicht allein Führer, sondern auch Chef eines zahlreichen Personals und Besitzer aller Ausrüstungsgegenstände, die für so schwierige Reisen gebraucht wurden; ihm gehörten Boote mit Mannschaften zur Fahrt über die Seen, Schlitten und Hunde zur Beförderung der Reisenden und ihres Gepäcks über die vereisten Ebenen, die sich jenseits des Passes über den Chilkoot unübersehbar ausdehnen. Überdies lieferte er zu verabredetem Preise die Nahrungsmittel für die von ihm zusammengestellten Karawanen.
Weil er von Anfang an darauf rechnete, die Dienste Bill Stells in Anspruch zu nehmen, hatte sich Ben Raddle bei der Abfahrt aus Montreal nicht mit umfangreicherem Gepäck belastet. Er wußte ja, daß der Scout ihm alles liefern würde, was nötig wäre, Klondike zu erreichen, und er hoffte bestimmt, sich mit dem Manne wegen der Hin- und Rückfahrt zu verständigen.
Als Ben Raddle am Tage nach der Ankunft in Skagway das Haus Bill Stells aufsuchte, wurde ihm mitgeteilt, daß dieser eben abwesend war. Er hatte es übernommen, eine Karawane über den White-Paß bis zum Ende des Bennettsees zu geleiten, war mit dieser aber schon vor etwa zehn Tagen aufgebrochen. Hatte er unterwegs keine Verzögerung erlitten oder vielleicht gar noch die Führung andrer Reisender übernommen, so mußte er nun bald wieder eintreffen.
Das ging auch in Erfüllung und am Morgen des 25. April kannten sich Ben Raddle und Summy Skim mit Bill Stell in Verbindung setzen.
Der Scout war ein fünfzigjähriger Mann von Mittelgröße, doch anscheinend mit einem Körper aus Eisen. Er trug einen graugesprenkelten Bart und hatte kurze, steife und dicke Haare und einen festen, durchdringenden Blick. Aus seinen recht angenehmen Zügen leuchtete die Grundehrlichkeit heraus. Während seiner langen Dienstleistung im kanadischen Heere hatte er sich eine schätzenswerte Umsicht, rege Wachsamkeit und hervorragende Klugheit angeeignet. Überlegend, methodischen Sinnes und an Hilfsquellen reich, hätte ihn keiner so leicht täuschen können.
Gleichzeitig Philosoph in seiner Art, faßte er das Leben nach seinen guten Seiten auf und, zufrieden mit seinem Lose, nagte an ihm niemals das Verlangen, es denen gleichzutun, die er nach den goldgespickten Gebieten führte. Gar so häufig lehrte ihn ja auch die Erfahrung, daß ein großer Teil von jenen den Mühen und Strapazen erlag oder daß wiederum sehr viele nur[91] elender als vorher von dem so hoffnungsfreudig angetretnen Zuge ins Land ihrer Träume zurückkehrten.
Ben Raddle eröffnete dem Scout seine Absicht, so bald wie möglich nach Dawson City zu reisen.
»Schön, mein Herr, antwortete Bill Stell, ich stehe ganz zu Ihren Diensten. Es ist mein Beruf, die Reisenden zu führen, und ich bin dazu mit allem versehen.
– Das weiß ich, Scout, sagte Ben Raddle, und ich weiß auch, daß man sich auf Sie in jeder Beziehung verlassen kann.
– Sie gedenken nur einige Wochen in Dawson City zu bleiben? fragte Bill Stell.
– Wahrscheinlich nicht länger.
– Es handelt sich bei Ihnen also nicht um die Ausbeutung eines Claims?
– Ja, das weiß ich nicht. Vorläufig beabsichtigen wir nur, den zu verkaufen, den wir, mein Vetter und ich, besitzen und der uns als Erbschaft zugefallen ist. Ein Kaufangebot ist uns schon gemacht worden; ehe wir es jedoch annehmen, wollen wir uns natürlich über den Wert unsres Eigentums unterrichten.
– Klug und weise von Ihnen, Herr Raddle! Bei derartigen Geschäften gibt es Fallen und Listen, die Leute zu täuschen. Da heißt es mißtrauisch sein...
– Das hat uns eben veranlaßt, diese Reise zu unternehmen.
– Und wenn Sie Ihren Claim verkauft haben, werden Sie nach Montreal zurückkehren?
– Das ist wenigstens unsre Absicht. Nachdem Sie uns dorthin geführt haben, Scout, werden Sie uns jedenfalls auch zurück das Geleite geben müssen.
– O, darüber werden wir schon einig werden, antwortete Bill Stell. Es ist nicht meine Sache, jemand zu überteuern, und da will ich Ihnen gleich meine Bedingungen mitteilen, Herr Raddle.«
Es handelte sich hier im ganzen um eine Reise von dreißig bis fünfunddreißig Tagen, für die der Scout Pferde oder Maultiere, Hundegespanne, Schlitten, Boote und Lagerzelte zu liefern hatte. Außerdem mußte er für den Lebensunterhalt der Reisegesellschaft, für Futter für die Tiere usw. sorgen[92] und in dieser Hinsicht konnte man ihm volles Vertrauen schenken, denn besser als jeder andre wußte er, was für diesen langen Zug durch öde Landgebiete nötig war.
Da die beiden Vettern kein Gerät für Grubenarbeit zu befördern hatten, wurde alles in allem der Preis für die Reise von Skagway bis Dawson City auf achtzehnhundert Francs und auf ebensoviel für den Rückweg festgesetzt.
Es wäre unangebracht gewesen, mit einem so gewissenhaften und ehrlichen Manne wie dem Scout über die Bedingungen zu feilschen. Übrigens waren zur jetzigen Jahreszeit die Preise für die Beförderung nur über die Bergpässe bis zum Seengebiete ziemlich hoch, was sich durch die Schwierigkeiten der beiden Wegstrecken erklärte: vier bis fünf Cents für das Pfund Gepäck auf der ersten und sechs bis sieben Cents auf der zweiten Strecke. Der von Bill Stell verlangte Preis erschien danach sehr annehmbar und Ben Raddle ging darauf auch, ohne weiter zu handeln, ein.
»Gut... einverstanden, sagte er. Nun vergeßt nur nicht, daß wir möglichst bald abreisen wollen.
– Achtundvierzig Stunden, mehr brauche ich nicht, bereit zu sein, versicherte der Scout.
– Werden wir bis Dyea zu Schiffe gehen müssen? fragte Ben Raddle.
– Das wäre nutzlos. Da Sie keine Arbeitsgeräte mit sich führen, halte ich es für richtiger, gleich von hier aus in gewöhnlicher Weise abzureisen.«
Jetzt galt es nur noch, den Weg zu bestimmen, dem die kleine Karawane durch das Berggebiet vor der Gegend der Seen folgen sollte und auf dem sich die größten Schwierigkeiten zusammendrängen. Auf die diesbezüglichen Fragen antwortete Bill Stell:
»Da gibt es zwei Straßen oder richtiger: zwei ›Fährten‹, den White-Paß und den Paß des Chilkoot. Die Karawanen haben dann, sie mögen nun den einen oder den andern gewählt haben, nur nach dem Bennett- oder nach dem Lindemansee hinunterzusteigen.
– Und welchen von diesen Wegen denken Sie einzuschlagen, Scout?
– Den über den Chilkoot. Von dem aus treffen wir unmittelbar auf die Spitze des Lindemansees, nach dem wir erst einmal beim Sheep Camp Halt gemacht haben. An dieser Stelle findet man Unterkunft und kann man sich verproviantieren. Am Lindemansee finden wir auch neues Material, das ich dort zurückzulassen pflege, um mir dessen Beförderung nach Skagway über den Bergrücken zu ersparen.[93]
– Wir verlassen uns völlig auf Ihre Erfahrung; was Sie tun, wird schon gut und recht sein, meinte Ben Raddle. Und was uns betrifft, sind wir sicherlich reisefertig, sobald Sie das Zeichen zum Aufbruch geben.
– In zwei Tagen, wie ich Ihnen schon sagte, erwiderte Bill Stell. So viel Zeit brauche ich, meine Vorbereitungen zu vollenden, Herr Raddle. Wir brechen dann früh am Morgen auf und sind am Abend nicht mehr weit vom Kamme des Chilkoot.
– Wie hoch liegt dieser?
– Etwa dreitausend Fuß, antwortete der Scout. Die Höhe ist ja keine außerordentliche, der Paß selbst ist aber schmal, vielfach gewunden, und was die Passage arg erschwert, ist, daß sich in dieser Jahreszeit eine große Menge Goldsucher, Gefährte und Gespanne darüber hinwälzen, von den Schneemassen, die ihn zuweilen fast verstopfen, gar nicht erst zu reden.«
Mit Bill Stell war nun eigentlich alles geordnet; Ben Raddle wich aber noch nicht von der Stelle.
»Nur noch ein Wort, wandte er sich an den Führer. Können Sie mir beiläufig sagen, um wieviel der Preis sich erhöhen würde, wenn wir zufällig von zwei Damen begleitet wären?
– Ja, das kommt nun so darauf an, antwortete der Scout. Viel Gepäck?
– Nein, sehr wenig.
– Dann, Herr Raddle, wird sich's um fünf- bis siebenhundert Francs handeln, je nach der Art und dem Gewichte der zu transportierenden Kolli. Die Nahrung für die Damen ist natürlich im Preise eingeschlossen.
– Danke, danke, Scout; das weitre werden wir ja sehen,« sagte Ben Raddle, während er sich verabschiedete.
Auf dem Rückwege nach ihrem Hotel äußerte Summy dem Vetter gegenüber seine Verwunderung über dessen letzte, an den Führer gerichtete Frage. An wen hätte Ben dabei denken können, wenn nicht an Edith und Jane Edgerton?
»Ja, das war auch der Fall, gestand Ben freimütig.
– Du weißt aber doch recht gut, sagte Summy dagegen, daß sie das rundweg abgeschlagen haben und du ihre Weigerung obendrein gebilligt hast.
– Das ist freilich wahr.
– Und ihre Weigerung wurde mit einem Tone ausgesprochen, der es ausschließt, auf unser Angebot zurückzukommen.[94]
– Da hast du die Sache nicht richtig durchschaut, lieber Vetter, antwortete Ben gelassen. Lasse mich's nur machen, und du wirst bald sehen, daß ich mich darauf besser verstehe als du.«
Im Hotel angelangt, suchte Ben, dem Summy mit unruhiger Neugier folgte, sofort die beiden jungen Mädchen auf. Als er sie im Lesezimmer entdeckt hatte, trat er ohne weiteres auf Jane zu.
»Mein Fräulein, begann er ohne jede Vorrede, ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.
– Und der lautete? fragte Jane, die über diese Anrede kaum verwundert erschien.
– Na, so hören Sie denn, erklärte Ben seelenruhig. Mein Vetter Summy hat Ihnen gestern angeboten, sich uns auf der Fahrt nach Dawson anzuschließen. Ich habe ihn darum getadelt, denn Ihre Anwesenheit und die Ihrer Cousine würde uns Nebenkosten ungefähr von siebenhundert Francs verursachen; ein Geschäftsmann wie ich denkt aber in erster Linie immer daran, daß jeder ausgegebene Dollar einen oder mehrere andre einbringen müsse. Zum Glück haben Sie auch unser Anerbieten abgelehnt.
– Ja natürlich, sagte Jane. Nun, was weiter?
– Sie können sich, mein Fräulein, aber nicht darüber täuschen, daß Sie in der nächsten Zeit nicht geringen Gefahren entgegengehen, und meinen Vetter leitete die gute Absicht, Ihnen die Reise zu erleichtern.
– O, es liegt mir fern, das zu bestreiten, gab Jane offenherzig zu. Ich sehe nur nicht...
– Nun, darauf komme ich sogleich, fuhr Ben fort, ohne auf die Unterbrechung weiter einzugehen. Ich wiederhole Ihnen, daß unser Beistand für sie von größtem Nutzen sein würde. Sie vermeiden dadurch Verzögerungen, die sonst unausbleiblich wären, und kämen gerade zur günstigsten Zeit bei den Placers an. Nehmen Sie unser Angebot an, so verbessern Sie wesentlich Ihre Aussichten auf Erfolg, dann ist es aber nicht mehr als billig, daß ich an einem von mir geförderten Unternehmen in bescheidener Weise beteiligt werde. Ich schlage Ihnen deshalb vor, die Reise bis Dawson auf meine Kosten unter der Bedingung zurückzulegen, daß mir von Ihrem späteren Nettogewinn zehn Prozent zufallen.«
Jane schien über den etwas sonderbaren Vorschlag keineswegs erstaunt zu sein. Lief er nicht ganz einfach auf einen Geschäftskontrakt hinaus? Wenn sie[95] mit einer Antwort etwas zögerte, geschah es nur, weil sie über den verlangten Gewinnanteil nachdachte. Zehn Prozent... hm, ein bißchen viel! Der Weg bis zur Hauptstadt von Klondike ist freilich recht lang und recht beschwerlich. Kühner Mut durfte jedoch den gesunden Menschenverstand nicht ausschließen.
»Gut... angenommen, sagte sie nach einiger Überlegung. Wenn es Ihnen recht ist, können wir unsern Vertrag sogleich vollziehen und unterzeichnen.
– Das wollte ich eben vorschlagen,« sagte Ben ernsthaft, während er sich schon an einem Tische niederließ.
Seine neue Teilhaberin aber sah ihm über die Schulter zu, als er mit allem Ernst den Vertrag aufsetzte.
»Zwischen den Unterzeichneten:
1. Dem Fräulein Jane Edgerton, Prospektorin, wohnhaft...
»Bitte, fragte er, sich unterbrechend, Ihre Wohnstätte?
– Schreiben Sie: Krankenhaus von Dawson City.«
Ben Raddle setzte die Feder wieder in Bewegung.
... Krankenhaus von Dawson City – – – – – einerseits;
2. Dem Herrn Ben Raddle, Ingenieur, wohnhaft in Montreal, Jacques-Cartierstraße 29 – – – – – – – – – anderseits, sind folgende Verabredungen getroffen worden:«
Über den Tisch hinweg wechselten Edith und Summy einen Blick des Verständnisses, einen Blick, aus dem bei Summy ein freudiger Glanz ausstrahlte. Bei Edith schien sich ihm freilich ein Ausdruck innerer Erregung beizumischen, sie ahnte, daß bei der Sache ein Hintertürchen offen gelassen würde.
Buchempfehlung
Ohnerachtet Schande und Laster an ihnen selber verächtlich / findet man doch sehr viel Menschen von so gar ungebundener Unarth / daß sie denenselben offenbar obliegen / und sich deren als einer sonderbahre Tugend rühmen: Wer seinem Nächsten durch List etwas abzwacken kan / den preisen sie / als einen listig-klugen Menschen / und dahero ist der unverschämte Diebstahl / überlistige und lose Räncke / ja gar Meuchelmord und andere grobe Laster im solchem Uberfluß eingerissen / daß man nicht Gefängnüsse genug vor solche Leute haben mag.
310 Seiten, 17.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro