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[180] Unter dem Einflusse der frischen Luft schlug Miß Campbell einige Minuten später in der Clam Shell-Grotte die Augen wieder auf, als erwache sie aus einem Traum, den das Bild Olivier Sinclair's in allen seinen Phasen belebt und erfüllt hatte. Der Gefahren, denen sie in Folge ihrer Unklugheit ausgesetzt gewesen war, erinnerte sie sich kaum mehr.
Sprechen konnte sie noch nicht; beim Anblick Olivier Sinclair's aber traten ihr die Thränen der Dankbarkeit in die Augen und sie streckte ihrem Retter die Hände entgegen.
Bruder Sam und Bruder Sib preßten, keines Wortes mächtig, den jungen Mann in die Arme. Frau Beß machte ihm eine Verbeugung nach der andern, und Patridge schien nicht übel Lust zu haben, ihn an's Herz zu drücken. Dann übermannte jedoch Alle die Müdigkeit, und nachdem sie noch die durch das Meer wie durch den Himmel durchnäßten Kleider gewechselt, schliefen sie ein und der letzte Theil der Nacht verlief in ungestörtem Frieden.
Der Eindruck freilich, den die Betheiligten, wie die Zeugen jener Scene, welche sich in der Fingalshöhle abspielte, empfangen hatten, sollte ihnen niemals mehr aus dem Gedächniß entschwinden.
Während Miß Campbell am folgenden Tage noch auf dem für sie reservirten Lager im Hintergrunde der Clam Shell-Grotte ruhte, gingen die Brüder Melvill Arm in Arm auf dem benachbarten Theile des Uferdammes hin und her. Sie sprachen zwar nicht, hatten aber eigentlich auch gar nicht das Bedürfniß,[180] ihre ganz gleichen Gedanken in Worte zu übersetzen. Beide bewegten in genau demselben Augenblicke den Kopf von oben nach unten, wenn sie etwas bestätigen, und von rechts nach links, wenn sie etwas verneinen wollten. Und was konnten sie zu bestätigen haben, außer der Thatsache, daß Olivier Sinclair sein Leben daran gewagt hatte, das unvorsichtige, junge Mädchen zu retten? Und was verneinten sie? Daß ihre früheren Pläne jetzt noch erfüllbar seien. Bei dieser stummen Unterhaltung sagten sie sich auch mancherlei, was Bruder Sam und Bruder Sib in der nächsten Zeit würden eintreffen sehen. In ihren Augen war Olivier nicht mehr Olivier. Er war jetzt kein Geringerer als Arnim, der hervorragendste Held der gaëlischen Heldensage.
Olivier Sinclair war jetzt eine Beute sehr natürlicher Ueberreizung. Ein gewisses Zartgefühl drängte ihn, sich von den Andern fern zu halten. Er fühlte sich beklommen gegenüber den Brüdern Melvill, als ob er durch seine Gegenwart andeutete, daß er auf Belohnung für seine Opferwilligkeit warte.
So verließ er schon frühzeitig die Clam Shell-Grotte und lustwandelte allein auf dem Plateau der Insel.
Seine Gedanken eilten dabei freilich ganz von selbst zu Miß Campbell. An die Gefahren, denen er Trotz geboten und die er mit ihr getheilt hatte, dachte er gewiß nicht mehr; in seiner Erinnerung schwebten aus dieser fürchterlichen Nacht nur noch die glücklichen Stunden, die er an der Seite Helenas verbracht, als er sie in jener dunklen Nische mit den Armen umschlungen, um sie vor dem Anprall der Wogen zu schützen. Er sah noch bei dem phosphorescirenden Scheine die Gestalt des schönen jungen Mädchens, die mehr aus Erschöpfung als aus Furcht erbleicht war, wie sie sich gleich einem Genius des Sturmes angesichts des wüthenden Meeres erhob. Er hörte sie noch mit zitternder Stimme sagen: »Wie, Sie wüßten es...?« als er sagte: »Ich weiß, was Sie für mich gethan haben, als ich nahe daran war, im Strudel des Corryvrekan umzukommen!«
Er glaubte sich wieder im Grunde jener kleinen Aushöhlung, jener Nische, welche eher für die Aufstellung eines Steinbildes geschaffen schien, in der zwei junge liebende Wesen so lange schreckliche Stunden gelitten und Eines an der Seite des Andern gekämpft hatten. Da waren sie nicht mehr Olivier Sinclair und Miß Campbell; sie hatten sich Olivier und Helena genannt, als wollten sie in dem Augenblicke, wo der Tod sie bedrohte, ein neues Leben mit einander beginnen.[181]
So durchwirbelten Gedanken aller Art das Gehirn des jungen Mannes, als er auf dem Plateau von Staffa umherging. Wie groß auch sein Verlangen war, an Miß Campbell's Seite zurückzukehren, immer hielt ihn eine unbezwingliche Kraft gegen seinen Willen zurück, weil er in ihrer Gegenwart vielleicht gesprochen hätte und doch schweigen wollte.
Inzwischen hatte sich, wie das nach plötzlichen gewaltsamen Störungen der Atmosphäre nicht selten vorkommt, die Witterung ganz überraschend schön gestaltet und lächelte der Himmel in wunderbarer Klarheit. Sehr häufig hinterlassen ja hier die heftigsten Südweststürme keine Spuren, verleihen vielmehr der Luft eine Durchsichtigkeit ohne Gleichen. Die Sonne hatte schon ihren höchsten Stand überschritten, ohne daß sich der Horizont auch nur mit dem geringsten Dunst verschleierte.
Olivier Sinclair wandelte mit siedend heißem Kopfe unter den intensiven Lichtstrahlen, welche das Plateau der Insel widerspiegelte, dahin. Er badete gleichsam in den warmen Effluvien, athmete die wohlthuende Seebrise und stärkte sich in der blendenden Atmosphäre.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke – ein Gedanke, den er vor den anderen, die ihn jetzt bestürmten, fast ganz vergessen hätte – als er den herrlichen reinen Horizont erblickte.
»Ah, der Grüne Strahl! rief er. Wenn der Himmel jemals unsere Beobachtung begünstigt, so ist es heute der Fall! Keine Wolke, kein Dunstflöckchen! Es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß die Eine oder das Andere erscheinen könne, da der gestrige gewaltige Sturm sie weit nach Osten hin vertrieben haben muß. Und Miß Campbell denkt gewiß nicht daran, daß der heutige Tag ihr einen glänzenden Sonnenuntergang bescheeren dürfte. Ich muß... ja... ich muß sie benachrichtigen!«
Glücklich, einen so natürlichen Grund, sich zu Helena zu begeben, gefunden zu haben, kehrte Olivier Sinclair nach der Clam Shell-Grotte zurück.
Wenige Augenblicke später stand er Miß Campbell und den beiden Onkels gegenüber, welche jene liebevoll betrachteten, während Frau Beß deren Hand hielt.
»Miß Campbell, sagte er, es geht Ihnen besser?... Ich seh' es... sind Sie wieder bei Kräften?
– Ja, Herr Olivier, antwortete Miß Campbell, beim Erblicken des jungen Mannes leise erzitternd.[182]
– Ich glaube, es würde Ihnen gut thun, fuhr Olivier Sinclair fort, wenn Sie sich nach dem Plateau begeben und die durch den Sturm gereinigte Luft genießen wollten. Die Sonne ist herrlich und wird Sie wieder erwärmen.
– Herr Sinclair hat Recht, sagte Bruder Sam.
– Ja, völlig Recht, setzte Bruder Sib hinzu.
– Und wenn ich Ihnen Alles verrathen darf, wenn meine Ahnung mich nicht trügt, nahm Olivier Sinclair das Wort, glaube ich, daß Sie binnen wenigen Stunden den theuersten Ihrer Wünsche werden in Erfüllung gehen sehen.
– Den theuersten meiner Wünsche? murmelte Miß Campbell, als wenn sie nur mit sich selbst gesprochen hätte.
– Ja... der Himmel ist von wunderbarer Reinheit und allem Anscheine nach zu erwarten, daß die Sonne bei ganz wolkenlosem Horizonte untergehen werde.
– Wär's möglich! rief Bruder Sam.
– Wär's möglich! wiederholte Bruder Sib.
– Ich habe alle Ursache zu glauben, setzte Olivier Sinclair hinzu, daß Sie am heutigen Abend den Grünen Strahl werden beobachten können.
– Den Grünen Strahl!«... antwortete Miß Campbell.
Es schien, als ob sie in ihrem etwas verwirrten Gedächtnisse erst nachsuchen müsse, was es mit diesem Strahle für eine Bewandtniß habe.
»Ah, ganz recht!... sagte sie nach kurzer Pause. Wir sind ja eigentlich hergekommen, um den Grünen Strahl zu sehen!
– Nun denn, vorwärts! sagte Bruder Sam, entzückt über die sich bietende Gelegenheit, das junge Mädchen ihrem Stumpfsinne zu entreißen, der sie zu erstarren drohte, begeben wir uns nach der andern Seite der Insel!
– Und wir speisen erst nach der Rückkehr,« setzte Bruder Sib heiter hinzu.
Er war jetzt um fünf Uhr Nachmittags.
Unter Führung Olivier Sinclair's verließ die ganze Familie, Frau Beß und Patridge inbegriffen, die Clam Shell-Grotte, stieg die Holztreppe hinauf und gelangte damit nach dem Rande des oberen Plateaus.
Da hätte man die Freude der beiden Onkels sehen müssen, als sie den wundervollen Horizont überblickten, an dem die Sonne langsam herabsank. Vielleicht übertrieben sie heute – aber niemals, nein niemals zeigten sie so viel Enthusiasmus für die erwartete Erscheinung. Es hatte das Ansehen, als wenn um ihrer selbst, nicht um Miß Campbell's willen alle diese Ortsveränderungen[183] mit den unausbleiblichen Mißhelligkeiten unternommen worden wären, von der Abreise aus Helensburgh auf dem Wege über Oban und Jona bis nach Staffa.
In der That versprach aber auch der heutige Sonnenuntergang ein so herrlicher zu werden, daß der unempfindlichste, der nüchternste und prosaischste aller Kaufleute der City von London oder aller Großhändler der Canongate das Meerespanorama, wie es sich hier vor Aller Augen ausbreitete, hätte bewundern müssen.
Miß Campbell fühlte sich bald wie neugeboren in dieser, mit den Salzausdünstungen, welche der leichte Wind mit sich führte, geschwängerten Atmosphäre.
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Weit öffneten sich ihre schönen Augen, wenn sie auf die ersten Wasserflächen des Atlantischen Oceans hinausblickte. Auf ihre durch Erschöpfung erbleichten Wangen kehrte die rosige Färbung ihres schottischen Teints zurück. Wie schön war sie doch! Welch' ein anziehender Reiz schmückte ihre Gestalt! Olivier Sinclair ging etwas hinter ihr und betrachtete sie schweigend, und er, der sie sonst ohne beklemmendes Gefühl auf ihren langen Spaziergängen begleitete, wagte in seiner jetzigen Gemüthsstimmung mit peinigender Angst im Herzen kaum sie anzusehen.[185]
Die beiden Brüder Melvill erschienen buchstäblich so strahlend wie die Sonne selbst. Sie sprachen auf dieselbe mit einer Art Begeisterung, luden sie ein, hinter dem klaren dunstlosen Horizont unterzugehen, und baten sie, ihnen am Ende dieses herrlichen Tages ihren letzten Strahl zuzusenden.
Gleichzeitig erinnerten sie sich wieder der schönen Ossianischen Dichtungen und tauschten einige Verse aus.
»Du, die Du hinrollst über unsere Häupter, so rund wie einstmals unsrer Ahnen Schild, sag' uns, woher entsprießen Deine Strahlen, wo kommt es her, Dein ewig schönes Licht?
»Du schwebst dahin in majestät'scher Schöne! Die Sterne fliehen aus dem Firmament, der bleiche kalte Mond versteckt sich ängstlich im Westen, Du nur, Sonne, bleibst zurück!
»Wer könnte Dich auf Deinem Lauf begleiten? Der Mond verliert sich scheu am Himmel, Du, nur Du bist stets die Gleiche, immer lächelnd durchfliegst Du glanzvoll Deine weite Bahn.
»Und wenn der Donner rollt, die blauen Blitze auftauchen aus der Wolken Kampfgetöse, trittst Du her vor in immer gleicher Schönheit, und unverwandelt lachst Du ob des Sturms!«
In eigenthümlich gehobener Stimmung wanderten Alle so jenem Ende Staffas zu, das nach dem freien Meere hinausliegt. Dort setzten sie sich auf die äußersten Felsblöcke, vor sich einen Horizont, dessen von der Berührungsstelle zwischen Himmel und Wasser gezogene Grenzlinie nichts trüben zu können schien.
Diesmal konnte auch der unselige Aristobulos Ursiclos das Segelwerk eines Fahrzeuges oder einen aufgejagten Schwarm von Seevögeln zwischen das Eiland von Staffa und die Stelle des Sonnenunterganges nicht einschieben.
Der Wind legte sich gegen Abend gänzlich, die letzten Wellen erstarben in der sich sanft wiegenden Brandung am Fuße der Felsen. Weiter draußen lag das Meer glatt wie ein Spiegel und zeigte jene fast ölartige Oberfläche, auf der man die geringste darüberhuschende Streifenbildung leicht hätte wahrnehmen können.
Alle Umstände vereinigten sich also, die Beobachtung des Phänomens zu begünstigen.
Eine halbe Stunde später streckte aber Patridge plötzlich die Hand gegen Süden hin aus und rief:[186]
»Ein Segel!«
Ein Segel! Sollte das heute wieder vor der Sonnenscheibe gerade in dem Augenblicke vorüberziehen, wo diese unter dem Wasser verschwand? Das wäre doch eine boshafte Tücke des Schicksals gewesen!
Das betreffende Fahrzeug kam aus der engen Straße, welche die Insel Jona von der gegenüberliegenden Spitze von Mull trennt. Es glitt mehr durch die Wirkung der steigenden Fluth, als durch die der Seebrise hin, deren letzter Hauch kaum hingereicht haben würde, seine Segel zu schwellen.
»O, das ist die »Clorinda«, rief Olivier Sinclair, und da diese unzweifelhaft auf den Osten von Staffa zuhält, wird sie hinter uns vorbeikommen und unsere Beobachtung nicht zu stören im Stande sein.«
In der That war es die »Clorinda«, welche nach Umsegelung der Südseite von Mull jetzt wieder in der Bucht von Clam Shell vor Anker gehen wollte.
Alle Blicke richteten sich wieder nach dem westlichen Horizonte.
Die Sonne sank jetzt schon mit jener Schnelligkeit, welche sie bei Annäherung an das Meer zu beleben scheint. Auf der Wasserfläche zitterte ein weiter Silberstreifen, der von der glänzenden Scheibe ausging, deren Ausstrahlung das Auge noch nicht ertragen konnte. Bald ging jene aus der Altgoldfarbe, die sie im Niedersinken annahm, in glühendes Rothgold über. Schloß man die Lider fest über den Augen, so sah man vor denselben rothe verschobene Vierecke und gelbliche Kreuze flimmern, welche sich wie die flüchtigen Bilder des Kaleidoskops durchkreuzten. Ganz leichte, seine Wellenstreifen verzierten noch diese Art Kometenschweif, den die Wiederspiegelung auf die Oberfläche des Wassers zeichnete. Es glich einem Flockengewirbel von Silberflittern, deren Glanz mit der Annäherung an das Ufer abnahm.
Im ganzen Umkreise des Horizontes war von einer Wolke, von einer, wenn auch noch so zarten Dunstmasse nicht die Spur zu bemerken. Nichts trübte die Reinheit dieser Kreislinie, die man mit einem Zirkel nicht hätte seiner auf einen weißen Bogen Papier zeichnen können.
Alle betrachteten regungslos, und doch erregter als man glauben möchte, die leuchtende Kugel, die auf ihrem schrägen Wege nach dem Horizonte noch hinunterstieg und, wie gefesselt über einem Abgrunde, einen Augenblick still zu stehen schien. Dann machte sich allmählich – eine Folge der Strahlenbrechung – eine Formveränderung der Kugel bemerkbar; sie verbreiterte sich auf Unkosten[187] ihres lothrechten Durchmessers und erinnerte an die Form einer etrurischen Vase mit ausgebauchten Seiten, deren Fuß in's Wasser tauchte.
Daß die Erscheinung heute zu Stande kommen mußte, unterlag gar keinem Zweifel. Nichts trübte den wunderbar schönen Niedergang des strahlenden Gestirns! »Nichts konnte seine letzten Strahlen aufhalten«.
Bald verschwand die Sonne zur Hälfte unter der Linie des Horizonts. Einzelne Lichtbündel, gleich abgeschossenen goldenen Pfeilen, trafen die ersten Felsen von Staffa.
Weiter rückwärts färbten sich das steile Ufer von Mull und der Gipfel des Ben More mit glühendem Purpur.
Endlich überragte nur noch ein ganz schmaler Kreisabschnitt des oberen Bogens die Wasserlinie.
»Der Grüne Strahl! Der Grüne Strahl!« riefen wie aus einem Munde die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge, deren Augen eine Viertelsecunde lang den unvergleichlich schönen Eindruck der Farbe flüssigen Nephrits empfangen hatten.
Nur Olivier und Helena hatten nichts wahrgenommen von der Erscheinung, welche sich endlich, nach so vielen fruchtlosen Beobachtungen zeigte.
In dem Augenblicke, wo die Sonne ihren letzten Strahl auf das hier sichtbare Erdenrund entsendete, kreuzten sich die Blicke der jungen Leute, und Beide vergaßen sich, gewiß versanken in die nämliche Betrachtung.
Helena hatte ja den dunklen Strahl gesehen, der aus den Augen des jungen Mannes blitzte; Olivier den blauen, der jenem aus den Augen des jungen Mädchens entgegenkam.
Die Sonne war nun völlig verschwunden – weder Olivier noch Helena hatten den Grünen Strahl gesehen![188]
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