Zwanzigstes Capitel.
Für Miß Campbell.

[167] Einige Augenblicke später war Olivier Sinclair schon längs des Uferdammes hingeeilt und hatte, da wo die Basalttreppe in die Höhe führt, den Eingang der Grotte erreicht.

Die Brüder Melvill und Patridge folgten ihm auf dem Fuße nach.

Frau Beß war in unaussprechlicher Angst in Clam Shell zurückgeblieben, bereitete aber Alles vor, um Helena bei ihrer Rückkehr zu empfangen.

Das Meer stieg jetzt schon so hoch, daß es den oberen Treppenabsatz bespülte; ja, es schäumte sogar über das Eisengeländer hinweg und machte jedes Vordringen auf der inneren Seitengalerie unmöglich.

Aus der Unmöglichkeit, zu Fuß in die Grotte einzudringen, ergab sich auch die Unmöglichkeit, aus derselben zu entkommen. Wenn Miß Campbell sich darin befand, war sie eine Gefangene. Aber wie es wissen, wie zu ihr gelangen?

»Helena! Helena!«

Konnte dieser in das Toben der Wellen hineingerufene Name wohl vernommen werden? Es klang ringsum wie unaufhörliches Donnern von Wind und Wogen, das sich in der Grotte sing. Weder die Stimme, noch der Blick wären im Stande gewesen hindurch zu dringen.


 »Helena! Helena!«... (S. 170.)
»Helena! Helena!«... (S. 170.)

»Vielleicht ist Miß Campbell überhaupt gar nicht hier, sagte Bruder Sam, der sich zur Selbstberuhigung an diese Hoffnung klammerte.

– Wo soll sie denn sein? fragte Bruder Sib.

– Ja, wo sollte sie denn sein? rief Olivier Sinclair. Hab' ich sie nicht vergebens auf dem Plateau der Insel, unter den Felsen des Ufers und überall gesucht? Würde sie nicht zu uns zurückgekehrt sein, wenn ihr das möglich wäre! – Sie ist hier – kann nur hier sein!«


Während des Zeitraumes einer Secunde... (S 172.)
Während des Zeitraumes einer Secunde... (S 172.)

Man erinnerte sich auch des wiederholt ausgesprochenen, enthusiastischen und von Unerschrockenheit zeugenden Wunsches des jungen Mädchens, in der Fingalshöhle einem Sturme beizuwohnen. Hatte sie also vergessen, daß das Meer diese unter solchen Verhältnissen oft bis zur Decke anfüllt und zu einem Gefängnisse umwandelt?[167]

Was blieb jetzt zu versuchen übrig, um zu ihr zu gelangen und sie zu retten?

Unter der Gewalt des Orkans, der diesen Theil des Eilandes mit mächtiger Geißel traf, erhoben sich die Wogen zuweilen schon bis zum Gipfel der Wölbung. Daselbst brachen sie sich mit betäubendem Krachen. Die von dem Hindernisse gestauten Wassermassen stürzten dann, wie die Katarakte eines Niagara, in schäumenden Wirbeln hernieder; der von der hohlen See draußen bewegte untere Theil der Wellen aber stürmte in dem Innenraume weiter mit[168] dem Brausen eines Bergstromes, dessen Wehr plötzlich seiner Wucht nachgab. Erst ganz im Hintergrunde der Grotte brach sich das Meer als siedender Strudel an der Felsenwand.

An welcher Stelle hätte Miß Campbell nun eine Zuflucht finden können, die nicht von den Wellen erreicht worden wäre? Das Kopfende der Grotte gerade war ihrem Anstürmen direct ausgesetzt, und beim Hinwogen ebenso wie beim Rückfließen mußte das Wasser die Gallerie in einer Weise überfluthen, daß Niemand sich darauf hätte halten können.[169]

Und doch versuchte man wieder sich gegen den Glauben zu wehren, daß das unerschrockene junge Mädchen überhaupt hier sei. Wie hätte sie in dieser Sackgasse dem Wogenschwall des wüthenden Meeres widerstehen können? Mußte nicht ihr verstümmelter Körper, vom Strudel gepackt, schon wieder nach außen geschleudert worden sein? Könnte sie nicht die Strömung bei der jetzt steigenden Fluth schon längs des Uferdammes und an den Riffen bei Clam Shell vorbeigeschwemmt haben?

»Helena! Helena!«

Immer und immer wieder riefen sie diesen Namen durch das tolle Getöse von Wind und Wellen.

Kein Ruf antwortete ihnen und konnte ihnen antworten.

»Nein, nein, sie ist nicht in dieser Höhle! wiederholten die Brüder Melvill in ihrer Verzweiflung.

– Sie ist doch darin!« versicherte Olivier Sinclair.

Wie zur Bekräftigung seiner Worte wies er da auf ein Stück Stoff, welches eben eine rückstauende Woge auf eine der Basaltstufen warf.

Olivier Sinclair stürzte darauf zu.

Es war der »Snod«, das schottische Band, welches Miß Campbell stets in den Haaren zu tragen pflegte. Konnte es nun noch einen Zweifel geben?

Und doch, wenn dieses Band ihr entrissen werden konnte, war es dann möglich, daß Miß Campbell bei demselben furchtbaren Wellenschlage nicht gleichzeitig an die Felsenwand gedrückt und schwer verletzt worden wäre?

»Ich werde bald Gewißheit haben!« rief Olivier Sinclair.

Unter Benützung eines Moments, wo das rückfließende Wasser die Gallerie halb frei ließ, ergriff er die erste lange Eisenstange des Geländers; da stürmte aber schon eine neue, riesenhafte Woge auf dieselbe Stelle ein und drückte ihn auf den Treppenabsatz nieder.

Wenn Patridge sich nicht mit eigener Lebensgefahr auf ihn geworfen und den jungen Mann zurückgehalten hätte, so wäre Olivier Sinclair unbedingt bis zur letzten Stufe hinabgeglitten und das Meer hätte ihn mit fortgerissen, ohne daß es möglich gewesen wäre, ihm Hilfe zu bringen.

Olivier Sinclair hatte sich erhoben, sein Entschluß, in die Grotte einzudringen, war keineswegs erschüttert.

»Miß Campbell ist da drinnen, – wiederholte er, da ihr Körper nicht ebenso herausgetragen worden ist, wie dieses Stückchen Band. Es ist also möglich[170] daß sie in irgend welcher Wandvertiefung Schutz gefunden hat. Ihre Kräfte aber werden sie verlassen; sie wird nicht ausdauern können, bis wieder Ebbe eintritt. Wir müssen also zu ihr zu gelangen suchen!

– Ich werde gehen! rief Patridge.

»Nein!... Ich!« antwortete Olivier Sinclair.

Er wollte ein äußerstes Mittel versuchen, zu Miß Campbell vorzudringen, und wenn dieses Mittel ihm auch nur sehr geringe Aussicht auf günstigen Erfolg versprach.

»Warten Sie hier, meine Herren, sagte er zu den Brüdern Melvill. In fünf Minuten sind wir wieder zurück. Kommen Sie, Patridge!«

Die beiden Onkels blieben unter dem Schutze des hohen Ufers, nahe dem äußersten vorspringenden Winkel der Insel, an einer Stelle, welche das Meer nicht erreichen konnte, während Olivier Sinclair und Patridge raschen Schrittes nach Clam Shell zurückeilten.

Es war jetzt um acht ein halb Uhr. Fünf Minuten später erschienen der junge Mann und der alte Diener wieder und schleppten längs des Uferrandes das kleine Boot der »Clorinda«, welches ihnen der Capitän John Olduck zurückgelassen hatte.

Wollte Olivier Sinclair sich wirklich auf dem Wasserwege in diese Höhle wagen, da der Landweg ihm verschlossen war?

Ja, er wollte es versuchen. Wohl setzte er sein Leben dabei auf's Spiel; er wußte es, aber er zögerte deshalb nicht.

Das Boot wurde, geschützt vor der Brandung, an den Fuß der Treppe, hinter eine der Basaltstufen geschafft.

»Ich gehe mit Ihnen, erklärte Patridge.

– Nein, Patridge, erwiderte Olivier Sinclair, nein! Wir dürfen dieses schwache Fahrzeug nicht unnützerweise überlasten. Wenn Miß Campbell noch am Leben ist, genügt es, wenn ich auch allein komme.

– Olivier, riefen die beiden Onkels, welche ihr Schluchzen nicht zurückzuhalten vermochten, Olivier, retten Sie unsere Tochter!«

Der junge Mann drückte ihnen die Hand, dann sprang er in das Boot, setzte sich auf die Mittelbank desselben, ergriff die Riemen und gelangte mit zwei Ruderschlägen geschickt in die Mitte des Wirbels, wo er den Rückfluß einer ungeheuren Woge erwartete, die ihn gerade vor dem Eingange der Fingalshöhle traf.[171]

Hier wurde das Boot hoch emporgeschleudert, doch gelang es dem muthigen jungen Mann, dasselbe durch gewandtes Manövriren in gerader Linie zu erhalten; hätte es sich zur Seite gewendet, so mußte es rettungslos kentern.

Jetzt warf das zürnende Meer das gebrechliche Fahrzeug fast bis zur Höhe der Wölbung; man hätte glauben können, daß diese Nußschale an der Felsenwand zerschellen müsse, als die Woge aber zurücksank, trug sie es mit unwiderstehlicher Gewalt wieder nach der Außenseite der Höhle hinaus.

Dreimal wurde das Boot so hin und her geschleudert, einmal hinein- und dann wieder hinausgeworfen, ohne noch durch die vor dem Eingange sich stauenden Wassermassen gelangen zu können. Mit voller Kaltblütigkeit hielt sich Olivier Sinclair mittelst seiner Riemen.

Endlich faßte ein noch höherer Wellenkamm das Canot; es schwankte einen Augenblick auf dem Rücken des flüssigen Ungeheuers, fast in gleicher Höhe mit dem Plateau der Insel; dann gähnte plötzlich ein tiefer Abgrund auf und Olivier Sinclair wurde in schräger Richtung, wie auf der herabstürzenden Wand eines Wasserfalles, hinuntergeschleudert.

Ein Schreckensschrei entrang sich den Zuschauern dieser Scene. Es schien, als ob das Fahrzeug unwiderstehlich an den linken Eingangspfeilern zerschmettert werden müßte.

Der unerschrockene junge Mann wendete jedoch sein Boot durch einen kräftigen Ruderschlag und verschwand, nachdem er einmal den Eingang erreicht, noch ehe das Wasser sich wieder zu riesenhaftem Schwall erhoben, mit der Schnelligkeit eines Pfeiles im Innern der Höhle.

Eine Secunde später donnerten die Wogen wieder hinein und schäumten bis zum oberen Rande des Eilandes auf.

Würde das Boot nun im Hintergrunde der Grotte zerschellen und sollte man zwei Opfer statt eines zu zählen haben? Glücklicher Weise nein. Olivier Sinclair war schnell und ohne anzustoßen unter der ungleichen Deckenwölbung hinweggeglitten.

Indem er sich platt in das Boot warf, entging er dem sonst unvermeidlichen Anstoßen an hervorstehende Säulenenden. Während des Zeitraumes einer Secunde flog er wieder gegen die anderen Seitenwände und fürchtete nur, wieder hinausgeworfen zu werden, ehe es ihm gelang, irgend einen hervorragenden Haltepunkt im Hintergrunde zu gewinnen. Da stieß das Boot, in Folge der in sich selbst verlaufenden Wellenbewegung, nur schwach an die Pfeiler jener Orgelempore,[172] die sich im Schiffe der Fingalshöhle erhebt; dennoch barst es mitten entzwei; Olivier Sinclair vermochte jedoch ein Basaltstück zu packen, sich daran mit allen Kräften festzuklammern und dann über das Wasser emporzuringen.

Nur einen Augenblick später erfaßte eine rückströmende Woge die Trümmer des Bootes, welche hinausgeschleudert wurden, und mit dem Gedanken, daß der kühne Retter seinen Untergang gefunden habe, sahen die Brüder Melvill und Patridge dieselben hinausgetragen werden.

Quelle:
Jules Verne: Der grüne Strahl. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLII, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 167-173.
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