Zweites Kapitel.
Die Geschichte des Sterbenden.

[254] Nach wenigen Minuten war das Gefährt beim Hospital angelangt. Der Mann, den es mitbrachte, wurde hineingetragen und in demselben Zimmer niedergelegt, das auch Ben Raddle bis zu seiner Genesung eingenommen hatte. Der Kranke hatte damit den Vorteil, von den übrigen Hospitaliten mehr abgesondert zu liegen, eine Begünstigung, die er Summy Skim verdankte, der dazu seine »hohen Verbindungen« ins Treffen geführt hatte.

»Es ist ein Franzose, fast ein Landsmann, hatte er zu Jane Edgerton gesagt. Was Sie für meinen Ben getan haben, das bitte ich Sie auch für ihn[254] zu tun; ich hoffe, Doktor Pilcox werde ihn ebenso wieder gesund machen, wie er meinen Vetter wiederhergestellt hat.«

Der Arzt zögerte nicht, sich zu dem neuen Insassen des Hauses zu begeben. Der Franzose hatte das Bewußtsein noch nicht wieder erlangt und seine Augen waren noch geschlossen. Der Doktor Pilcox konstatierte an ihm einen sehr schwachen Pulsschlag und eine kaum fühlbare Atembewegung. Eine Verletzung war an dem durch Entbehrung, Anstrengung und Elend stark abgemagerten Körper nicht nachzuweisen, kein Zweifel, daß der Arme vor Erschöpfung am Fuße des Baumes zusammengebrochen war, wo man ihn aufgefunden hatte, und sicherlich wäre er durch die Kälte umgekommen, wenn er die ganze Nacht ohne Hilfe und Unterkunft geblieben wäre.

»Der Mann ist wenigstens schon halb erfroren,« erklärte Doktor Pilcox.

Man umhüllte ihn mit Decken und legte Wärmflaschen neben ihn, gleichzeitig erhielt er warmes Getränk und wurde kräftig abgerieben, um den Blutumlauf zu fördern. Alles, was in solchen Fällen zu tun war, wurde unverzüglich getan, doch konnte ihn zunächst nichts aus seinem halbtoten Zustand aufrütteln.

Ob der anscheinend dem Tode verfallene Mann doch vielleicht noch zu neuem Leben erwachte?... Doktor Pilcox zauderte, sich darüber auszusprechen.

Nach der von seiner Mutter Hand herrührenden Adresse all der Briefe, die sich bei dem Verunglückten vorfanden, lautete sein Name, wie wir wissen, Jacques Ledun. Der letzte, dem Poststempel nach aus Nantes stammende Brief war schon fünf Monate alt. Die Mutter schrieb darin an ihren Sohn in Dawson City, Klondike. Sie bat zugleich um eine Antwort, die vielleicht noch nicht erfolgt war.

Ben und Summy lasen diese Briefe und gaben sie dann an Edith und Jane Edgerton weiter. Alle empfanden dabei eine tiefe Rührung. Die beiden Männer verbargen sie wohl unter einem krampfhaften Festhalten der Gesichtsmuskeln, die jungen Mädchen aber ließen in warmem Mitgefühl ihren Tränen freien Lauf. Jede Zeile verriet die innigste mütterliche Liebe, alle bildeten eine ununterbrochene Reihe von guten Ratschlägen, Liebkosungen und Warnungen. Jacques sollte sorgsam auf sich achten, vor allem aber bald zurückkehren und auf die abenteuerliche Jagd nach Schätzen dieser Welt verzichten. So flehte die weit entfernte Mutter den Sohn an, sie, die auch der Armut spottete, wenn diese nur von zweien getragen wurde.[255]

Die Briefe lieferten jedenfalls zuverlässige Auskunft über die Absenderin, so daß man ihr, wenn der Empfänger stürbe, wenigstens Nachricht über das Unglück geben konnte, das sie betroffen hätte.

Aus den Briefen – es waren ihrer zehn – ging hervor, daß Jacques Ledun Europa vor zwei Jahren verlassen, sich aber nicht sofort nach Klondike begeben hatte, um hier das Gewerbe eines Prospektors zu betreiben. Der Inhalt einiger Briefe wies darauf hin, daß er sein Glück zuerst an den Goldlagerstätten Ontarios und Columbias gesucht hatte. Dann erst hatte er sich, durch die ans Wunderbare streifenden Mitteilungen der Zeitungen aus Dawson City angelockt, dem dahin eilenden Zuge der Goldgräber angeschlossen. Übrigens schien es nicht so, als ob er selbst Besitzer eines Claims gewesen wäre, denn seine Brieftasche enthielt kein Übertragungszertifikat und überhaupt keine amtliche Beurkundung, sondern nichts als die eben gelesenen Briefe.

Und doch war eine solche vorhanden, sie befand sich nur nicht in der Brieftasche, sondern im Besitze Jane Edgertons, die augenblicklich gar nicht daran dachte, ihrer Cousine und ihren Freunden davon Mitteilung zu machen. Erst spät am Abend, als sie sich niederlegen wollte, erinnerte sie sich der seltsamen Urkunde und nachdem sie sie unter dem Schein der Lampe ausgebreitet hatte, bemühte sie sich um deren Enträtselung, als ob es gegolten hätte, einen Rebus zu lösen.

Die Urkunde war eigentlich, wie sie vorausgesetzt hatte, nur eine Landkarte. Unregelmäßig verlaufende Bleistiftlinien bezeichneten offenbar eine Meeresküste, wo ein Strom mündete, der in der Nähe mehrere Nebenflüsse hatte. Nach der natürlichen Orientation der Karte zu urteilen, schien der Wasserlauf sich dem Nordwesten zuzuwenden. Wäre das etwa der Yukon oder sein Nebenarm, der Klondike? Nein, das erschien nicht annehmbar. Nach dem Charakter der Karte konnte es sich nur um das Eismeer und eine jenseits des nördlichen Polarkreises liegende Gegend handeln. An der Kreuzung eines mit 136°15' bezeichneten Meridians und eines der Zahl nach nicht kenntlich gemachten Breitengrades war das rote Kreuz eingezeichnet, das Jane Edgertons Aufmerksamkeit vom Anfang an erregt hatte. Vergeblich bemühte sie sich, das vorliegende Problem zu durchschauen. Ohne Kenntnis der Nummer des Breitengrades war es ja unmöglich, zu wissen, welchen Teil Nordamerikas die Karte darstellte, und besonders, an welchem Punkte des Landes das geheimnisvolle rote Kreuz zu suchen wäre.[256]

War nun Jacques Ledun auf dem Wege nach dieser Gegend gewesen oder schon auf dem Rückwege von da begriffen, als er wenige Kilometer von Dawson City kraftlos zusammengebrochen war? Das würde freilich niemals offenbar werden, wenn der Tod den unglücklichen Franzosen hinwegraffte, ohne daß dieser wieder zum Bewußtsein gekommen war.

Es erschien nicht zweifelhaft, daß Jacques Ledun einer Familie angehörte, die schon eine gewisse gesellschaftliche Stellung einnahm. Ein einfacher Arbeiter war er offenbar nicht, dafür zeugten die in gutem Stil abgefaßten Briefe seiner Mutter. Durch welche Wechselfälle, welches Unglück mochte er aber zu seiner jetzigen Entblößung von allem heruntergekommen sein, zu dem traurigen Lebensende im Bette eines Krankenhauses?

Einige Tage verstrichen. Trotz aller Jacques Ledun gewidmeten Sorgfalt und Pflege hatte sich sein Zustand nicht gebessert. Kaum vermochte er auf an ihn gerichtete Fragen nur einzelne, fast unverständliche Worte zu murmeln; ja man konnte sich wohl fragen, ob er überhaupt wieder einigermaßen zu Verstande gekommen wäre.


Unterwegs lebten sie vom Ertrage der Jagd... (S. 263.)
Unterwegs lebten sie vom Ertrage der Jagd... (S. 263.)

»Leider ist zu befürchten, äußerte hierzu der Doktor Pilcox, daß der Geist unsres Kranken eine heftige Erschütterung erlitten hat. Wenn sich seine Augen ein wenig öffnen, bemerke ich darin einen recht abwesenden Blick, der mir zu denken gibt.

– Doch wie steht's mit seinem Körperzustande, erkundigte sich Summy Skim, bessert auch der sich nicht?

– Der scheint mir noch bedrohlicher zu sein als seine geistige Störung,« erklärte der Arzt ohne Zögern.

Wenn sich der sonst so vertrauensselige Doktor Pilcox in dieser Weise aussprach, hatte er gewiß wenig Hoffnung auf eine Wiedergenesung Jacques Leduns.

Ben Raddle und Summy Skim wollten jedoch noch nicht verzweifeln. Ihrer Meinung nach müßte mit der Zeit eine Änderung des Zustandes zum Bessern eintreten und wenn Jacques Ledun auch die volle Gesundheit nicht wieder erlangte, so würde doch seine Intelligenz wieder erwachen, er würde sprechen, würde antworten können.

Einige Tage später schien die Entwicklung der Dinge ihnen recht geben zu wollen. Es sah so aus, als ob Doktor Pilcox von der Wirkung seiner Arzneien zu wenig erwartet hätte. Schon machten sich Andeutungen zu der von[259] Ben Raddle so ungeduldig erwarteten Reaktion bemerkbar. Der Zustand der Erschlaffung Jacques Leduns war nicht mehr so ausgesprochen vorhanden. Seine Augen blieben jetzt längere Zeit geöffnet. Sein sichrerer Blick schien zu fragen und bewegte sich mit Erstaunen durch das ihm unbekannte Zimmer oder traf die Personen, die sich nahe bei ihm aufhielten: den Arzt, Ben Raddle, Summy Skim, nebst Edith und Jane Edgerton.

War der Unglückliche nun als gerettet anzusehen?

Der Doktor schüttelte den Kopf verneinend. Ein Arzt konnte sich durch jene täuschenden Erscheinungen nicht irreführen lassen. Wenn die Geistestätigkeit auch noch einmal aufflackerte, so war das doch am Vortage ihres Erlöschens. Diese Augen, die sich noch einmal geöffnet hatten, würden sich bald für immer schließen. Das Ganze war nur eine letzte Auflehnung des Lebens, das vergeblich gegen seine nahe Vernichtung ankämpfte.

Edith hatte sich vorgebeugt, um die Worte zu vernehmen, die Jacques Ledun mit schwacher, oft von Seufzern unterbrochner Stimme hinmurmelte. Auf eine Frage, die man mehr erraten mußte, als man sie verstand, antwortete Edith:

»Sie befinden sich in einem Zimmer des Krankenhauses.

– Wo denn? fragte der Kranke, der sich dabei sogar aufzurichten versuchte.

– In Dawson City. Vor sechs Tagen sind Sie in bewußtlosem Zustande auf der Landstraße gefunden und hierhergebracht worden.«

Die Lider Jacques Leduns sanken einen Augenblick hernieder. Es schien, als ob die Anstrengung ihn erschöpft hätte. Der Doktor ließ ihm ein paar Tropfen eines anregenden Getränks geben, die das Blut nach seinen Wangen zurückführten und es ihm ermöglichten, wieder zu sprechen.

»Wer sind Sie? fragte er.

– Kanadier, antwortete Summy Skim, fast richtige Franzosen. Vertrauen Sie uns getrost. Wir werden Sie retten.«

Der Kranke lächelte kaum sichtbar und sank auf seine Kissen zurück. Ohne Zweifel fühlte er, daß der Tod ihm nahe sei, denn aus seinen geschlossenen Augen quollen schwere Tränen, die eine nach der andern auf das tief eingefallne Gesicht hinabrannen.

Auf den Rat des Doktors hin verschonte man ihn mit weiteren Fragen; jedenfalls war es besser, ihn vorläufig ruhen zu lassen. Der oder jener sollte an seinem Bette wachen und zur Hand sein, dem Kranken zu antworten, wenn dieser sich wieder soweit erholt hätte, um sprechen zu können.[260]

Die beiden folgenden Tage brachten weder eine Besserung noch eine Verschlimmerung in dem Zustande Jacques Leduns. Seine Schwäche blieb immer dieselbe und es war zu befürchten, daß er sie nicht zu überwinden vermögen werde. In längeren Zwischen räumen konnte er jedoch, wenn er sich mit Anstrengung aufraffte, wieder sprechen und Antwort geben auf die Fragen, die er selbst hervorzulocken schien Man fühlte es dabei heraus, daß er wohl noch mancherlei zu sagen haben möge.

Nach und nach gelang es auch, ebensoviel nach dem, was er in lichten Augenblicken freiwillig erzählte, wie aus den Brocken, die er in seinem Delirium äußerte, die Geschichte dieses Franzosen kennen zu lernen. So manches aus seinem Leben blieb freilich auch dabei noch in Dunkel gehüllt. Darüber zum Beispiel, was er in Klondike machte oder vorhatte, woher er kam oder wohin er ging, als er nahe bei Dawson niedergesunken war, erhielt man noch keinerlei Aufklärung.

Jacques Ledun war ein Bretone aus Nantes, etwa zweiundvierzig Jahre alt und von Natur von so kräftiger Konstitution, daß diese nur unter den schlimmsten Entbehrungen so weit hatte zusammenbrechen können.

Seine Mutter, die Witwe eines durch tollkühne Spekulationen ruinierten Agenten, wohnte noch in der genannten Stadt, wo sie gegen die zunehmende Verarmung einen täglich ungleicheren Kampf unterhielt.

Von Kindheit an hatte Jacques Ledun in sich den Beruf zum Seemann gefühlt. Eine ernste Krankheit, die ihn gerade befiel, als er in der Navigationsschule kurz vor der Entlassungsprüfung stand, hatte ihn aber beim ersten Schritte zu dieser Laufbahn aufgehalten. Da er dabei das für den Eintritt in die Marine zulässige Alter überschritten hatte, mußte er auf einem Handelsschiffe Dienst als Steuermann annehmen und nach mehreren Reisen nach Melbourne, Westindien und San Francisco erwarb er den Rang eines Kapitäns für die lange Fahrt. Dadurch gelang es ihm doch noch, als Hilfsoffizier in der Kriegsflotte Stellung zu finden.

Drei Monate hatte da sein Dienst gedauert, als er einsah, daß ein Seemann, wenn ihm nicht eine im ganzen so seltene Gelegenheit geboten war, sich besonders auszuzeichnen, doch niemals so weit vorwärts kommen würde wie die aus dem »Borda« hervorgegangenen Schiffsoffiziere; er reichte deshalb seine Entlassung ein und suchte sich wieder eine Stellung in der Handelsflotte.

Ein Kommando war nur schwer zu bekommen und so mußte er sich bequemen, als Obersteuermann auf einem Segelschiffe anzutreten, das regelmäßig nach den Meeren des Südens und zurück fuhr.[261]

So verliefen vier Jahre. Er hatte das neunundzwanzigste Jahr erreicht, als sein Vater starb und seine Mutter in höchst bedrängten Verhältnissen zurückließ. Vergeblich gab sich Jacques Ledun alle Mühe, seine Stellung als Obersteuermann mit der eines Kapitäns zu vertauschen. Der Mangel an Geldmitteln verhinderte ihn, sich, wie das allgemein Gebrauch war, an dem Schiffe, dessen Führung er zu übernehmen strebte, als Mitreeder zu beteiligen, und so mußte er wie bisher Obersteuermann bleiben. Eine wie wenig aussichtsreiche Zukunft eröffnete ihm diese Lage der Dinge und wie würde er je zu dem, wenn auch nur bescheidnen Vermögen kommen, das er immer im Interesse seiner Mutter einmal zu erwerben hoffte!

Seine Reisen hatten ihn nach Australien und Kalifornien geführt, wohin die Goldfunde so viele Einwandrer anlockten. Wie gewöhnlich, ist es aber immer nur der kleinste Teil, der in diesen Ländern Schätze sammelt, während die größte Mehrzahl da nur Elend und Untergang findet. Verblendet durch das Beispiel der wenigen vom Glücke Begünstigten, entschloß sich auch Jacques Ledun, auf dem so gefahrvollen Wege der Goldgräberei sein Glück zu suchen.

Jenerzeit lenkte sich die größte Aufmerksamkeit den Minen der Dominion zu, schon bevor die Metallschätze durch die Entdeckungen in Klondike einen so erstaunlichen Zuwachs erfahren hatten. Doch auch in andern, weniger entlegnen und leichter zugänglichen Teilen Kanadas fanden sich goldführende Gebiete, deren Ausbeutung unter den günstigsten Umständen vor sich ging, ohne durch die schrecklichen Winter des Yukontales unterbrochen zu werden. Eine dieser Minen, vielleicht die bedeutendste von allen, der Roi genannt, hatte damals binnen zwei Jahren einen Reinertrag von vier Millionen fünfmalhunderttausend Francs geliefert.

In den Dienst dieser Gesellschaft trat Jacques Ledun zunächst ein.

Der freilich, der darauf beschränkt ist, die Arbeit seines Gehirns oder seiner Hände zu verkaufen, der wird dabei niemals reich. Was der mutige, nur etwas unkluge Franzose träumte, durch ein glückliches Geschick schnell ein gewisses Vermögen zu erwerben, erwies sich auf dem Festlande ebenso unerfüllbar wie auf dem Meere. Ob Arbeiter oder Angestellter... er blieb sein Leben lang doch nur verurteilt, sich recht und schlecht durchzuschlagen.

Da verbreiteten sich die ersten Gerüchte von neuen Entdeckungen in dem vom Yukon bewässerten Landstriche. Der Name Klondike verblendete viele ebenso, wie die Namen Kalifornien und Australien und Transvaal sie verblendet hatten.[262]

In Massen strömten die Goldgräber hinauf nach Norden und Jacques Ledun schloß sich ihnen hoffnungsfreudig an.

Als er noch auf den Lagerstätten Ontarios arbeitete, hatte er unter andern einen gewissen Harry Brown, einen Kanadier von englischer Abkunft, kennen gelernt. Beide waren von dem nämlichen Ehrgeiz beseelt, von dem nämlichen Verlangen nach Erfolg erfüllt. Dieser Harry Brown war es, der Jacques Ledun veranlaßte, seine Stellung aufzugeben und ins Unbekannte hinauszuziehen. Mit den mäßigen Ersparnissen, über die sie verfügen konnten, brachen die beiden also nach Dawson City auf.

Da sie entschlossen waren, diesmal für eigne Rechnung zu arbeiten, sahen sie vernünftigerweise ein, daß sie sich dann nicht nach den schon allzubekannten Gebieten der Bonanza, des Eldorado oder des Sixty Miles oder Forty Miles Creek begeben dürften. Selbst wenn für die Claims daselbst noch keine unerschwinglichen Preise verlangt worden wären, hätten neue Ankömmlinge dort doch kaum noch eine freie Stelle gefunden. Man machte sich die Placers aber schon um Millionen von Dollars streitig. So hieß es also weitergehen, nach dem Norden Alaskas oder der Dominion, weit hinauf jenseits des Großen Flusses in fast noch unbekannte Gegenden, von wo einzelne wagemutige Prospektoren von dem Vorhandensein neuer Goldmengen berichteten. Sie mußten sich jedenfalls dahin wenden, wohin noch niemand gekommen war, mußten herrenlose Lagerstätten entdecken, die dem ersten gehörten, der sie für sich in Beschlag nahm.

Das hatten sich Jacques Ledun und Harry Brown reiflich überlegt.

Ohne Werkzeuge, ohne Hilfskräfte verließen sie Dawson City noch mit so vielen Geldmitteln, daß sie ihren Unterhalt damit auf etwa achtzehn Monate bestreiten konnten. Unterwegs lebten sie vom Ertrage der Jagd und zogen so aufs Geratewohl nordwärts über den Yukon durch ein fast ganz unbekanntes Land, das bis über den Polarkreis hinausreicht.

Es war zu Sommersanfang, als Jacques Ledun aufbrach, fast genau sechs Monate vor dem Tage, wo er, dem Tode nahe, dicht bei Dawson City gefunden wurde. Wie weit die beiden Abenteurer bei ihrer Wanderung gekommen, ob sie bis zur Grenze des Festlands an der Eismeerküste vorgedrungen wären, das wußte niemand. Ob sie eine Entdeckung gemacht hätten, die ihrer Mühe lohnte, das schien nicht so, wenn man nach der Mittellosigkeit des einen von ihnen urteilte. Von den beiden Genossen, die auf dem Rückwege von den Eingebornen überfallen worden waren, hatte nur Jacques Ledun das Leben retten[263] können, indem er alles, was er besaß, den Angreifern überließ. Harry Brown war unter ihren Streichen gefallen und seine Gebeine bleichten jetzt schon am Rande des Weges in jener verlassenen Gegend.

Das waren die Mitteilungen, die man bisher hatte erhalten können, die traurige Geschichte, die man auch nur brockenweise zu hören bekam, wenn der Kranke einige lichte Augenblicke hatte, denn wie Doktor Pilcox vorausgesehen hatte, nahm dessen Schwäche Tag für Tag weiter zu.

Was das Ergebnis seines Zuges in die Wildnis gewesen wäre, welche Gegend Jacques Ledun und Harry Brown erreicht hätten und aus der sie zurückkehrten, als die Indianer sie überfielen... das waren ebensoviele Geheimnisse, die in dem Grabe, worin der arme Franzose voraussichtlich bald die letzte Ruhestätte fand, für immer unenthüllt zu bleiben drohten.

Und doch gab es eine Art Dokument, das trotz seiner Unvollständigkeit über die Geschichte Leduns genügend Aufklärung gegeben hätte Jane dachte wohl öfters an dieses Blatt Papier, von dem außer ihr niemand Kenntnis hatte. Welchen Gebrauch sie davon noch machen würde, das sollte von den Umständen abhängen. Natürlich würde sie es wieder Jacques Ledun einhändigen, wenn dieser seine Gesundheit doch noch wiedererlangte. Wenn er aber nun starb? Inzwischen bemühte sich Jane trotz aller Anstrengung vergeblich, das spannende Geheimnis zu enthüllen. Daß die Landkarte die der Gegend war, wo der Franzose und sein Begleiter den letzten Sommer zugebracht hatten, unterlag wohl keinem Zweifel. Doch welche Gegend war das?... Wo verlief dieser Creek, dessen vielgewundne Linie sich von Südosten nach Nordwesten schlängelte? War das ein Nebenfluß des Yukon, des Koyukuk oder der Porcupine?

Als Jane eines Tags mit dem Kranken allein war, breitete sie vor dessen Augen die Karte aus, die doch jedenfalls von seiner Hand gezeichnet war. Jacques Leduns Blick wurde lebendiger und richtete sich einen Augenblick auf das rote Kreuz, das die Neugier der jungen Prospektorin im höchsten Maße erregt hatte. Diese war überzeugt, daß das Kreuz die Stelle einer wichtigen Entdeckung bezeichnete Der Kranke schob aber die ihm vorgewiesene Karte bald wieder von sich und schloß dann die Augen, ohne daß ein einziges Wort von ihm weitre Aufklärung über das interessante Geheimnis gegeben hätte.

Ob ihm vielleicht die Kraft zum Sprechen fehlte? Oder wollte er das Geheimnis nur bis zu seinem Ende bewahren? Wohnte im Grunde dieser Seele, die sich schon anschickte, aus dem erschöpften Körper zu entfliehen, doch noch die[264] leise Hoffnung, zum Leben zurückzukehren? Vielleicht wollte sich der Unglückliche den Preis für seine Bemühungen bewahren, vielleicht sagte er sich auch, daß er doch noch einmal zu seiner Mutter zurückkehren und dieser ein für sie erworbenes Vermögen mitbringen würde.

So vergingen wiederum mehrere Tage. Jetzt herrschte die kalte Jahreszeit in all ihrer Strenge. Wiederholt sank die Temperatur bis auf fünfzig Zentigrad unter Null und es war da unmöglich, der Kälte im Freien zu trotzen. In den Stunden, die sie nicht im Krankenhause zubrachten, verweilten die beiden Vettern in ihrem Zimmer. Nur zuweilen und nachdem sie sich bis über die Ohren in dickes Pelzwerk gehüllt hatten, begaben sie sich nach einem der Kasinos, wo jetzt ein sehr geringer Verkehr war, da sich die meisten Goldgräber vor Eintritt der strengsten Kälte nach Dyon, Skagway oder Vancouver zurückbegeben hatten.

Vielleicht hatten auch Hunter und Malone in einer dieser Städte Zuflucht gesucht. Gewiß war nur das eine, daß sie seit der Katastrophe am Forty Miles Creek niemand wiedergesehen hatte und daß sie auch nicht zu den Opfern des Erdbebens gehörten, da diese inzwischen alle rekognosziert worden waren.

In diesen häufig von tollem Schneetreiben unterbrochenen Tagen konnte Summy Skim natürlich nicht ausziehen, um mit dem getreuen Neluto die in der Umgebung von Dawson City umhertrottenden Bären zu verfolgen. Er sah sich wie alle andern genötigt, sich einer fast vollständigen Klausur zu unterwerfen, der Ursache der infolge der außerordentlichen Erniedrigung der Temperatur herrschenden Krankheiten, die die Stadt in der schlechten Jahreszeit allemal so schwer heimsuchten. Das Hospital genügte gar nicht mehr, die ihm zugeführten Kranken aufzunehmen, und der Platz, der in der Stube Jacques Leduns jedenfalls bald frei wurde, würde bestimmt sofort wieder besetzt werden.

Vergeblich hatte der Doktor Pilcox alles versucht, dem armen Franzosen wieder zu Kräften zu verhelfen. Die Arzneien schienen jedoch bei ihm alle Wirkung verloren zu haben, und sein Magen vertrug auch keinerlei Nahrung mehr Das Leben entwich sichtlich mit jedem Tage, mit jeder Stunde mehr und mehr aus dem bis aufs äußerste erschöpften Organismus.

Am Morgen des 30. November trat bei Jacques Ledun eine so schwere Krise ein, daß man glauben konnte, er werde sie nicht mehr überstehen. Er wurde höchst unruhig und trotz seiner Schwäche konnte man ihn nur mit einiger Gewalt in seinem Bette zurückhalten. Eine Beute der schlimmsten Delirien, stieß[265] er einzelne, doch immer dieselben Worte aus, jedenfalls ohne selbst zu wissen, was er sagte.

»Dort!... Der Vulkan!... Der Ausbruch... Gold... eine goldne Lava!«

Dann schrie er fast wie in höchster Verzweiflung:

»Mutter... Mutter... für dich!«

Nach und nach beruhigte sich seine Aufregung und der Unglückliche verfiel vor Ermattung in einen tiefen Schlaf. Das Leben in ihm verrieten nur noch seine kurzen, oberflächlichen Atemzüge. Der Arzt hielt es für ausgeschlossen, daß der Kranke noch einen zweiten derartigen Anfall aushalten könnte.

Am Nachmittag fand ihn Jane Edgerton, die neben seinem Bette Platz genommen hatte, bedeutend ruhiger. Er schien sogar das volle Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Ohne Zweifel war eine wesentliche Besserung des Zustandes eingetreten, wie man sie ja nicht selten vor der endlichen Auflösung beobachtet.

Jacques Ledun lag wieder mit geöffneten Augen da. Sein eigentümlich starrer Blick schien die Augen des jungen Mädchens zu suchen. Offenbar hatte er etwas auf dem Herzen, was er aussprechen wollte. Jane beugte sich nieder, um die kaum hörbaren Worte zu verstehen, die die Lippen des Sterbenden murmelten.

»Die Karte... sagte Jacques Ledun.

– Hier ist sie,« antwortete Jane lebhaft, während sie das Blatt seinem rechtmäßigen Eigentümer einhändigte.

Wie er es früher getan hatte, schob er auch jetzt das Dokument wieder zurück.

»Ich schenke es, murmelte er. Da... da... Das rote Kreuz... ein Goldvulkan...

– Wem schenken Sie diese Karte?

– Ihnen.

– Mir?

– Ja... unter der Bedingung, daß Sie... meiner Mutter gedenken.

– Ihrer Mutter? Sie wollen Ihre Mutter meiner Vorsorge empfehlen?

– Ja.

– Zählen Sie auf mich. Was soll ich aber mit Ihrer Karte beginnen?... Ich verstehe nicht, was sie bedeuten soll.«

Der Sterbende schien sich noch einmal aufzuraffen und nach kurzem Schweigen sagte er:[266]

»Ben Raddle...

– Sie wollen Herrn Raddle sehen?

– Ja.«

Schon nach wenigen Augenblicken stand der Ingenieur am Lager des Kranken, der Jane Edgerton durch ein Zeichen zu verstehen gab, daß er mit diesem allein zu sein wünschte.

Nachdem er dann unsicher tastend die Hand Ben Raddles ergriffen hatte, sagte Jacques Ledun:

»Ich werde sterben... mein Leben entflieht... ich fühle es deutlich...

– Nein nein, lieber Freund, widersprach ihm Ben Raddle. Wir werden Sie retten!

– Ich werde sterben, wiederholte Jacques Ledun. Kommen Sie nach näher... Sie haben mir versprochen, meine Mutter nicht zu verlassen... Ich vertraue Ihnen. So hören Sie und merken Sie wohl, was ich Ihnen noch sagen werde.«

Mit immer schwächer werdender, doch klarer Stimme, der Stimme eines Mannes, der noch völlig zurechnungsfähig ist und seine Intelligenz ungestört beherrscht, vertraute er Ben Raddle folgendes an:

»Als Sie mich auffanden... kam ich sehr weit... weit von Norden her. Dort sind die reichsten Lagerstätten der Welt... unnötig, die Erde aufzuwühlen. Diese selbst wirst das Gold aus ihren Eingeweiden heraus!... Ja... da... da hab' ich einen Berg entdeckt, einen Vulkan, der unermeßliche Mengen Gold enthält... einen Goldvulkan, den Golden Mount...

– Einen Goldvulkan? wiederholte Ben Raddle mit einer Stimme, die eine gewisse Ungläubigkeit verriet.

– Sie können mir ruhig glauben, erwiderte Jacques Ledun überraschend lauten Tones, während er sich im Bette aufzurichten versuchte. Sie müssen mir glauben! Wenn nicht um Ihretwillen, so doch um meiner Mutter willen... es ist meine Hinterlassenschaft, woran sie ihren Anteil haben soll. Ich habe diesen Berg erstiegen, bin auch hineingedrungen in seinen erloschenen Krater... der ist voll goldhaltigen Quarzes, voller Pepiten, die man nur aufzulesen braucht...«

Erschöpft von der gewaltsamen Anstrengung, war der Kranke bewußtlos auf seine Kissen zurückgesunken; er kam aber bald wieder zu sich. Sein erster Blick suchte den Ingenieur.

»Gut gut, murmelte er, Sie sind da, sind in meiner Nähe... Sie glauben mir... Sie werden da hinaufgehen... nach dem Golden Mount...«[267]

Seine Stimme wurde leiser. Ben Raddle, den er an der Hand noch näher heranzog, beugte sich über sein Lager.

»Unter achtundsechzig Grad siebenunddreißig Minuten der Breite, die Länge ist auf der Karte angegeben.

– Welcher Karte? fragte Ben Raddle.

– Wenden Sie sich darum... an Jane Edgerton.

– Miß Edgerton besitzt die Karte jener Gegend? fragte Ben Raddle im höchsten Erstaunen weiter.

– Ja, ich habe sie ihr gegeben. Darauf findet sich... ein mit einem Kreuz bezeichneter Punkt... in der Nähe eines Creek... des Rubber... eines linken Arms des Mackensie... genau im Norden von Klondike... ein Vulkan... dessen nahe bevorstehender Ausbruch Gold auswerfen wird, dessen Schlacken aus Goldstaub bestehen... da oben im Norden...«

In den Armen Ben Raddles halb aufgerichtet, streckte er die zitternde Hand nach jener Himmelsgegend aus.

Dann entschlüpften seinen blau gewordenen Lippen seine letzten Worte:

»Mutter... meine Mutter!«

Und mit unbeschreiblicher Innigkeit noch einmal:

»Meine liebste Mut...«

Ein konvulsivisches Zittern ging durch den Körper.

Jacques Ledun hatte ausgelitten.

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 254-257,259-268.
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