|
[122] An genanntem Tage brachen also Miß Campbell, die Brüder Melvill und die beiden jungen Männer gleich nach dem Frühstück auf. Es war schönes Herbstwetter, der Himmel zwar bedeckt, aber häufig brach ein glänzender Lichtschein durch einen Riß der nur wenig dichten Wolken, wobei die Ruinen, welche diesen Theil der Insel krönen, die am Ufer malerisch zerstreuten Felsen, ebenso wie die einzeln über das wellige Terrain Jonas hervorragenden Häuschen und das von den Liebkosungen einer leichten Brise gestreifte Meer ihr etwas trübseliges Aussehen verjüngten und unter dem Glanze der Sonnenstrahlen aufheiterten.[122]
Heute war kein eigentlicher Besuchstag. Am Vortage hatte der fällige Dampfer wohl fünfzig Gäste an der Insel gelandet, und ebenso viele brachte er wahrscheinlich morgen; heute aber gehörte sozusagen die Insel Jona ihren neuen Bewohnern. Die Ruinen mußten also ganz verlassen sein, wenn die kleine Gesellschaft dahin gelangte.
Auf dem Wege ging es recht heiter zu. Die gute Laune Bruder Sams und Bruder Sibs steckte die Andern an. Sie plauderten, gingen hier- und dorthin und streiften zwischen niedrigen Mauern aus verwittertem Gestein über die schmalen, kieselbedeckten Fußpfade hin.
Alles gestaltete sich also ganz nach Wunsch, bis man zuerst vor dem kleinen Kreuzhügel Mac-Lean's Halt machte. Dieser schöne, vierzehn Fuß hohe Monolith aus rothem Granit, der die sogenannte Main Street beherrscht, ist der einzige Ueberrest von dreihundertsechzig Kreuzmonumenten, welche bis zur Zeit der Reformation, gegen Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, die Insel bedeckten.
Olivier Sinclair wollte erklärlicher Weise eine Skizze dieses Monuments zeichnen, welches, an sich eine schöne Arbeit, gerade inmitten dieser kahlen, nur mit saftgrünem Grase tapezirten Ebene eine besonders schöne Wirkung hervorbrachte.
Miß Campbell, die Brüder Melvill und der junge Maler gruppirten sich also etwa fünfzig Schritte von dem Kreuzhügel entfernt, um einen bequemen Ueberblick über dasselbe zu haben. Olivier Sinclair saß auf einem kleinen Mauervorsprunge und begann mit flüchtigen Linien den Vordergrund des Terrains zu zeichnen, auf dem sich das Kreuz Mac-Leans erhob.
Nach wenigen Augenblicken glaubten Alle eine menschliche Gestalt die ersten Stufen des Kreuzhügels erklettern zu sehen.
»Sieh da, rief Olivier Sinclair, was hat denn jener Eindringling dort vor? Wäre er wenigstens in Mönchskutte aufgetaucht, so würde er nicht störend erschienen sein, und ich hätte ihn am Fuße des alten Kreuzes als passende Staffage angebracht.
– Es ist gewiß nur ein Neugieriger, der Ihnen die Arbeit immerhin erschweren wird, meinte Miß Campbell.
– 's wird doch nicht Aristobulos Ursiclos sein, der uns überholt hat? sagte Bruder Sam.
– Ja wirklich, der ist es!« erklärte Bruder Sib.
In der That ritt dort Aristobulos Ursiclos auf einem schmäleren Absatze des Kreuzhügels, auf den er mit einem Hammer losschlug.[123]
Aergerlich über diese Pietätlosigkeit des Mineralogen eilte Miß Campbell auf ihn zu.
»Was beginnen Sie denn hier, mein Herr? fragte sie.
– Wie Sie sehen, Miß Campbell, antwortete Aristobulos Ursiclos, bemühe ich mich, ein Stück dieses Granits abzusprengen.
– Wozu aber diese Manie? Ich glaubte, die Zeit der Bilderstürmer sei vorüber.
– Ich bin kein Bilderstürmer, wohl aber Geolog und als solcher begierig, die Natur dieser Gesteinsart festzustellen.«
Ein heftiger Hammerschlag vollendete die Denkmalsschändung – ein Stein des Fundaments kollerte polternd zur Erde.
Aristobulos Ursiclos hob ihn auf und näherte ihn, die optische Leistungsfähigkeit seiner Brille durch eine dicke Naturforscherlupe verdoppelnd, seinen stechenden Angen.
»Ja, ja, ganz wie ich dachte, sagte er befriedigt. Sie sehen hier einen rothen Granit von sehr dichtem, widerstandsfähigem Korn, der auf der Nonneninsel gebrochen sein muß, ganz ähnlich der Art, welcher die Baumeister des zwölften Jahrhunderts sich bei Errichtung der Kathedrale von Jona bedient haben.«
Aristobulos Ursiclos ließ sich natürlich eine so herrliche Gelegenheit nicht entgehen, einen archäologischen Vortrag vom Stapel zu lassen, den die inzwischen hinzugekommenen Brüder Melvill anhören zu müssen glaubten.
Miß Campbell war, ohne viele Umstände zu machen, zu Olivier Sinclair zurückgekehrt, und nach Vollendung der Skizze fanden sich Alle im Vorhofe der Kathedrale wieder zusammen.
Dieses Denkmal der Vorzeit stellt ein ziemlich verwickeltes, eigentlich aus zwei Kirchen bestehendes Bauwerk dar, dessen festungsartig dicke Mauern und massive felsenfeste Pfeiler seit dreizehn Jahrhunderten den Angriffen der Witterung getrotzt haben.
Kurze Zeit durchwanderten die Besucher die erste Kirche, welche sich durch die Gestalt ihrer Wölbungen und die Bogenform ihrer Arcaden als romanische kennzeichnet; darauf die zweite, ein gothisches Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert, welches das Schiff und die Transepte der ersteren bildet. So schritten sie durch die Ruinen hin, gleichsam aus einer Epoche in die andere, über die großen Steinplatten weg, durch deren Fugen da und dort der Erdboden sichtbar war.[124]
Hier waren es gewaltige Deckelplatten über Grabhöhlen, da in den Winkeln noch aufrecht stehende Leichensteine mit erhaben ausgearbeiteten Figuren, welche den Vorübergehenden um ein Almosen anzusprechen schienen.
Alles zusammen athmete in seiner Massigkeit, seinem Ernst und Schweigen den Hauch der Poesie vergangener Zeiten.
Miß Campbell, Olivier Sinclair und die Brüder Melvill gelangten, ohne darauf zu achten, daß ihr gelehrter Begleiter zurückgeblieben war, unter die hochragende Wölbung des viereckigen Thurmes – eine Wölbung, welche dereinst zum Hauptportal der ersten Kirche gehört und sich später am Durchschnittspunkte beider Bauwerke erhoben hatte.
Einige Augenblicke später ließen sich gleichmäßige Tritte auf dem hohl widerhallenden Fußboden vernehmen. Man hätte glauben können, daß eine von Geisterhauch belebte Steinfigur, gleich dem Commandanten im Salon Don Juan's, schwerfällig dahinschritte.
Es war Aristobulos Ursiclos, der mit abgemessener Bewegung der Beine die Dimensionen der Kathedrale ausmaß.
»Hundertsechzig Fuß von Osten nach Westen, verkündete er, diese Zahl in sein Notizbuch eintragend, als er nach der zweiten Kirche übertrat.
– Ah, Sie sind es, Herr Ursiclos! sagte ironisch Miß Campbell. Der Mineralog hat sich zum Geometer verwandelt?
– Und siebenzig Fuß allein an der Kreuzung der Transepte, fuhr Aristobulos Ursiclos unbeirrt fort.
– Und wie viele Zoll?« fragte Olivier Sinclair.
Aristobulos Ursiclos sah Olivier Sinclair an wie Einer, der nicht weiß, ob er bös sein soll oder nicht. Zur rechten Zeit traten jedoch die Brüder Melvill dazwischen und führten Miß Campbell und die beiden jungen Männer nach dem Kloster.
Dieses Gebäude bietet freilich nur noch schwer erkennbare Ueberreste, obgleich es die Zerstörungen des Reformationszeitalters überlebte. Nach dieser Zeit diente es als Wohnung für einige fromme Canonissinnen vom heiligen Augustin, denen der Staat hier ein Asyl gewährte. Jetzt findet sich hier nichts als traurige Ruinen alter, von Stürmen und dem Zahne der Zeit zerstörter Klosterherrlichkeit, eines Bauwerks, das weder wetterfeste Gewölbe, noch romanische Pfeiler hatte, um straflos den Unbilden eines nördlichen Klimas trotzen zu können.[125]
Nachdem die Besucher in Augenschein genommen, was von dem einst so blühenden Kloster übrig war, konnten sie noch die besser erhaltene Kapelle bewundern, deren innere Größenverhältnisse Aristobulos Ursiclos nicht feststellen zu müssen glaubte. Dieser entweder minder alten oder solider als die Refectorien und Zellen des Klosters erbauten Kapelle fehlte nichts als das Dach; der hohe Chor dagegen, der noch unversehrt vorhanden ist, bildet ein von Alterthumskennern sehr geschätztes Meisterwerk der Architektur.
Im westlichen Theile der Kapelle erhebt sich das Grab Derjenigen, welche als letzte Aebtissin der Schwestergemeinschaft vorstand. Auf dessen Marmorplatte erkennt man die Gestalt der heiligen Jungfrau zwischen zwei Engeln, und darüber eine Madonna mit dem Christuskinde in den Armen.
»So wie die heilige Jungfrau mit dem Stuhle und die Sixtinische Madonna, die einzigen Muttergottesbilder Raphael's, welche die Augenlider nicht gesenkt haben, so blickt auch diese offen hinaus, und es sieht aus, als ob ihre Augen lächelten!«
Diese Bemerkung der Miß Campbell traf sozusagen den Nagel auf den Kopf, hatte aber doch kein anderes Resultat, als auf den Lippen Aristobulos Ursiclos' ein ziemlich spöttisches Zucken hervorzurufen.
»Wo haben Sie, Miß Campbell, gelernt, sagte er, daß Augen jemals lächeln könnten?«
Vielleicht hatte Miß Campbell nicht übel Lust, zu antworten, daß man bei Betrachtung der seinigen diese Beobachtung wohl niemals werde machen können, sie schwieg jedoch still.
»Es ist ein allgemein verbreiteter Fehler, fuhr Aristobulos Ursiclos fort, als docirteer hier ex cathedra, vom Lächeln der Augen zu sprechen. Die Organe des Gesichtssinnes entbehren vollständig der Ausdrucksfähigkeit, wie die Oculistik lehrt. Beweis: Bedecken Sie ein Gesicht mit einer Larve, betrachten Sie durch dieselbe die Augen, und ich gehe jede Wette ein, daß Sie unmöglich werden unterscheiden können, ob dasselbe heiter, traurig oder wüthend aussieht.
– Ah, wirklich, antwortete Bruder Sam, der sich für diese beiläufige Aufklärung zu interessiren schien.
– Ich wußte das auch nicht, setzte Bruder Sib hinzu.
– Es ist jedoch so, versicherte Aristobulos Ursiclos, und wenn ich eine Larve zur Hand hätte....«[126]
Der bewundernswerthe junge Mann hatte indeß keine Larve, und das Experiment zur Beseitigung jedes etwaigen Zweifels mußte leider unterbleiben.
Ueberdieß hatten Miß Campbell und Olivier Sinclair das Kloster schon verlassen und sich nach der Gräberstätte Jonas begeben.
Diese Oertlichkeit trägt den Namen »Reliquiarium von Oban« zur Erinnerung an jenen Genossen des heiligen Columban, dem man die Errichtung der Kapelle verdankt, deren Ruinen sich mitten in diesem Todtenfelde erheben.
Es ist eine merkwürdige Stelle, dieses von Leichensteinen bedeckte Terrain, auf, oder vielmehr in dem achtundvierzig schottische Könige, acht Vicekönige der Hebriden, vier Vicekönige von Irland, und ein französischer König ruhen, dessen Name ebenso in Vergessenheit gerathen ist, wie der eines vorhistorischen Herrschers. Umrahmt von langem Eisengeländer, bedeckt mit dicht neben einander liegenden Steinplatten, könnte man hier leicht glauben, eine Art Feld von Karnak vor sich zu haben, dessen Steine Gräber und nicht Druidenfelsen wären.
Unter ihnen, mitten in magerem Grün, zeichnet sich der Granitblock eines Königs von Schottland aus, jenes Duncan, der durch die düstere Tragödie Macbeth so weit bekannt werden sollte. Von diesen Steinen zeigen einige nur Ornamente in geometrischen Linien, andere roh bearbeitete verschiedene wilde Keltenkönige, welche mit aller Steifheit eines Cadavers vor dem Beschauer liegen.
Wie viele Erinnerungen schweben über dieser Todtenstadt Jonas! Wie lebhaft wird die Phantasie erregt, wenn man dieses Saint-Denis der Hebriden durchstreift!
Wie könnte Jemand dabei die Strophe Ossians vergessen, zu der er sich offenbar an Ort und Stelle selbst begeistern ließ?
»Fremdling, Du irrest hier auf heldenbesäetem Boden! Singe zuweilen den Preis, den Ruhm der berühmtesten Todten, daß die flüchtigen Schatten derselben freundlich sich sammeln im Kreise um Dich!«
Miß Campbell und ihre Gefährten waren in schweigende Betrachtung versunken. Sie brauchten sich nicht über einen beeidigten Führer zu ärgern, der, wenn er Touristen begleitet, den Schleier so fern zurückliegender Geschichte mit plumpen Händen zerreißt. Ihrem geistigen Auge erschienen sie alle wieder, die Nachkommen des Lords der Insel, Angus Oy, des Gefährten Robert Bruce's, des Waffenbruders dieses Helden, der so mannhaft für die Unabhängigkeit seines Landes kämpfte.[127]
»Ich würde hierher lieber bei einbrechender Dunkelheit zurückkehren, sagte Miß Campbell. Diese Stunde scheint mir geeigneter, solche Erinnerungen zu wecken. Ich sähe da den Leichnam des unglücklichen Duncan bringen und hörte die Bemerkungen der Todtengräber, wenn sie ihn zu seinen Ahnen in die geweihte Erde betten. Nicht wahr, Herr Sinclair, das wäre doch die günstigste Zeit, die Geister zu rufen, welche den Friedhof der Könige bewachen?
Miß Campbell und ihre Gefährten waren in schweigende Betrachtung versunken. (S. 127.)
– Gewiß, Miß Campbell, und ich denke, sie würden es nicht verweigern auf den Ruf Ihrer Stimme zu erscheinen.[128]
»Wie, Miß Campbell, Sie glauben an Gespenster? rief Aristobulos Ursiclos.
– Ich glaube daran. mein Herr, glaube als echte Schottin daran, erwiderte Miß Campbell.
– Sie wissen aber sicherlich, daß das Alles nur Sache der Einbildung ist, daß nichts Unwesenhaftes existirt!
– Wenn es mir dennoch gefällt, daran zu glauben, antwortete Miß Campbell etwas gereizt durch diesen unzeitgemäßen Widerspruch, wenn es mir Vergnügen macht, an die häuslichen Brownies zu glauben, welche das Mobiliar[129] des Hauses behüten; an Hexen, welche man erscheinen lassen kann, wenn man Runenverse declamirt; an Walküren, diese Schicksalsjungfrauen der skandinavischen Mythologie, welche mit den in der Schlacht gefallenen Kriegern durch die Lüfte davonschweben; an alle die gütigen Feen, die unser Dichter Burns in Liedern besang, welche kein echter Sohn der Hochlande je vergessen kann:
»Es tanzen heute Nacht die Feen auf Cassilis Dawnan's, sie flüchten dann scheu zurück bei bleichem Mondschein nach Galzean, um durch die Goven hurtig, inmitten Fels und Bach den Reigen zu schlingen.«
– O, Miß Campbell, nahm der halsstarrige Querkopf wieder das Wort, meinen Sie denn, daß die Dichter solchen Schöpfungen ihrer Phantasie selbst Glauben beimessen?
– Ganz gewiß, Herr Aristobulos Ursiclos, antwortete Olivier Sinclair, sonst würde ihre Poesie den falschen Klang haben, wie jedes Werk, das nicht aus tiefer Ueberzeugung entsteht.
– Sie auch, mein Herr, versetzte Aristobulos Ursiclos, ich hielt Sie für einen Maler, nicht für einen Dichter.
– Das ist ganz dasselbe, erklärte Miß Campbell, die Kunst ist immer ein und dieselbe, nur unter verschiedenen Formen.
– Nein, nein, das kann ich nicht zugeben!... Sie glauben nicht an die Götterlehre der alten Barden, deren erregtes Gehirn eingebildete Gottheiten erschuf!
– Ah, Herr Ursiclos, mischte sich da Miß Campbell fast verletzt ein, erniedrigen Sie nicht in solcher Weise diejenigen unserer Vorfahren, welche unser altes Schottland besungen haben!
– Nein, lauschen Sie ihren Worten, fuhr Bruder Sib fort, dem die schönen Citate aus seinen Lieblingsdichtern wieder auf der Zunge lagen. Ich liebe die Gesänge der Barden; ich höre gern den Erzählungen aus vergangenen Zeiten zu; sie sind für mich wie die Ruhe des Morgens, wie die Frische des Thaues, der Hügel erquickt...
»Wenn dann die Sonn' auf ihre Lehnen nur noch die langen Strahlen schickt, wenn in des Thales kühlem Grunde der blaue See so freundlich ruht!« setzte Bruder Sam hinzu.
Ohne Zweifel hätten die beiden Brüder fortgefahren, sich immer mehr an ihren Ossianischen Gesängen zu berauschen, wenn Aristobulos Ursiclos sie nicht rauh unterbrochen hätte, indem er sagte:[130]
»Meine Herren, haben Sie jemals einen einzigen dieser vermutheten Genien gesehen, von denen Sie mit solchem Enthusiasmus sprechen? Nein! Und kann man sie überhaupt sehen? Auch nicht, nicht wahr?
– Darin liegt eben Ihr Irrthum, mein Herr, und ich beklage Sie, dieselben niemals wahrgenommen zu haben, entgegnete Miß Campbell, die ihrem Widersacher nicht um die Breite eines Geisterhaares nachgegeben hätte. Man sieht sie überall in den Hochlanden Schottlands, wenn sie durch die langen öden Thalgründe schweben, sich aus dem Grunde der Schluchten erheben, über die Oberfläche der Seen gleiten, in dem friedlichen Gewässer unserer Hebriden sich tummeln, und noch scherzen inmitten der Stürme, die der nordische Winter entfesselt. Und warum könnte beispielsweise jener Grüne Strahl, den ich mit aller Ausdauer verfolge, nicht vielleicht die Schärpe einer Walküre sein, deren flatterndes Ende sie durch das Wasser am Horizonte schleift?
– O nein, rief Aristobulos Ursiclos, davon kann keine Rede sein. Ich will Ihnen besser sagen, welche Bewandtniß es mit Ihrem Grünen Strahle hat.
– Sprechen Sie es nicht aus, mein Herr, bat Miß Campbell, ich mag es nicht wissen.
– Und doch, widersprach ihr Aristobulos Ursiclos, den der kleine Streit in die Hitze gebracht hatte.
– So verbiete ich es Ihnen...
– Und ich werd' es dennoch sagen, Miß Campbell. Der letzte Strahl, den die Sonne in dem Augenblicke aussendet, wo der obere Rand ihrer Scheibe den Horizont gerade berührt, erscheint, wenn er überhaupt noch grün ist, wahrscheinlich nur deshalb in dieser Farbe, weil er dieselbe erhält, wenn er die dünne Wasserschicht durchdringt....
– Schweigen Sie, Herr Ursiclos!...
– Im Fall dieses nicht ganz natürlicher Weise dem glühenden Roth der plötzlich versunkenen Sonnenscheibe folgt, dessen Eindruck unser Auge noch bewahrt hat, weil nach der Lehre der Optik Grün dessen Complementärfarbe ist.
– Ach, mein Herr, Ihre physikalischen Anschauungen...
– Meine Anschauungen, Miß Campbell, stimmen ganz mit den Thatsachen überein, antwortete Aristobulos Ursiclos, und ich behalte mir vor, über diesen Gegenstand eine Abhandlung zu veröffentlichen.[131]
– Wir wollen aufbrechen, liebe Onkels, rief Miß Campbell wirklich ärgerlich, Herr Ursiclos würde mir mit seinen Erklärungen zuletzt meinen Grünen Strahl gründlich verderben!«
Da kam ihr Olivier Sinclair zu Hilfe.
»Mein Herr, sagte er, ich glaube gern, daß Ihre Abhandlung über den Grünen Strahl ganz bemerkenswerth ausfallen wird, aber gestatten Sie mir ein anderes, vielleicht noch interessanteres Thema vorzuschlagen.
– Und welches, mein Herr? fragte Aristobulos Ursiclos, sich in die Brust werfend.
– Es ist Ihnen jedenfalls nicht unbekannt, daß einige Gelehrte höchst wissenschaftlich die brennende Frage behandelt haben: »Ueber den Einfluß der Schwänze der Fische auf die Wellenbildung im Weltmeere«...?
– Mein Herr...
– Ich kann Ihren tiefsinnigen Studien auch noch einen anderen würdigen Gegenstand bezeichnen: »Ueber den Einfluß der Blasinstrumente auf das Entstehen der Stürme.«
Buchempfehlung
Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro