Fünfzehntes Kapitel.
Nahe am Ziele.

[214] Am 10. Oktober erglänzte das Morgenrot zum neunten Male, seit die Jolle wieder die Donau hinunterglitt. In den vorhergegangenen Tagen hatte sie fast siebenhundert Kilometer zurückgelegt. Sie näherte sich jetzt dem Orte, wo die Insassen am Abend eintreffen sollten.

Auf dem Fahrzeuge schien nichts verändert zu sein. Die Jolle trug, wie schon früher, dieselben beiden Personen, Serge Ladko und Karl Dragoch, von denen der eine wieder zum Fischer Ilia Brusch, der andre zu dessen gutmütigem Passagier geworden war.[214]

Die Art und Weise, wie der erste aber jetzt seine Rolle spielte, machte es dem zweiten sehr schwer, in der seinigen zu bleiben. Hypnotisiert von dem Verlangen, nach Rustschuk zu kommen, ruderte Serge Ladko den ganzen Tag und vernachlässigte dabei die nötigsten Vorsichtsmaßregeln. Er hatte nicht nur seine Brille abgelegt, sondern auch – beim Mangel an Rasierzeug und Färbemitteln im Gefängnis – gar nicht mehr daran gedacht, die leichte Erkennbarkeit seiner Person wieder zu erschweren. Seine Haare wurden von Tag zu Tag heller, und der blonde Bart erreichte schon eine recht respektable Länge.

Es wäre ja natürlich gewesen, wenn Karl Dragoch sein Erstaunen über eine solche Verwandlung zu erkennen gegeben hätte; der sagte aber nichts. Entschlossen, dem Wege, auf den er sich nun einmal eingelassen hatte, bis ans Ende zu folgen, wollte er einfach nichts sehen, was das Verhältnis zwischen beiden hätte stören können.

Als er zuletzt Serge Ladko Aug' in Auge gegenüberstand waren Karl Dragochs frühere Ansichten schon stark erschüttert worden und er fühlte sich jetzt weit weniger geneigt, eine Schuldhaftigkeit seines Reisegefährten anzunehmen.

Das Ergebnis der Untersuchungskommission in Szalka war die erste Ursache dieser Sinnesänderung gewesen. Karl Dragoch hatte daraufhin noch persönlich weitere Erkundigungen eingezogen, und, schwerer zufriedenzustellen als der Polizeikommissar in Gran, hatte er die Bewohner der Stadt noch eingehender befragt, deren Antworten aber hatten in ihm einigen Zweifel erweckt.

Daß ein gewisser Ilia, ein Mann von ganz einwandfreiem Verhalten, Szalka als Wohnsitz erwählt, dieses aber kurz vor dem Wettbewerb in Sigmaringen verlassen habe, das wurde unbestreitbar festgestellt. Über eine zweite Frage, ob dieser Ilia Brusch nach jenem Wettbewerbe, und vorzüglich in der Nacht vom 28. zum 29. August hier wieder gesehen worden sei, lauteten die Aussagen verschieden.

Die nächsten Nachbarn glaubten sich zwar erinnern zu können, gegen Ende August Licht im Häuschen des Fischers gesehen zu haben, etwas Bestimmtes konnten sie aber nicht angeben. So unklar und zögernd diese Erklärungen auch abgegeben worden waren, vermehrten sie doch die Verwirrung des Polizisten.[215]

Nun blieb noch ein dritter Punkt aufzuhellen: Wer war der Mann gewesen, den der Graner Kommissar in der vom Angeklagten selbst angegebenen Wohnung gesprochen hatte? Hierüber konnte Dragoch keinerlei Auskunft erhalten. Da fast jedermann in Szalka Ilia Brusch kannte, mußte dieser, wenn er unlängst hierhergekommen war, in ein und derselben Nacht eingetroffen und wieder fortgegangen sein, da ihn ja niemand bemerkt hatte. Ein solches schon an sich verdächtiges Geheimnis erschien noch merkwürdiger, als Karl Dragoch den Wirt eines kleinen Gasthauses befragt hatte, bei dem sich am 12. September, sechsunddreißig Stunden vor dem Eingreifen des Polizeikommissars von Gran, ein Unbekannter nach der Adresse Ilia Bruschs erkundigt hatte. Das Problem wurde verwickelter, und das noch mehr, als der dringender befragte Schenkwirt von dem Unbekannten eine Beschreibung geliefert hatte, die Zug für Zug mit dem Bilde übereinstimmte, das nach allgemeiner Anschauung auf den Anführer der Donauräuberbande zutraf.

Alles das veranlaßte Karl Dragoch zum Nachdenken. Er witterte hier verdächtige Dinge und hatte die Empfindung, einer recht nebelhaften Machination gegenüberzustehen, deren Zweck er nicht durchschaute, bei der es aber möglich erschien, daß der Angeklagte ihr Opfer werden sollte.

Dieser Eindruck verstärkte sich in ihm noch weiter, als er nach seiner Rückkehr nach Semlin den Verlauf der Untersuchung erfuhr. Nach zwanzig Tagen war diese eigentlich keinen Schritt vorwärts gekommen. Kein Mitschuldiger war entdeckt worden, kein Zeuge hatte den Gefangnen mit Sicherheit rekognosziert, und gegen Serge Ladko lag noch immer keine weitere Beschuldigung als die vor, seine Erscheinung künstlich verändert und ein weibliches Porträt im Besitz gehabt zu haben, in dessen Unterschrift der Name Ladko vorkam.

Das wäre nun ja, in Verbindung mit andern Hinweisen, recht wertvoll gewesen, verlor aber einzeln betrachtet, sehr an Bedeutung. Vielleicht hatten jene Verkleidung und das Vorhandensein des Bildes einen ganz harmlosen Grund.

Bei seinem jetzigen Gedankengange fühlte sich Karl Dragoch mehr zum Mitleid geneigt. Deshalb hatte ihn auch tief das naive Geständnis Serge Ladkos ergriffen, das dieser unter Umständen ablegte, die es entschuldigt hätten, wenn er auch seinem besten Freunde mißtraute.


Der befragte Schenkwirt hatte von dem Unbelaunten eine Beschreibung geliefert. (S. 216.)
Der befragte Schenkwirt hatte von dem Unbelaunten eine Beschreibung geliefert. (S. 216.)

War es nun so unmöglich, diese Empfindung von Mitgefühl mit seinen Amtspflichten soweit in Übereinstimmung zu setzen, daß er sogar wieder in der Jolle Platz nahm? Wenn Ilia Brusch wirklich Ladko[216] hieß, und dieser Ladko war ein anerkannter Verbrecher, würde Karl Dragoch, indem er sich ihm anschloß, dessen Mitschuldige auf falsche Spuren verleiten. Wenn er aber unschuldig war, würde er ihm vielleicht trotzdem den wirklichen Schuldigen zuführen, von dem man seit dem Vorfalle in Szalka wenigstens schon eine Art Schattenbild besaß.[217]

Diese etwas gewagten Schlußfolgerungen entbehrten doch nicht gänzlich der Logik. Das elende Aussehen Serge Ladkos, der übermenschliche Mut, den er bei seiner so phantastischen Entweichung an den Tag gelegt hatte, vor allem aber auch die Erinnerung an den Dienst, den er ihm früher mit so heroischer Einfachheit geleistet hatte, taten noch das übrige. Karl Dragoch verdankte sein Leben dem Unglücklichen, der keuchend, mit blutigen Händen und im Gesicht von Schweiß überrieselt vor ihm stand. Sollte er ihn als Dank in die Semliner Hölle zurücksenden? Nein, das brachte der Detektiv nicht übers Herz.

»Kommt, kommt!« sagte er nur auf den freudigen Ausruf des Flüchtlings, den er mit sich zum Strome hinzog. –

In den letztverflossenen acht Tagen waren zwischen den beiden Männern nur wenige Worte gewechselt worden. Serge Ladko schwieg ja gewöhnlich still und nahm alle seine Kräfte zusammen, die Schnelligkeit des Bootes zu vergrößern.

In abgebrochnen Sätzen, die ihm schon mehr abgerungen werden mußten, schilderte er seine unerklärlichen Abenteuer von der Mündung der Ipoly an. Er berichtete von der langen Hast im Semliner Gefängnis, die er nach einer noch unerklärlicheren Einsperrung an Bord eines ihm unbekannten Schiffes erlitten hatte. Diejenigen sprachen also nicht die Wahrheit, die ihn zwischen Budapest und Semlin gesehen haben wollten, da er auf dieser Strecke ja mit gefesselten Händen und Füßen auf einer Schute eingeschlossen gewesen war.

Auf diese Mitteilungen hin, veränderte sich die ursprüngliche Anschauung Karl Dragochs mehr und mehr. Wider seinen Willen konstruierte er sich doch einen Zusammenhang zwischen dem Überfall, dessen Opfer Ilia Brusch geworden war, und dem Auftreten eines Doppelgängers in Szalka. Ohne Zweifel war der Fischer irgend jemand im Wege und der Verfolgung eines unbekannten Feindes preisgegeben, dessen Personbeschreibung mit der des wirklichen Verbrechers übereinzustimmen schien.

So näherte sich Karl Dragoch also der Wahrheit. Außerstande, seine Schlußfolgerungen zu kontrollieren, fühlte er wenigstens, daß der von ihm früher gehegte Verdacht sich mehr und mehr verflüchtigte.

Nichtsdestoweniger dachte er keinen Augenblick daran, die Jolle zu verlassen, um zurückzukehren und seine Nachforschungen, neuen Spuren[218] folgend, wieder aufzunehmen. Sein Spürsinn als Polizist sagte ihm, daß die jetzige Spur eine gute wäre, und daß der wahrscheinlich schuldlose Fischer doch in irgendwelcher Weise mit der Geschichte der Räuberbande von der Donau verknüpft sei. Längs des obern Flußlaufes herrschte übrigens vollkommne Ruhe, und die nacheinander verübten Schandtaten lieferten den Beweis, daß auch ihre Urheber auf dem Strome, mindestens bis Semlin, hinuntergefahren waren. Da sprach also sehr vieles dafür, daß sie während der Hast Ilia Bruschs ihre Fahrt stromabwärts fortgesetzt haben dürften.

Hiermit täuschte sich Karl Dragoch nicht. Iwan Striga war bei der Abfahrt von Semlin, mit zwölf Tagen Vorsprung gegenüber der Jolle, auf der Weiterfahrt zum Schwarzen Meere begriffen. Diese zwölf Tage Vorsprung verlor er aber nach und nach die Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen verminderte sich mehr und mehr, und Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute näherte sich die von Serge Ladko mit allem Kraftaufwand angetriebne Jolle unerbittlich der vorausfahrenden Schute.

Serge Ladko hatte freilich nur ein Ziel: Rustschuk, nur einen Gedanken: Natscha. Wenn er die frühern Vorsichtsmaßregeln zur Bewahrung seines Inkognitos vernachlässigte, geschah das, weil er wirklich nicht mehr daran dachte. Was hätten sie jetzt auch genützt? Sich nach seiner Verhaftung und Entweichung Ilia Brusch statt Serge Ladko zu nennen, wäre eines ebenso verdachterweckend gewesen wie das andre. Unter jedem dieser beiden Namen konnte er sich fortan nur heimlich nach Rustschuk einschleichen, da er sonst Gefahr lief, auf der Stelle abgefaßt zu werden.

Von seinen Gedanken eingenommen, hatte er in diesen acht Tagen den Ufern gar keine Aufmerksamkeit zugewendet. Geachtet hatte er nur noch auf Belgrad – die »weiße Stadt«, die längs eines Hügels ansteigt, der den Konak, die Wohnung des Fürsten überragt, und die noch eine Vorstadt hat, wo ein ungeheurer Warenverkehr stattfindet – weil Belgrad die Grenze bezeichnete, wo das Machtbereich Izar Ronas aufhörte. Weiterhin bemerkte und beachtete der Fischer so gut wie nichts.

Er sah weder Semendria, die alte Hauptstadt Serbiens, die wegen der sie umrahmenden Rebenhügel berühmt ist, noch Colombats, wo man eine Höhle zeigt, in der der Ritter Georg der Sage nach den Körper des[219] eigenhändig getöteten Drachens niedergelegt haben soll, weder Orsowa, wo die Donau zwischen zwei früher türkischen Provinzen hinströmt, noch das Eiserne Tor, die so gefährliche Stelle, wo sich die Donau schäumend zwischen lotrechten, vierhundert Meter hohen Felswänden hindurchzwängt und wütend gegen die Felsblöcke brandet, die in ihrem Bette verstreut liegen, auch nicht Widdin, die erste bulgarische Stadt von einiger Bedeutung, so wenig wie Nikopoli oder Sista, zwei andre bekannte Städte, die er oberhalb Rustschuks passieren mußte.

Mit Vorliebe hielt er sich nahe dem serbischen Ufer, wo er sich sichrer fühlte, und tatsächlich wurde er auch bis nach der Überwindung des Eisernen Tores von der Polizei nicht belästigt.

Erst in Orsowa war es, wo ein Boot der Strompolizei die Jolle zum Anhalten aufforderte. Sehr beunruhigt folgte Serge Ladko dem Gebote und er fragte sich, was er auf die nun unausbleiblichen Fragen antworten sollte.

Niemand richtete jedoch eine Frage an ihn. Auf ein Wort Karl Dragochs verneigte sich der Führer der kleinen Abteilung höflich, und von einer Durchsuchung war keine Rede mehr.

Dem Piloten fiel es gar nicht ein, sich darüber zu wundern, daß ein Wiener Bürger hier über die öffentliche Gewalt nach Belieben verfügte. Glücklich, so leichten Kaufs davonzukommen, fand er eine Machtvollkommenheit, die zu seinem Vorteil gereichte, ganz natürlich, und er gab auch kein Erstaunen, sondern einfach eine zunehmende Ungeduld zu erkennen, als das Gespräch zwischen dem Polizisten und seinem Untergebenen sich verlängerte.

Sowohl den Anordnungen des über die Entweichung seines Gefangnen wütenden Izar Rona, als den von Karl Dragoch selbst ausgegangnen nach, war die polizeiliche Überwachung des Stromes bedeutend verschärft worden. Von einer Strecke zur andern zwang man die Schiffe, eine Reihe von Stromsperren zu passieren, von denen die bei Orsowa eine der wichtigsten war. Die starke Einengung des Strombetts erleichterte die Überwachung, und es war unmöglich, daß ein Fahrzeug hier anders als nach gründlichster Durchsuchung vorüberkommen konnte.

Als Karl Dragoch seinen Untergebnen befragte, erfuhr er gleichzeitig, daß die Nachsuchungen bisher fruchtlos gewesen seien, und daß vor zwei[220] Tagen auf rumänischem Gebiete wieder ein beträchtlicher Einbruch und Diebstahl vorgekommen sei, und zwar an der Einmündung des Jirel, fast genau gegenüber der bulgarischen Stadt Rahowa.

Den Donauräubern war es also gelungen, durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen. Da nun die Bande die Gewohnheit hatte, sich nicht nur Gold und Silber, sondern wertvolle Gegenstände jeder Art anzueignen, mußte ja ihre Beute von beträchtlichem Umfang sein, und es erschien geradezu unbegreiflich, daß davon keine Spur gefunden worden wäre, da das betreffende Fahrzeug einer Durchsuchung nicht hatte entgehen können.

Und doch verhielt es sich so.

Karl Dragoch war verblüfft über eine solche Schlauheit, mußte sich aber den Tatsachen fügen, da die Banditen sich auf der weitern Talfahrt durch mancherlei Vergehen in Erinnerung brachten.

Das konnte nur zu dem Entschlusse führen, sich möglichst zu beeilen. Ort und Datum des letztgemeldeten Diebstahls zeigten, daß dessen Urheber der Jolle noch dreihundert Kilometer voraus waren. Berücksichtigte man nun die Zeit, in der Ilia Brusch festgesessen hatte, eine Zeit, die die Donaubanditen gewiß gut genug ausgenutzt hatten, so ergab es sich, daß die Schnelligkeit der Schute nur halb so groß wie die der Jolle war. Es erschien also nicht unmöglich, sie auf der Fahrt noch einzuholen.

Beide fuhren nun auf der Stelle ab, und in den ersten Morgenstunden des 6. Oktobers wurde die bulgarische Grenze überschritten. Von hier aus hielt sich Serge Ladko, der bisher immer nahe dem rechten Ufer geblieben war, im Gegenteil so nahe wie möglich dem rumänischen Ufer, obwohl von Lom-Palanka aus eine Reihenfolge acht bis zehn Kilometer breiter Sümpfe die Annäherung an dieses verzögern und das Anlegen daran unmöglich machen mußte.

So sehr er aber auch in seine Gedanken versunken war, war ihm der Strom selbst, sobald sie die bulgarischen Gewässer erreicht hatten, doch recht verdachterweckend erschienen. Darauf glitten eine Menge Dampfschaluppen, Flußtorpedos und selbst Kanonenboote mit der ottomanischen Flagge hin. In Voraussicht des Krieges mit Rußland, der nach weniger als einem Jahre ausbrechen sollte, begann die Türkei schon einen Wachdienst auf der Donau, die sie mit einer wirklichen Flottille bevölkerte.[221]

Bei der überall drohenden Gefahr zog es der Pilot vor, sich fern von den türkischen Schiffen zu halten, müßte er deshalb auch den rumänischen Behörden in die Hände laufen, denn er hoffte, denen gegenüber werde ihn Jäger ebenso wie vorher in Orsowa beschützen können.

Die Gelegenheit, eine neue Probe von dem Einflusse seines Passagiers zu erleben, blieb jedoch aus; kein Zwischenfall unterbrach diesen letzten Teil der Fahrt, und am 10. Oktober Nachmittag gegen vier Uhr gelangte die Jolle endlich auf die Höhe von Rustschuk, das man am andern Ufer deutlich sehen konnte. Der Pilot steuerte da in die Mitte des Stromes, stellte zum ersten Male die Handhabung seiner Riemen ein und ließ den kleinen Anker auf den Grund sinken.

»Was bedeutet denn das? fragte Karl Dragoch verwundert.

– Ich bin an meinem Ziele, antwortete Serge Ladko trocken.

– Am Ziele?... Wir sind aber doch noch nicht am Schwarzen Meere?

– Ja, ich habe Sie getäuscht, Herr Jäger, gestand Serge Ladko ohne Umschweif. Ich habe nie die Absicht gehabt, bis zum Schwarzen Meer hinunterzufahren.

– Bah! entschlüpfte es dem Detektiv, der etwas aufmerksamer wurde.

– Nein, ich bin mit der Absicht abgefahren, in Rustschuk, wo wir jetzt sind, Halt zu machen.

– Wo liegt denn Rustschuk?

– Da drüben, erklärte der Pilot, der mit der Hand nach den entfernten Häusern der Stadt hinwies.

– Warum fahren wir dann nicht vollends dahin?

– Weil ich dazu die Nacht abwarten muß. Man spürt mir nach und verfolgt mich. Am Tage laufe ich Gefahr, nach den ersten Schritten dort verhaftet zu werden.«

Die Sache wurde interessant. Sollte der ursprünglich von Karl Dragoch gehegte Verdacht also doch begründet sein?

»Wie in Semlin? murmelte er halblaut.

– Ja, wie in Semlin, bestätigte Serge Ladko höchst gelassen, doch nicht aus denselben Gründen: Ich bin ein ehrlicher Mann, Herr Jäger.

– Das bezweifle ich nicht, Herr Brusch, obgleich es nur selten achtbare Gründe sind, weswegen man eine Verhaftung zu befürchten hat.[222]

– Die meinigen sind von dieser Art, Herr Jäger, versicherte Serge Ladko kühl. Erlauben Sie mir, sie nicht darzulegen. Ich habe mir geschworen, sie für mich zu behalten; diesen Eid verletze ich nicht.«

Karl Dragoch billigte das durch eine Geste, die die vollkommenste Gleichgültigkeit ausdrückte. Der Pilot fuhr fort:

»Ich begreife, Herr Jäger, daß Sie nicht wünschen, in meine Angelegenheiten eingemengt zu werden. Wenn Sie wollen, setze ich Sie auf rumänischem Boden ab. Sie entgehen damit allen Gefahren, denen ich ausgesetzt sein kann.

– Wie lange denken Sie in Rustschuk zu bleiben? fragte Karl Dragoch, ohne auf jene Worte unmittelbar einzugehen.

– Das weiß ich nicht, sagte Serge Ladko. Gestalten sich die Dinge hier für mich günstig, so werd' ich vor Tage auf der Jolle zurück sein, dann aber nicht allein. Andernfalls weiß ich noch nicht, was ich tun werde.

– Ich gehe mit Ihnen jedenfalls bis ans Ende, erklärte Karl Dragoch ohne Zögern.

– Wie's Ihnen beliebt!« beendete Serge Ladko das Gespräch ohne jede andre Bemerkung.

Mit anbrechender Nacht ergriff er wieder die Riemen und näherte sich dem bulgarischen Ufer. Als er stromabwärts von den letzten Häusern der Stadt landete, war es ganz finster.

Einzig und allein sein Ziel im Auge, handelte Serge Ladko jetzt in der Weise einer Somnambüle. Seine schnellen und bestimmten Bewegungen führten aus, was er tun mußte, was ihm unmöglich gewesen wäre, nicht zu tun. Blind für alles, was ihn umgab, hatte er nicht einmal gesehen, daß sein Gefährte in der Kabine verschwunden war, als er den kleinen Anker herausholte. Für ihn war die ganze äußre Welt so gut wie verschwunden, für ihn gab es nur noch einen Traum. Und dieser, trotz der Nacht sonnenhell vorliegende Traum, das war sein bescheidnes Haus und darin Natscha! Außer Natscha gab es für ihn unter dem Himmelsdome nichts weiter.

Sobald der Bug des Bootes ans Ufer stieß, sprang er ans Land, legte das Boot fest und entfernte sich schnellen Schrittes.

Sofort kam auch Karl Dragoch unter dem Schutzdache hervor. Er hatte seine Zeit nicht vergeudet. Wer hätte den Polizisten mit dem energischen,[223] bewußten Wesen wohl wiedererkannt in diesem schwerfälligen Tölpel, der getreuen Kopie eines ungarischen Bauern?

Der Detektiv stieg ebenfalls ans Land, und der Spur des Piloten nachgehend, begann jetzt noch einmal eine Jagd.

Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 214-224.
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