Sechzehntes Kapitel.
Schluß.

[413] Schon seit einiger Zeit ist durch merkwürdige ophthalmologische Versuche, die von geistvollen Gelehrten, verdienstreichen Beobachtern ausgeführt wurden, unzweifelhaft nachgewiesen worden, daß sich Gegenstände der Außenwelt, die sich nur einmal auf der Netzhaut abspiegelten, auf dieser lange Zeit erhalten können. Das Organ des Gesichtssinnes enthält einen besonderen Stoff, den Aderhautpurpur, auf dem sich die Bilder getreu fixieren. Man kann sie sogar in voller Klarheit erkennen, wenn das Auge nach dem Ableben herausgenommen und in ein Alaunbad gelegt wurde.

Was bisher über die Fixierung solcher Bilder bekannt war, sollte unter den hier vorliegenden Umständen eine unbestreitbare Bestätigung finden.

In dem Augenblicke, wo der Kapitän Gibson den letzten Seufzer aushauchte, haftete sein letzter Blick – ein Blick des Schreckens und der Angst – auf den Mördern, und im Grunde seiner Augen fixierten sich die Gestalten Flig Balts und Vin Mods. Und als Hawkins das beklagenswerte Opfer photographierte, erschienen auch die geringsten Einzelheiten des Gesichtes auf der Platte wieder. Schon auf dem ersten Abzuge hätte man unter Benützung eines starken Vergrößerungsglases im Grunde des Augapfels die Gesichter der beiden Mörder erkennen können, und dort fand man sie auch noch jetzt wieder.

Wie hätte damals aber den Herren Hawkins, Zieger und Hamburg ein solcher Gedanke kommen sollen?... Nein, es bedurfte das des Zusammenwirkens aller Nebenumstände, des von Herrn Zieger geäußerten Wunsches, eine vergrößerte Photographie des Kapitäns Gibson nach Port-Praslin mitzunehmen, und ebenso der Herstellung dieses vergrößerten Bildes im Atelier des Reeders.[413]

Als dann Nat Gibson herangetreten war, um das Bild seines Vaters zu küssen, da glaubte er im Hintergrunde der Augen zwei leuchtende Stellen zu erblicken. Er nahm deshalb eine Lupe zu Hilfe und sah und erkannte nun deutlich die Gestalt des Bootsmannes und die seines Helfershelfers.

Jetzt haben nach ihm auch die Herren Hawkins und Zieger sie gesehen und wiedererkannt. Karl und Pieter Kip waren es nicht, deren Bild das Auge des Toten bewahrt hatte... es war Flig Balt und war Vin Mod!

Sie war also endlich gefunden, die neue Tatsache, der unanfechtbare Beweis der Unschuld der Angeklagten, der nun eine Revision des Prozesses von selbst nötig machte. Die Echtheit der ersten, in Kerawara hergestellten Aufnahme konnte niemand in Zweifel ziehen, sie war schon den Akten des Kriminalgerichts beigefügt worden, und die jetzige Vergrößerung bildete nur eine vollkommen getreue Wiedergabe des ersten Bildes.

»Ach, die Unglücklichen!... Die Ärmsten! rief Nat Gibson ganz außer sich. Sie... unschuldig... und ich Verblendeter, wo Sie jene für unrechtmäßig verurteilt hielten und sie retten wollten...

– Jetzt bist du, lieber Nat, aber doch der, der sie gerettet hat, antwortete Hawkins, ja ja, du, der etwas entdeckt hat, was vielleicht keiner von uns gesehen hätte!«

Eine halbe Stunde später erschien, die kleine und die vergrößerte Photographie mitbringend, der Reeder schon in der Residenz und ersuchte darum, von Seiner Exzellenz sofort empfangen zu werden.

Sir Edward Carrigan ließ Herrn Hawkins ohne Zögern in sein Kabinett führen.

Hier von dem Vorgekommenen unterrichtet, erklärte der Gouverneur, daß dieses Bild einen greifbaren Beweis von unleugbarem Werte abgebe. Die Unschuld der Gebrüder Kip, die Ungerechtigkeit des über sie gefällten Urteils... alles lag ja klar auf der Hand, und das Gericht werde es nun gar nicht ablehnen können, dem Verlangen nach einer Revision zu entsprechen.

Das war auch die Ansicht des Beamten, nach dessen Bureau sich Hawkins von der Residenz aus begab. Er hatte diese zwei Besuche erledigen wollen, ehe er mit Herrn Zieger und Nat Gibson nach dem Gefängnisse ging. Jetzt handelte es sich nicht mehr um Voraussetzungen, sondern um Gewißheiten. Sprach schon die ganze Vergangenheit der Gebrüder Kip gegen das Urteil des Schwurgerichts, so hatte sich das auch für die Gegenwart als richtig erwiesen.[414]

Die Urheber der Freveltat waren nun bekannt... ihr Opfer war an ihnen zum Verräter geworden, es hatte den früheren Bootsmann vom »James-Cook« und den Matrosen Vin Mod als die Täter bezeichnet!

Wie verbreitete sich aber die Neuigkeit in der ganzen Stadt?... Wo war die Quelle für diese Nachrichten?... Wer mochte der erste gewesen sein, der von der Entdeckung erzählt hatte, die im Atelier des Reeders Hawkins gemacht worden war?... Kein Mensch wußte das.

Es steht dagegen fest, daß es bereits bekannt war, ehe der Reeder sich nach der Residenz begeben hatte. Bald sammelte sich denn auch eine lärmende, aufgeregte Menschenmenge vor dem städtischen Gefängnisse an.

In ihrer Zelle vernahmen Karl und Pieter Kip den außergewöhnlichen Lärm und laute Rufe, worin ihr Name unzählige Male vorkam.

Sie traten an das schmale, vergitterte Fenster, das nach einem inneren Hofe zu lag, und lauschten voll ängstlicher Spannung dem Geräusche draußen, denn sehen konnten sie von diesem Fenster aus nicht, was auf den Straßen der Umgebung vorging.

»Was mag da nur los sein? fragte Karl Kip. Kommt man etwa schon, uns in den Bagno zurückzuschaffen?... O, ehe ich mich diesem entsetzlichen Leben wieder unterwerfe...«

Pieter Kip antwortete auf diese Andeutung heute gar nichts.

Da wurden vom Vorsaale her eilige Schritte hörbar. Die Tür der Zelle öffnete sich. Auf der Schwelle erschien Nat Gibson in Begleitung der Herren Hawkins und Zieger.

Halb gebeugt und die Hände den beiden Brüdern entgegenstreckend, blieb Nat Gibson stehen.

»Karl... Pieter... rief er, verzeiht mir, ach, verzeiht mir!«

Die Holländer verstanden ihn nicht, konnten ihn nicht verstehen. Der Sohn des Kapitäns Gibson war es, der bittend zu ihnen kam, der ihre Verzeihung erflehte.

»Unschuldig, ihr seid unschuldig! rief da Hawkins jubelnd. Wir haben den Beweis dafür in den Händen...

– Und ich... ich habe vorher glauben können...« stieß Nat Gibson noch hervor, während er Karl Kip in die ausgebreiteten Arme sank.

Die Revision nahm nicht mehr Zeit in Anspruch, als die gesetzlichen Formalitäten forderten. Jetzt war es ja leicht genug, festzustellen, wie alles sich zugetragen[415] hatte: Auf dem Wrack der »Wilhelmina« war der den Gebrüdern Kip gehörende Malaiendolch gefunden worden. Vin Mod hatte ihn bei dieser Gelegenheit gestohlen und nach der Brigg mitgenommen. Diese Waffe war es, deren sich Flig Balt und er bei Begehung des Verbrechens, und zwar in der Absicht bedient hatten, die Untat den beiden Passagieren des »James-Cook« zuschieben zu können. Sie waren es ferner gewesen, die dem Schiffsjungen Jim den Dolch in der Kabine der Brüder hatten sehen lassen.

Die in dem Zimmer im Great Old Man vorgefundenen Schiffspapiere, das Geld und den Kriß hatten sie darin am Vorabende des Tages versteckt, wo Flig Balt vor dem Seegerichte erscheinen sollte, und das konnte nur durch den noch frei umhergehenden Helfershelfer des Bootsmannes, durch den Matrosen Vin Mod geschehen sein.

Jetzt stand es auch außer Zweifel, daß der Mann, der zu jener Zeit im Gasthause das Zimmer neben dem der Gebrüder Kip bewohnt hatte, kein anderer als der Schurke Vin Mod gewesen war. Gleich nach der Ankunft des »James-Cook« und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Gebrüder Kip in diesem Gasthause wohnen würden, hatte er sich darin ein Zimmer gesichert.

In vortrefflicher Verkleidung, die jedes Erkanntwerden ausschloß, hatte er den geeigneten Zeitpunkt abgewartet, die Papiere, die Piaster und den Kriß in dem Reisesacke der Holländer zu verbergen, wo man sie den nächsten Tag bei der gerichtlichen Haussuchung auffand.

In dieser Weise war also das abscheuliche Ränkespiel durchgeführt worden.

Hawkins hatte zwar schon längere Zeit gegen den Bootsmann und seinen Genossen Vin Mod schweren Verdacht gehegt, dieser mußte sich aber doch erst zur Gewißheit verdichten.

Dazu hatte es jedoch nichts Geringeren bedurft, als der letzten, unvermuteten Entdeckung, die der Allgemeinheit durch die Tagespresse von Hobart-Town erst näher zur Kenntnis kam und die sofort einen ebenso einmütigen wie gerechtfertigten Stimmungsumschlag herbeiführte.

Schon zwei Tage nachher erklärte die zuständige Behörde dem Gesuche um eine Revision der Angelegenheit stattzugeben. Gestützt auf die neue Tatsache, gestand man offiziell die Möglichkeit eines Rechtsirrtums zu, und die Gebrüder Kip wurden nochmals vor das Kriminalgericht geladen.
[416]

»Karl... Pieter... rief er, verzeiht mir, ach, verzeiht mir!« (S. 415.)
»Karl... Pieter... rief er, verzeiht mir, ach, verzeiht mir!« (S. 415.)

Bei dieser zweiten Verhandlung der Sache war eine noch größere Zuhörerschar als bei der ersten zusammengeströmt, die diesmal aber den beiden Brüdern ausnahmslos günstig gestimmt war. Natürlich beklagte man allgemein, daß gewisse Zeugen jetzt nicht vor den Schranken erscheinen konnten, von wo sie auf die Anklagebank verwiesen worden wären. Dennoch waren Flig Balt und Vin Mod ja eigentlich da... im Hintergrunde der weitgeöffneten Augen ihres Opfers.

Die Verhandlung dauerte kaum eine Stunde. Sie endete mit der vollen Freisprechung Karl und Pieter Kips, die unter dem stürmischen Beifall der Zuhörer verkündigt wurde.

Als die Brüder dann in Freiheit gesetzt waren, als sie sich wieder im Salon des Herrn Hawkins und inmitten der Familien Gibson und Zieger befanden, da wurde ihnen reichlich der Lohn zuteil für all das Elend, all die Schande, die so lange und so erdrückend auf ihnen gelastet hatte.

Wir brauchen kaum noch hinzuzufügen, daß ihnen jetzt nicht allein von Herrn Hawkins, sondern auch von allen seinen Freunden die verlockendsten Angebote gemacht wurden. Wollte Karl Kip wieder in See gehen, so würde er in Hobart-Town eine Stelle als Befehlshaber finden; wollte Pieter Kip sich wieder Handelsgeschäften widmen, so würde er viele finden, die ihn zu unterstützen bereit wären.

War das jetzt nicht auch das beste, was die beiden Brüder tun konnten, nachdem die Liquidation ihrer Firma in Groningen so vorteilhaft für sie beendet war?...

Sobald der »James-Cook« wieder ausgerüstet war, lief er denn auch unter der Führung des Kapitäns Kip und mit der bewährten, alten Besatzung zu seiner gewohnten Rundfahrt aus. –

Zum Abschluß unserer Erzählung mag hier noch mitgeteilt werden, daß mehrere Monate verstrichen, ehe die Behörden Nachrichten über den Dreimaster »Kaiser« erhielten, worauf Flig Balt, Vin Mod und deren Kameraden, oder richtiger: deren Spießgesellen, abgefahren waren. Man hörte dann endlich, daß dieses Schiff, das in der Gegend der Salomonsinseln und der Neuen Hebriden Seeraub trieb, von einem englischen Aviso abgefangen worden war.

Die Matrosen vom »Kaiser«, lauter Gesindel von gleichem Schlage, verteidigten sich wie alle Schurken sich wehren, denen mit ihrer Gefangennahme[419] der Galgen in Aussicht steht. Eine Anzahl der Übeltäter wurden bei dem Kampfe getötet, darunter auch Flig Balt und Len Cannon. Vin Mod war es mit einigen anderen gelungen, eine nahe liegende Insel des Archipels zu erreichen, und was aus ihm geworden sein mochte, darüber hat nie etwas verlautet.

Das war der Ausgang dieses, ungeheures Aufsehen erregenden Prozesses – eines glücklicherweise sehr seltenen Rechtsirrtums – eines Prozesses, der unter dem Namen der »Angelegenheit der Gebrüder Kip« jener Zeit auf der ganzen Erde lauten Widerhall fand.


Ende.

Quelle:
Jules Verne: Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXX, Wien, Pest, Leipzig 1902.
Lizenz:
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Die Gebrüder Kip
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