Vierzehntes Capitel.
Das Leben auf Jona.

[115] Inzwischen tauchte Jona – mit seinem alten Namen »die Insel der Wogen« – der Abbé-Hügel in der Mitte etwa vierhundert Fuß über der Meeresfläche emporragend, mehr und mehr auf, und der Dampfer näherte sich demselben raschen Fluges.

Gegen Mittag legte der »Pioneer« an einem aus kaum behauenen Steinen errichteten Hafendamm daselbst an, den das oftmals darüber spülende Wasser im Laufe der Zeit ganz grün gefärbt hatte. Die Passagiere gingen an's Land, die Einen, und zwar die Mehrzahl, um sich schon nach einer Stunde wieder einzuschiffen und durch die Meerenge von Mull nach Oban zurückzukehren, die Anderen in kleinerer Zahl, wir wissen ja welche, mit der Absicht, auf Jona zu bleiben.

Die Insel besitzt keinen eigentlichen Hafen. Ein Steinwall schützt eine der kleinen Einbuchtungen gegen die heranrollenden Wellen – nichts weiter. Hierher flüchten sich während der schönen Jahreszeit einige Lustyachten und Fischerboote, welche das benachbarte Meer ausbeuten.

Miß Campbell und ihre Begleiter, welche die übrigen Touristen ihrem Programm, die Insel binnen zwei Stunden zu sehen, ruhig überließen, beschäftigten sich damit, zunächst ein geeignetes Unterkommen zu finden.[115]

Die Bequemlichkeit und Pracht der vornehmen Badeorte des Vereinigten Königreiches durfte man hier freilich nicht erwarten.

Jona mißt nämlich nur drei Meilen in der Länge, bei einer Meile Breite und zählt kaum fünfhundert Einwohner. Der Herzog von Argyle, dem es gehört, bezieht davon eine Rente von nur wenigen Hundert Pfund Sterling. Hier giebt es weder eine eigentliche Stadt, noch einen Flecken, ja nicht einmal ein wirkliches Dorf; man trifft nur wenige verstreut liegende Häuser, die meisten einfache Hütten, welche wohl malerisch zu nennen sind, aber sich oft in sehr baufälligem Zustande befinden, meist keine Fenster haben, sondern einzig und allein durch die Thür Licht empfangen, verfallene Nester ohne Rauchfang, dafür mit einer Oeffnung im Dache, mit Mauern von Lehm und Stroh, umgeben von Hecken aus Rosen und Haidekraut, welche mit langen Varec-Stengeln verbunden sind.

Wer würde glauben, daß Jona zu Anfang der skandinavischen Geschichte die Wiege der Religion der Druiden gewesen ist? Wer könnte ahnen, daß später, im sechsten Jahrhundert, der heilige Columban – ein Irländer, dessen Namen jenes auch trägt – daselbst zum Unterrichte in der neuen Religion Christi das erste Kloster Schottlands gründete, welches Mönche aus Cluny bis zur Zeit der Reformation bewohnten? Wo hatte man jetzt die ausgedehnten Baulichkeiten zu suchen, welche gleichsam das Seminar der Bischöfe und Aebte des Vereinigten Königreichs darstellten? Wo könnte man inmitten dieser Trümmer, die an Ueberlieferungen aus der Vergangenheit, an Manuscripten, betreffend die romanische Geschichte, so reiche Bibliothek wiederfinden, aus deren Quelle die Gelehrten jener Zeit mit so großem Gewinn schöpften? – Gegenwärtig ist von Allem nichts übrig als Ruinen, hier, von wo die Civilisation, welche den Norden Europas so tiefgreifend umgestalten sollte, ihren Ausgang nahm. Aus dem ehemaligen Sainte-Columba ist das heutige Jona geworden, mit wenigen Hunderten ungebildeter Bauern, welche dem sandigen Boden der Insel nur mühsam die armselige Gerstenernte abnöthigen und etwas an Kartoffeln und Korn gewinnen, nebst noch wenigeren Fischern, die ihr Leben durch den Fischfang in den reichen Gewässern der Hebriden fristen.

»Miß Campbell, sagte Aristobulos Ursiclos wegwerfend beim ersten Rundblick, glauben Sie, daß sich das mit Oban messen kann?

– O, es übertrifft dasselbe, antwortete Miß Campbell, obgleich sie ohne Zweifel dabei dachte, daß die Insel jetzt wenigstens einen Bewohner zu viel beherberge.[116]

In Ermangelung eines Casino oder Hôtels entdeckten die Brüder Melvill wenigstens eine halbwegs annehmbare Schänke, in der die Touristen absteigen, welche sich nicht mit der beschränkten Zeit begnügen, die der Dampfer ihnen zum Besuch der druidischen und christlichen Ruinen Jonas gönnt. Sie konnten sich also noch am nämlichen Tage in dem »Panzer Duncan's« einquartieren, während Olivier Sinclair und Aristobulos Ursiclos, jeder wohl oder übel in einer benachbarten Fischerhütte Unterkommen fanden.

Die Gemüthsstimmung der Miß Campbell war jedoch eine solche, daß sie sich in ihrem kleinen Zimmerchen vor dem nach Westen hinausschauenden Fenster ebenso wohl befand, wie auf der Terrasse des Hauptthurmes auf der Villa Helenenburg, und jedenfalls besser als im Salon des Caledonian-Hôtels Hier bot sich ihrem Blicke eine unbegrenzte Fernsicht, hier unterbrach kein Eiland die Kreislinie des Horizonts, und mit Aufgebot einiger Phantasie hätte sie hier, in dreitausend Meilen Entfernung, an der entgegengesetzten Seite des Atlantischen Meeres die amerikanische Küste sehen können. In der That, hier hatte die Sonne eine prächtige Bühne, um die Vorstellung eines glänzenden Untergangs zu geben.

Das gemeinsame Leben ordnete sich also leicht und einfach. Die Mahlzeiten wurden in dem unteren Saale der Schänke in Gesellschaft eingenommen. Nach alter Gewohnheit setzten sich hier Beß und Patridge mit an den Tisch ihrer Herrschaft. Aristobulos Ursiclos zeigte sich hierüber vielleicht ein wenig überrascht, Olivier Sinclair dagegen fand nichts weiter dabei. Er empfand schon eine gewisse Zuneigung zu diesen zwei Dienern, welche sie ihm reichlich vergalten.

Nun führte also die Familie das alte schottische Leben in all' seiner Einfachheit. Nach den Spaziergängen auf der Insel und den sie belehrenden Unterhaltungen über alte Zeiten, in welche Aristobulos Ursiclos immer zur Unzeit seine modernen Bemerkungen einflechten mußte, kam man zum Mittagsessen, und Abends acht Uhr zum Abendbrot zusammen. Den Sonnenuntergang beobachtete Miß Campbell aber bei jeder Witterung, selbst bei ganz bedecktem Himmel. Wer weiß, in der untersten Wolkenzone konnte ja doch eine Lichtung, ein Spalt, eine Oeffnung entstehen, um den letzten Sonnenstrahl hindurch blitzen zu lassen.

Und welche Mahlzeiten gab es da! Die echten Vollblut-Caledonier Walter Scott's. die Gäste bei einem Mittagsmahle Fergus Mac Gregors, bei einem Abendessen Oldbuck's, des Antiquars, hätten an den nach altschottischer Weise hergestellten Gerichten gewiß nichts auszusetzen gehabt. Frau Beß und Patridge fühlten sich. um ein Jahrhundert zurückversetzt, ganz überglücklich, als hätten sie[117] zur Zeit ihrer Voreltern gelebt. Bruder Sam und Bruder Sib ließen sich mit offenbarem Vergnügen die culinarischen Leistungen gefallen, welche sie an die früher in der Familie Melvill üblichen errinnerten.

Hier die Ausrufe, welche man in dem unteren, zum Speisesaal umgewandelten Raume hörte:

»Ein wenig von den Hafermehl-»Cakes«, die weit schmackhafter sind, als die weichlichen Kuchen von Glasgow.

– Und etwas von jenem »Sowens« (Hafermus), das die Bewohner der Hochlande noch immer so sehr lieben.

– Mehr von Haggis, den unser großer Dichter Burns für werth gehalten hat, als den ersten, den besten, den nationalsten aller schottischen Puddings zu besingen.

– Noch etwas »Cockylecky«! Wenn der Hahn auch etwas hart ist, so ist der Lauch, der dazu servirt wird, desto vorzüglicher!

– Und zum dritten Male einen Teller »Hotchpotch«, eine vollendetere Suppe, als je eine in der Küche der Helenenburg bereitet wurde!«

O, man speiste vortrefflich im »Panzer Duncans« wenigstens so lange aller zwei Tage frischer Proviant zu haben war durch Vermittlung der Dampfer, welche den Dienst zwischen den kleinen Hebriden versahen. Und man trank daselbst auch gut.

Es hätte sie nur einer sehen sollen, die Brüder Melvill, wenn sie sich, das Glas in der Hand, ein Gütchen thaten oder sich aus Humpen gegenseitige Gesundheit zutranken, aus großen Gefäßen, welche nicht weniger als vier englische Pinten faßten, und in denen der »Usquebaugh«, das nationale Bier par excellence, schäumte, oder der bessere, speciell für Gäste eingebraute »Hummok«! Und dann der aus Gerste gewonnene Whisky, dessen Gährung sich noch im Magen des Trinkenden fortzusetzen scheint. Hätte es aber an starkem Biere gemangelt, so würden sie sich auch mit dem aus Weizen destillirten »Mum« begnügt haben, selbst mit dem sogenannten »Zweipencer«, dem ja immer noch durch ein kleines Gläschen »Gin« nachzuhelfen war. In der That, es kam ihnen gar nicht in den Sinn, den Sherry und Portwein aus den Kellern von Helensbourgh oder Glasgow haben zu wollen.

Wenn der an allen Comfort der Neuzeit gewöhnte Aristobulos Ursiclos nicht unterlassen konnte, sich zuweilen über Gebühr zu beklagen, so schenkte dem Niemand besondere Beachtung.[118]

Wenn ihm die Zeit auf diesem kleinen Fleckchen Erde lang wurde, so enteilte sie den Anderen desto schneller, und Miß Campbell zürnte gar nicht mehr über die Dünste, welche allabendlich den Horizont verschleierten.

Gewiß ist Jona nicht groß; braucht denn aber der, welcher in freier Luft zu lustwandeln liebt, dazu so ausgedehnten Raum? Kann nicht ein kleines Garteneckchen denselben Reiz ausüben, wie der größte königliche Park? – Es wurden also viele Spaziergänge unternommen. Olivier Sinclair bereicherte sein Skizzenbuch mit der und jener hübschen Ansicht. Miß Campbell sah ihm zu, wenn er zeichnete, und dabei verstrich ganz unbemerkt die Zeit.

Der 26., 27., 28. und 29. August vergingen ohne eine Minute Langweile. Dieses Wildlingsleben paßte vollständig zu der wilden Insel, an deren kahlen Felsen das Meer ohne Unterlaß brandete.

Ganz glücklich, jener neugierigen, plauderhaften, alles ausspürenden Menge der Badeorte entflohen zu sein, ging Miß Campbell hier ganz so aus, wie sie es im Park der Helenenburg gethan hätte, mit dem »Roquelay«, der sie gleich einer Mantille umhüllte, als Kopfschmuck nur einen einzigen »Snod«, jenes durch das Haar geflochtene Band, das den jungen Schottinnen so vorzüglich steht. Olivier Sinclair konnte sich nicht enthalten, den Liebreiz ihrer Persönlichkeit, die Anmuth, welche auf ihn – und er war sich hierüber übrigens gar nicht im Unklaren – so anziehend wirkte, rückhaltslos zu bewundern. Oefters lustwandelten Beide plaudernd, ausschauend und träumend bis zur Strandlinie der Insel und durchsuchten nach Muscheln den Tang, der von der letzten Fluth an's Land gespült worden war. Vor ihnen flatterten in zahlreichen Völkern schottische Tauchergänse auf, jene »Tamnie-nories«, deren Einsamkeit sie gestört hatten, oder »Pictarnies«, die sich auf dem Anstand auf kleine, von den Brandungswellen an's Ufer geworfene Fischchen befanden, oder endlich sogenannte »Tölpel von Bassan« mit tiefschwarzem Gefieder, nur weiß an den Flügelspitzen, und gelblich am Kopfe und Halse, welche speciell die Familie der Palmipeden in der Ornithologie der Hebriden repräsentiren.

Wie gerne verbrachte dann, wenn der Abend gekommen und die Sonne wie gewöhnlich in ihr Nebelbett zur Ruhe gegangen war, Miß Campbell und die übrige Gesellschaft noch vereint die ersten Stunden der Nacht auf einsamem stillen Strande. Am Himmel stiegen die flimmernden Sterne empor, und mit ihnen erwachten alle Erinnerungen an die Lieder Ossian's. Inmitten tiefen Schweigens lauschten Olivier Sinclair und Miß Campbell, wie die beiden Brüder[119]

abwechselnd Verse des alten Barden, des unglücklichen Sohnes Fingal's, recitirten.

»O Stern, der Nacht vertraulicher Genosse, dess' Haupt sich strahlend aus den Wolken hebt, der majestätischen Schrittes auf dem Azur des strahlenden Firmaments vorübergleitet – was blickst du nach der Ebene herab?


Er schlug mit einem Hammer auf den Kreuzhügel los. (S. 123.)
Er schlug mit einem Hammer auf den Kreuzhügel los. (S. 123.)

»Des Sturmes laute Stimme schweigt, am Felsen nur murmeln leis' die Wellen, Libellen mit durchsichtigen Flügeln schwirren allein noch in der heiligen Ruhe der Nacht.


Es war Aristobulos Ursiclos, der die Dimensionen der Kathedrale maß. (S. 125.)
Es war Aristobulos Ursiclos, der die Dimensionen der Kathedrale maß. (S. 125.)

»Du Strahlenstern, was blickst du nach der Eb'ne? Doch seh' ich schon, wie du dich freundlich lächelnd zum fernen Rand des Horizonts herabneigst – Leb' wohl, leb' wohl, du schweigend Himmelslicht!«

Dann schwiegen auch Bruder Sam und Bruder Sib, und Alle kehrten nach ihren kleinen Stübchen in der[120] Schänke und in den Fischerhütten zurück.

So wenig die Brüder Melvill indeß Hellseher waren, mußten sie doch nothwendig die Bemerkung machen, daß Aristobulos Ursiclos in den Augen der Miß Campbell gerade so viel verlor, wie Olivier Sinclair gewann. Die beiden[121] jungen Männer mieden sich so viel wie möglich. Die beiden Onkels versuchten deshalb, selbst mit einiger Mühe, diese kleine Welt unter einen Hut zu bringen und gelegentliche Annäherungen herbeizuführen, sogar auf die Gefahr hin, ihre Nichte darüber schmollen zu sehen. Sie wären ja so glücklich gewesen, wenn Ursiclos und Sinclair einander näher getreten wären, statt sich zu fliehen, statt gegenseitig eine etwas verächtliche Zurückhaltung zu beobachten. Bildeten sie sich etwa ein, daß alle Menschen Brüder sein könnten, und gar Brüder, so wie sie selbst?

Endlich manövrirten sie so geschickt, daß man am 30. August übereinkam, in Gesellschaft die im Nordwesten wie im Süden des Hügels des Abbés gelegenen Ruinen der früheren Kirche, des Klosters und des zugehörigen Friedhofes zu besuchen. Diese Promenade, welche den Touristen gewöhnlich nur zwei Stunden raubt, war von den neuen Bewohnern Jonas noch unterlassen worden. Das fühlten sie jetzt als einen Mangel an Höflichkeit gegen die legendenhaften Schatten der Einsiedler-Mönche, welche ehemals ihre Hütten an der Küste hatten, als einen Mangel an Rücksicht gegen die großen Todten aus königlichem Stamme, welche aus der Zeit zwischen Fergus II. und Macbeth hier der Auferstehung entgegenschlummerten.

Quelle:
Jules Verne: Der grüne Strahl. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLII, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 115-122.
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