Dreizehntes Kapitel.
Patricks Schild.

[400] So war also der erste Sturm abgeschlagen. Er hatte Hunter mehrere Verwundete und vier Tote gekostet, unter diesen sein zweites Ich, Malone. Das war für die Bande ein höchst fühlbarer Verlust. Auf Seite der Angegriffenen waren nur einige Männer durch verirrte Kugeln gestreift worden; das war der ganze Schaden.

Immerhin war jedoch zu erwarten, daß sich ein Überfall unter günstigeren Bedingungen wiederholen werde. Bei seinem rachsüchtigen Charakter und wilden Verlangen, Herr des Golden Mount zu bleiben, würde Hunter sich durch den ersten Fehlschlag noch nicht für besiegt ansehen.

»Jedenfalls haben die Kerle zum Rückzug blasen müssen, sagte der Scout; heute wagen sie gewiß keinen zweiten Versuch.

– Nein... doch vielleicht in der Nacht, meinte Summy Skim.

– Wir werden wachsam sein, erklärte Ben Raddle. In den zwei oder drei mehr dunkeln Stunden wird Hunter übrigens ebensoviel Mühe haben, den Kanal zu überschreiten, wie am hellen Tage. Ich bin überzeugt, er wird das[400] gar nicht wieder versuchen, denn er weiß ja recht gut, daß wir auf unsrer Hut sind.


Sie setzten nebeneinander ihren Weg fort. (S. 410.)
Sie setzten nebeneinander ihren Weg fort. (S. 410.)

– Wäre es nicht von Wichtigkeit, die Barrikade auf dem Damme wieder in Ordnung zu bringen? ließ sich Jane Edgerton vernehmen.

– Gewiß, das soll sofort geschehen, antwortete Bill Stell und rief gleich einige Leute herbei, ihm bei der Arbeit zu helfen.

– Vorher, empfahl Summy Skim, wollen wir uns doch überzeugen, ob die Bande in ihr Lager zurückkehrt.«[401]

Ben Raddle, Summy Skim, Jane Edgerton, Bill Stell und Neluto überschritten, mit Gewehren ausgerüstet, den Damm und gingen dann einige hundert Schritt weit auf die Ebene hinaus. Von da aus konnten sie längs des Vulkanfußes bis zum Halteplatz der Texaner alles übersehen.

Es war jetzt um sechs, also noch heller Tag.

Fünf bis sechs Flintenschußweiten draußen zogen Hunter und seine Bande langsam davon, obgleich sie doch befürchten mußten, verfolgt zu werden. Ben Raddle und der Scout fragten sich auch einmal, ob das nicht angezeigt wäre, nach reiflicher Überlegung glaubten sie aber doch, davon absehen zu sollen. Besser erschien es ja, daß die Texaner die geringe Zahl ihrer Gegner nicht kennen lernten.

Daß die Bande sich nur langsam entfernte, lag daran, daß sie ihre Toten und die Verwundeten mit sich führte. Mehrere von diesen hatten nicht gehen können, was natürlich auch das Vorwärtskommen ihrer Gefährten verzögerte.

Etwa eine Stunde lang beobachteten die Kanadier diesen Rückzug. Sie sahen Hunter den Fuß des Golden Mount umkreisen und dann hinter einem Vorsprunge des Berges verschwinden, unter dessen Schutz er sein Lager aufgeschlagen hatte.

Gegen acht Uhr war die Barrikade wieder hergestellt. Zwei Mann blieben als Wachtposten dabei und alle andern begaben sich zum Abendessen in das kleine Gehölz zurück.

Das Gespräch hier drehte sich natürlich um die Vorfälle dieses Tages. Der Mißerfolg Hunters konnte noch nicht als eine endgültige Klärung der Lage angesehen werden und von wirklicher Sicherheit konnte erst die Rede sein, wenn die Bande den Golden Mount verlassen hätte. Solange sich die Texaner in der Nachbarschaft aufhielten, konnte man sich jeder Überraschung versehen. Trat die Eruption von selbst ein, so kam es jedenfalls zu einem erbitterten Kampf um die vom Vulkan ausgeworfnen Pepiten.

Die wenigen Nachtstunden verliefen in ungestörter Ruhe und ebenso auch der ganze nächste Tag. Vergeblich begab sich der Scout mehrmals über den Kanal hinaus, er konnte nichts Verdächtiges wahrnehmen. Es sah wirklich so aus, als ob Hunter auf seine Pläne verzichtet hätte.

Auch in der nächsten Nacht ereignete sich kein Zwischenfall, als aber das erste Morgenrot aufflammte, krachten von der Seite des Kanals her mehrere Schüsse. Zwei Mann zur Überwachung der Zelte zurücklassend, begaben sich[402] die übrigen nach dem Rande des kleinen Gehölzes, bereit, hier sorgsam Wache zu halten.

Die Verteidigung des Dammes war durch den Scout und Neluto hinreichend gesichert. Solange die beiden da standen, kam gewiß kein Gegner herein. Geschützt durch die Felsenbarrikade, konnte man durch kleine Öffnungen in dieser feuern und auch das südliche Kanalufer bestreichen.

Immerhin konnte ihr Feuern hier nicht viel Wirkung haben. Die Angreifer, die während der Dunkelheit herangeschlichen waren und jetzt hinter der beim Ausgraben aufgeworfnen Erde auf dem Leibe lagen, mußten gegen ihre Kugeln ziemlich gut geschützt sein. Jedenfalls zeigte ihr Feuer vorläufig keine Abnahme.

Auf das Geheiß Ben Raddles, der, da sich ihm kein Ziel für die Gewehre bot, den Pulvervorrat nicht verschwenden wollte, verhielten sich seine durch die Bäume geschützten Gefährten ganz ruhig und warteten Gewehr bei Fuß auf die weitre Entwicklung der Dinge.

So verstrich eine Stunde. Von der andern Kanalseite dauerte das ebenso heftige wie wirkungslose Feuer noch immer fort. Die Kugeln schlugen in die Stämme und die Kronen ein, verursachten den Belagerten aber keinerlei Schaden.

Plötzlich, es war jetzt heller Tag, ertönte hinter der Verteidigungslinie ein lautes Geschrei, während das Schießen sich auffällig verminderte.

Der Scout benützte diese Pause, mit Neluto den Damm zu verlassen und über die gefährdete Zone hinzulaufen, um sich seinen Gefährten anzuschließen. Diese übergaben ihm sofort den Oberbefehl, zu dessen Führung er sich wegen seiner Erfahrung im Guerillakriege besonders eignete.

Er bildete aus der Karawane gleich zwei Teile. Die eine, aus den kanadischen Arbeitern bestehende Hälfte besetzte ohne Zögern den ganzen Rand des Gehölzes, um dessen Südfront wirksam verteidigen zu können, während die andre Hälfte, zu der hauptsächlich Bill Stell und dessen Leute gehörten, sich umwendeten und auf die Zelte, woraus die Schreie hervordrangen, zueilten, wobei die Männer sich getrennt voneinander hielten und alle vorsichtig von Baum zu Baum hinschlüpften. Der Scout schloß sich dieser mobilen Kolonne an, während Ben Raddle, Summy Skim und Jane Edgerton bei den Verteidigern des Kanals blieben.

Der Scout und seine Leute waren kaum hundert Schritt weit nach Norden vorgedrungen, als sie in geringer Entfernung einen geschlossenen Trupp von sieben[403] Reitern erblickten, die, so schnell wie es das Terrain zuließ, heransprengten und den Kanadiern offenbar in den Rücken fallen wollten.

Der Scout durchschaute schnell, was hier vorgegangen war. Offenbar hatten die Texaner in den sechsunddreißig Stunden, wo sie ihre Gegner nicht behelligten, im Rio Rubber eine Furt gefunden und als sie diese unter dem Schutze der Nacht zu Pferde überschritten hatten, waren sie von Nordosten her auf das Lager zugeritten, während ein Teil von ihnen an der ersten Kampflinie noch ein Scheingefecht unterhielt.

Theoretisch richtig, erwies sich diese Rechnung doch praktisch als verfehlt. Hunter hatte, über die wirkliche Zahl seiner Feinde getäuscht, zu dem kühnen Reiterangriffe zu wenig Mannschaften bestimmt. Was vermochten aber sieben Berittne und er selbst gegen ein Dutzend Gewehre, die keinen Pardon gaben?

Dazu kam noch ein weitres Unglück. Statt auf ein verlassenes Lager zu treffen, das sie ohne Gefahr zerstören könnten, um nachher den überraschten Gegnern in den Rücken zu fallen, war das Herannahen Hunters schon, ohne daß er es ahnte, von den kanadischen Wachtposten gemeldet worden. Anderseits wurde der Überfall durch die durch Büsche und Gesträuche aufgehaltnen Pferde eher verzögert als, wie man gehofft hatte, beschleunigt. Hunter konnte sein Vorhaben also nicht so schnell durchführen, er wurde vielmehr durch das Auftauchen des Scouts und seiner Begleiter selbst überrascht.

Jetzt mußte er seinen Plan wohl oder übel aufgeben. Da ihm der Weg nach Süden versperrt war, blieb ihm nichts andres übrig als umzukehren und den Rio Rubber, so schnell die Pferde laufen konnten, wieder zu überschreiten.

Das sollte aber nicht gelingen. Jetzt fingen die kanadischen Gewehre zwischen den Bäumen an zu reden und bei der kurzen Entfernung gingen nur wenige Kugeln fehl. In wenigen Minuten stürzten sechs tödlich getroffne Reiter aus dem Sattel und drei Pferde wurden daneben erschossen, während die andern wild davonjagten. Das war kein kleiner Mißerfolg, nein, das war für Hunter das Verderben.

Durch einen wunderbaren Zufall ging er allein unverletzt daraus hervor. Sein Entschluß war schnell gefaßt. Statt vor den Kugeln zu fliehen, die doch schneller flogen, als er hätte entweichen können, stürmte er verwegen auf die Feinde zu, die, in der Besorgnis, einer den andern zu treffen, ihr Feuer einstellen mußten, und auf die Gefahr hin, sich an den Bäumen den Schädel einzurennen, flog er wie ein Wirbelsturm zwischen ihnen hindurch.[404]

Im Augenblick war er zwischen dem Grün verschwunden und bald der Abteilung des Scouts, die ihn zu verfolgen begann, weit voraus. Bevor er gerettet war, mußte er jedoch noch die am Kanal liegende Schützenlinie passieren und endlich noch den offnen Platz zwischen dem Rande des Gehölzes und der Ebene draußen.

Hunter fühlte sich nur wenig beunruhigt bei dem Gedanken an das erste dieser Hindernisse. Die Schützen standen, seiner Schätzung nach, so vereinzelt, daß es ihm nicht schwer werden könnte, zwischen ihnen hindurchzukommen. Anders lag es mit dem zweiten. Er konnte da nicht verkennen, daß es schwieriger werden würde, den über seine Erwartung zahlreichen Schützen zu entgehen, wenn er die Deckung durch das Gehölz verlassen hätte und über den davor liegenden freien Platz hinsauste.

Sein sonst so erfinderisches Gehirn erschöpfte sich vergeblich, einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit zu finden, als ihm doch plötzlich ein Hoffnungsstrahl aufdämmerte.

Er befand sich jetzt am Rande des kleinen Gehölzes. Zwischen den Stämmen schimmerte von draußen schon das helle Tageslicht herein. Unter dem Schutze eines der letzten Bäume lag einer der kanadischen Schützen. Mit einem Knie auf der Erde, lud er sein Gewehr, zielte und feuerte hinaus; dann machte er eine Pause, so in Gedanken versunken, daß er das Austauchen. Hunters zehn Schritte hinter sich gar nicht bemerkt hatte.

Hunter erstickte mühsam ein Triumphgeschrei, als er erkannte, daß der eifrige Schütze ein Weib und niemand anders war, als die junge Reisende vom »Foot- Ball«. Er hielt sein Pferd einen Augenblick an, drückte ihm dann die Sporen in die Weichen und flog, indem er sich nach Art der Cowboys tief aus dem Sattel herunterhängen ließ, so daß er mit der Hand fast den Boden berührte, auf die Gestalt zu.

Er war schon neben Jane, ehe diese etwas von seiner Gegenwart bemerkte. Im Vorüberfliegen schlang er den Arm um die Taille des jungen Mädchens, das er wie eine Feder aufhob und quer über den Sattel warf.

Dann setzte Hunter, jetzt vor den Kugeln geschützt durch die Geisel, die er davonschleppte, seinen rasenden Ritt weiter fort.

Als sie sich gepackt fühlte, hatte Jane Edgerton einen lauten Aufschrei ausgestoßen, auf den hin von der und jener Seite das Feuer augenblicklich eingestellt wurde. Besorgte und neugierige Gesichter zeigten sich zwischen den Bäumen[405] und über dem niedrigen Uferwalle, während Hunter in gestrecktem Galopp aus dem Gehölz heraus- und über den freien Platz hinjagte, den er noch so kurz vorher nicht wenig gefürchtet hatte.

Keiner aus den beiden Lagern hatte sogleich begriffen, was hier vorging. Die Amerikaner ragten mit dem ganzen Oberkörper über den Erdwall heraus, der sie beschützt hatte, und als sie ihren Anführer mit verhängtem Zügel einhergestürmt kommen sahen, glaubten sie sich von einer unerwarteten Gefahr bedroht und liefen über die Ebene davon, um hinter dem ersten Vorsprunge des Golden Mount Deckung zu suchen. Die Kanadier anderseits erschienen nun vor dem Gehölz, aber so verdutzt, daß sie gar nicht daran dachten, den entfliehenden Gegnern noch ein paar Kugeln nachzuschicken.

Hunter benützte die allgemeine Verwirrung. Ein Dutzend wilde Sprünge brachten ihn an den Kanal, über den sein keuchendes Pferd hinwegsetzte, und nun ging's in tollem Ritt über die Ebene weiter.

Jetzt kamen die Kanadier einigermaßen zur Erkenntnis der Lage und lärmend stürmten sie auf den Kanal zu. Konnten sie aber hoffen, ein dahinjagendes Pferd zu erreichen, das vor ihnen schon einen großen Vorsprung hatte?

Nur ein einziger verließ nicht den Rand des kleinen Gehölzes und beteiligte sich nicht an der nutzlosen Verfolgung. Fest, wie im Boden eingewurzelt, auf den Füßen stehend, vollkommen ruhig und Herr seiner selbst, ergriff er sein Gewehr schlug es an und feuerte so schnell wie ein Blitz.

Der kühne Schütze konnte kein andrer sein als Summy Skim. Verließ der sich denn so auf seine Geschicklichkeit, daß ihn nicht einmal die Furcht, Jane zu treffen, beschlich, als er den Räuber niederstrecken wollte?

Tatsächlich wußte er jetzt gar nicht, was er wagte. Er hatte aufs Geratewohl geschossen, ohne zu zielen, mit der Unwillkürlichkeit einer Reflexbewegung.

Summy Skim fehlte sein Ziel aber bekanntlich niemals. Auch diesmal hatte er von seiner Geschicklichkeit einen neuen und noch erstaunlicheren Beweis als alle frühern geliefert. Gleich nach dem Schusse strauchelte Hunters Gaul schwerfällig, ob der Reiter ihm nun die Zügel hatte schießen lassen, um selbst das Gleichgewicht wieder zu finden, und Jane Edgerton glitt aus dem Sattel und blieb regungslos auf der Erde liegen. Das Pferd tat noch drei bis vier unsichre Schritte, dann brach es zusammen und Hunter stürzte zur Erde, wo er ohne Bewegung liegen blieb.[406]

Das sich so plötzlich abspielende Schauspiel hatte die Kanadier völlig verdutzt. Alle schwiegen ratlos still. Auch Summy Skim, der, ungewiß über die Folgen seines überstürzten Handelns, den Blick starr auf die Ebene gerichtet hielt, rührte sich jetzt nicht. Etwa fünfzig Meter jenseits des Kanals lag Hunter. Tot oder lebend? Das wußte niemand. Noch etwas näher wälzte sich sein Pferd in den letzten Zuckungen. Es atmete noch mühsam und aus seinen Nüstern strömte Blut; und kaum zwanzig Meter entfernt – ein kleiner Fleck auf der weiten Fläche – da lag Jane Edgerton, die Summy Skim vielleicht getötet hatte.

Als sie aber ihren Anführer fallen sah, drang die Bande Hunters ordnungslos hinter der Schutzmauer des Berges hervor. Mehr bedurfte es nicht, die Kanadier wieder zur Besinnung zu bringen. Ein Regen von Blei zwang die Raubgesellen, zurückzuweichen, und belehrte sie, daß die Ebene für sie fortan verbotnes Land sei.

Was für die einen zutraf, galt hier aber leider auch für die andern. Wenn die Schützen Ben Raddles, denen sich auch der Scout mit seinen Leuten angeschlossen hatte, jetzt in der Lage waren, den Texanern zu verwehren, sich vom Vulkan zu entfernen, so konnten auch diese wieder die Kanadier abhalten, über den Erdwall am wiedereroberten Kanal hinauszugehen. Die Ebene war tatsächlich für beide Parteien ungangbar geworden.

Es hatte nicht den Anschein, als sollte sich ein Mittel gegen diese Lage der Dinge finden. Die Kanadier konnten nicht den Kopf über dem Walle sehen lassen, ohne durch einen Hagel von Geschossen begrüßt zu werden. Das lähmte allmählich ihre Spannkraft, und Ben Raddle befürchtete, es könne sie zu Torheiten verführen.

Summy Skim, der sonst so ruhig war, verfiel besonders einer heftigen Überreiztheit. Jane Edgerton auf der Erde und wie tot kaum dreißig Meter vor sich liegen zu sehen, ohne ihr beispringen zu können, das brachte ihn von Sinnen. Man mußte ihn mit Gewalt zurückhalten und wider ihn ankämpfen, daß er nicht nach der Barrikade lief, die Steine herunterwälzte und dem sichern Tode entgegenging, der ihn draußen belauerte.

»Sollen wir sie denn sterben lassen?... Pfui, wir sind erbärmliche Feiglinge! rief er ganz außer sich.

– Wir sind nur keine Tollhäusler, das ist alles, erwiderte ihm Ben Raddle ernsthaft. Beruhige dich nur und gönne uns Zeit zur Überlegung.«[407]

Der Ingenieur mochte nachsinnen, soviel er wollte, sein sonst so erfinderischer Geist bot ihm keine befriedigende Lösung der vorliegenden Aufgabe und die Lage schien sich ins Endlose zu verlängern.

Diese Lösung sollte aber Patrick finden.

Das aufregende Warten dauerte schon fast eine Viertelstunde, als man ihn aus dem Gehölz hervortreten sah, wohin er durch einen außerordentlichen Zufall hatte gelangen können, ohne die Aufmerksamkeit der Texanerbande zu erwecken. Patrick ging nicht schnell, weil er sich rückwärts bewegte und auch weil er auf der Erde eine schwere und umfängliche Last nachschleppte, nämlich den Kadaver eines der Pferde, die kurz vorher durch die Schüsse der Leute des Scouts getötet worden waren.

Was hatte Patrick vor und was wollte er mit dem toten Pferde beginnen? Diese Frage hätte niemand beantworten können.

Von der andern Seite des Kanals her hatten die hinter dem Vorsprunge des Golden Mount versteckten Texaner den Riesen ebenfalls aus dem Gehölz hervortreten sehen.

Sein Erscheinen war das Zeichen zu einem wüsten Geschrei, das ein Hagel von Kugeln begleitete. Patrick schien jedoch weder auf das eine noch auf das andre zu achten. Mit gleichmäßiger und ruhiger Anstrengung zog er seine Last weiter bis an den Damm heran, den er mit unerklärlichem Glück heil und gesund erreichte.

Dann ging er daran, sich in der Barrikade einen genügend weiten Durchgang zu öffnen, was für ihn das Werk weniger Minuten war; darauf packte er das Pferd an den Vorderbeinen, richtete es auf seinen Hinterteil auf und warf es sich mit einem einzigen Ruck auf die Schultern.

Trotz des Ernstes der Lage brachen die Kameraden des Irländers, enthusiasmiert über dieses Kraftstückchen, in hellen Jubel aus. Wenn das Pferd auch nicht sehr groß war, so hatte es doch ein bedeutendes Gewicht und Patricks Heldentat hatte fast etwas Übermenschliches an sich.

Übrigens hätte keiner sagen können, was der Riese eigentlich beabsichtigte. Keiner außer einem einzigen.

»Bravo, Patrick!« rief Summy Skim, der sich mit Gewalt aus den ihn zurückhaltenden Händen befreite, sich schnell erhob und unbesorgt um die Kugeln, die um ihn herpfiffen, dem Irländer zum Damme nachlief, den dieser überschreiten wollte.


Von dem vorhandnen Material waren nur noch Trümmer übrig. (S. 415.)
Von dem vorhandnen Material waren nur noch Trümmer übrig. (S. 415.)

[408] Die beiden feindlichen Abteilungen konnten jetzt einen wahrhaft originellen Auftritt beobachten.

Den Kadaver des Pferdes, dessen Hinterbeine auf der Erde hinschleppten, auf den Schultern, ging Patrick langsamen und sichern Schrittes über den Damm hin und unter seinem Schutze Summy Skim mit ihm.

Kaum auf die Ebene hinausgetreten, knatterten wieder die Gewehre vom Bergvorsprunge her, über den sich die Texaner nicht hinauswagten. Patrick aber, vor dem Summy hinging, kehrte ihnen den Rücken zu und was vermochten[409] ihre Kugeln gegen seinen dicken Panzer? Weder Summy Skim noch Patrick ließen sich durch diese beunruhigen und setzten nebeneinander ihren Weg fort.

Sie brauchten nur wenige Minuten, die Stelle zu erreichen, wo Jane Edgerton lag. Hier blieb Patrick stehen, während Summy Skim das junge Mädchen vorsichtig aufhob.

Jetzt handelte es sich noch um den Rückweg, der sich schwieriger gestalten mußte, da beide jetzt genötigt waren, den Feinden das Gesicht, statt den Rücken, zuzukehren. Sie mußten deshalb eine schräge Richtung einschlagen und mußten lavieren, wodurch sich der Weg um das Drei- bis Vierfache verlängerte; schließlich gelang es Summy Skim und Patrick, jedem mit seiner Last, aber doch glücklich, über den Kanal wegzukommen, während die Texaner in ein ohnmächtiges Wutgeheul ausbrachen.

Jenseits des Dammes trafen sie schon zwei ihrer Gefährten, die, längs des Walles hinkriechend, hier hergekommen waren und sich beeilten, die Bresche in der Barrikade wieder zu schließen. Die beiden Retter verfolgten, ohne sich stören zu lassen, ihren Weg bis zum Rande des Gehölzes, das sie auch ohne Unfall erreichten.

Hier entledigte sich Patrick des von ihm »erfundenen Schildes«, an dem leicht zu erkennen war, was er genützt hatte: das Pferd war wenigstens von zwanzig Kugeln getroffen worden.

Summy Skim beschäftigte sich nun zunächst mit Jane Edgerton, die nicht die geringste Verletzung zu haben schien. Ihre Bewußtlosigkeit war jedenfalls nur eine Folge des heftigen Sturzes.

Das Besprengen ihres Gesichts mit kaltem Wasser zeigte schnell eine gute Wirkung. Bald schlug das junge Mädchen die Augen auf und kam wieder zum Bewußtsein. Summy trug sie nun eiligst bis zu den Zelten hin; ein wenig Ruhe mußte sie bald wieder völlig herstellen.

Die beiden feindlichen Parteien hatten inzwischen jede ihre Verteidigungsstellung beibehalten. Die Kanadier behaupteten die am Kanal, von der aus ihre Flinten den Texanern das Betreten der Ebene unmöglich machten. Diese wieder hielten, selbst durch den Bergvorsprung gedeckt, ihre Gegner ebenso in Schach. Es war nicht zu erraten, wann die so seltsame Lage ihr Ende finden würde.

Der ganze Tag verlief in gleicher Weise, dann wurde es dämmerig und endlich dunkel.

Das gestattete den kriegführenden Parteien etwas mehr Bewegungsfreiheit. Ben Raddle und seine Gefährten zogen sich vom Kanale zurück; an dem wurden[410] nur drei Mann als Wache zurückgelassen und noch einer nördlich vom Gehölz aufgestellt, um acht zu haben. daß vom Rio Rubber her kein neuer Überfall erfolgte. Die andern begaben sich ins Lager, wo sie nach dem Abendessen einige Stunden Schlaf fanden.

Mit Tagesanbruch waren die Kanadier, vielleicht etwas ermüdet, doch vollzählig, wieder auf den Beinen. Sobald es hell genug geworden war, wendeten sich alle Blicke dem Süden zu.

Ob nun die Texaner die Dunkelheit benützt hatten, ihrem Anführer Hilfe zu bringen? Hatte die Lage jetzt irgendeine Veränderung erfahren?

Vom Vorsprunge des Golden Mount her war kein Geräusch zu vernehmen. Auf großem Umwege längs des Rio Rubber wagten sich einige der Kanadier ein paar hundert Schritt auf die Ebene hinaus, um den Fuß des Vulkans weiterhin übersehen zu können. Da überzeugten sie sich, daß die Feinde ihre Stellung verlassen hatten.

Nichts störte mehr die Ruhe der Ebene, die ebenso still wie vorher dalag. Von den zwei Körpern, die die Finsternis gestern verhüllt hatte, war bei Tagesanbruch nur noch einer vorhanden. In einiger Entfernung vom Kanal lag das tote Pferd, der einzige dunkle Fleck auf dem hellen Wiesengrün. Schon flatterten Raubvögel um die willkommne Beute.

Hunter war verschwunden.

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 400-411.
Lizenz:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon