Zehntes Capitel.
Ein Doppelangriff.

[135] Sobald die mit einem Zwischenraume von sechs oder sieben Kabellängen dahinsegelnden Schiffe aufs offene Meer hinauskamen, wurde die Wasserfläche mit ebensoviel Aufmerksamkeit wie Unruhe beobachtet. Jetzt waren freilich schon achtundvierzig Stunden seit der plötzlichen, überhasteten Heimkehr der Fischer verflossen, ohne daß die Ruhe der Bai gestört worden war. Die Angst der Bewohner von Petropawlowsk sollte sich aber noch lange nicht legen. Selbst der Winter, meinten sie, werde sie gegen einen Ueberfall des Ungeheuers nicht schützen, da sich die Bai von Avatcha nie mit Eis bedeckte. Doch wenn sie auch zufror, wäre der Flecken, da sich das Ungethüm auf dem Lande ebenso wie auf dem Wasser bewegen könnte, vor seinem Ueberfalle nicht sicher gewesen.

Thatsächlich bemerkten die Mannschaften des »Saint Enoch« freilich gar nichts verdächtiges, und die des »Repton« sahen gewiß nicht mehr. Mit den Fernrohren wurden der Horizont und die Küste unausgesetzt nach allen Seiten abgesucht, doch nicht ein einziges Mal entdeckte man eine auffällige Bewegung des Wassers. Unter der Wirkung der Brise hob sich das Meer in sanfter Dünung, und auch auf der Seeseite waren kaum stärkere Wellen zu erkennen.[135]

Der »Saint Enoch« und sein Begleitschiff – wenn man dem anderen diesen Namen geben darf – trugen mit Backbordhalsen die oberen und die unteren Segel. Der Kapitän Bourcart befand sich dem Kapitän King gegenüber vor dem Winde, und dadurch, daß er um ein Viertel anlufen ließ, vergrößerte er bald die Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen.

Außerhalb der Bai war das Meer gänzlich verlassen, keine Rauchsäule, kein Segel zeigte sich am Horizonte. Wahrscheinlich vergingen auch noch so manche Wochen, ehe sich die Fischer aus der Bai von Avatcha wieder hinauswagten. Und wer weiß, ob diese Gegend im Norden des Stillen Oceans den ganzen Winter hindurch überhaupt von einem Schiffe aufgesucht wurde

Drei Tage verstrichen. Die Fahrt wurde durch kein bemerkenswerthes Ereigniß, durch keinen Unfall unterbrochen. Die Wachen auf dem »Saint Enoch« bemerkten nichts, was auf die Nähe des Oceansriesen hingedeutet hätte, vor dem es ganz Petropawlowsk so sehr bangte. Und doch hatten die Leute immer scharf Ausguck gehalten, drei Harpuniere auf den Marsen des Fock-, des Groß- und des Besanmastes.

Doch wenn die große Seeschlange sich nirgends zeigte, hatte Bourcart ebensowenig Gelegenheit, seine Boote auszusenden, denn hier gab es weder Pottwale noch Walfische. Die Mannschaft war auch recht mißvergnügt, da sie sich sagen mußte, daß diese zweite Campagne so gut wie fruchtlos verlief.

»Wahrhaftig, sagte Bourcart wiederholt, die Sache ist ganz unerklärlich! Hier liegt etwas zu Grunde, wovon man sich keine Rechenschaft geben kann! In der jetzigen Jahreszeit trifft man im Norden des Stillen Oceans Spritzwale gewöhnlich in großer Menge und jagt sie wohl bis Mitte November. Wir sehen dagegen keinen einzigen, und – so, als ob alle von ihnen entflohen wären – ebensowenig Walfänger wie Walfische.

– Doch wenn die Cetaceen, bemerkte der Doctor Filhiol, nicht hier sind, so werden sie ja anderswo sein, denn ich meine, Sie werden nicht annehmen, daß diese Thierart plötzlich ganz verschwunden sei.

– Wenn sie das Seeungeheuer nicht bis zum letzten aufgezehrt hat! antwortete der Lieutenant Allotte.

– Auf mein Wort, fuhr der Doctor Filhiol fort, bei unserer Abfahrt aus Petropawlowsk glaubte ich schon verzweifelt wenig an die Existenz dieses außerordentlichen Thieres, und jetzt glaub' ich gar nicht mehr daran. Die Fischer sind das Opfer einer Täuschung gewesen. Sie werden höchstens einenAchtfuß an der Wasserfläche gesehen haben und die Furcht hat ihnen diesen ins übermäßige vergrößert. Eine Seeschlange von dreihundert Fuß Länge, das ist eine Fabel, die man dem alten »Constitutionel« (diese Zeitung hatte früher völlig ernsthaft grausige Seeschlangengeschichten gebracht. D. Uebers.) mittheilen sollte.«


Ein solches Thier wäre den scharfen Augen Jean-Marie Cabidoulin's nicht entgangen. (S. 140.)
Ein solches Thier wäre den scharfen Augen Jean-Marie Cabidoulin's nicht entgangen. (S. 140.)

Allgemein herrschte diese Ansicht an Bord des »Saint Enoch« freilich nicht. Die Leichtmatrosen und der größere Theil der Vollmatrosen lauschten den Worten des Böttchers, der nicht aufhörte, ihnen mit haarsträubenden Geschichten – wie der Zimmermann Ferut sagte – bange zu machen.

Jean-Marie Cabidoulin änderte seine Anschauungen nicht, und seiner Ueberzeugung nach hatten die Fischer von Petropawlowsk keinen Irrthum begangen. Das Seeungeheuer war in der Wirklichkeit vorhanden, nicht nur in der Einbildung jener armen Leute. Der Böttcher brauchte zum Beweise dessen gar kein neues Zusammentreffen mit dem Unthiere, und auf verschiedene an ihn gerichtete Scherzreden antwortete er heute:

»Wenn der »Saint Enoch« das Thier auch nicht zu sehen bekommt, bei seiner Fahrt ihm nicht begegnet, so ändert das doch an der Sache gar nichts. Die Kamtschadalen haben es gesehen, andere werden es noch sehen und wahrscheinlich meist zu ihrem Schaden. Ich glaube auch fest, daß wir selbst...

– Wann denn? fragte Meister Ollive.

– O, weit eher, als Du denkst, erklärte der Böttcher, und zu unserem Unglück...

– Eine Flasche Tafia, Alterchen, daß wir auch kein Schwanzendchen von Deiner Schlange zu Gesicht bekommen, ehe der »Saint Enoch« in Vancouver angelegt hat.

– Du kannst ebenso gut zwei oder drei... ja ein halbes Dutzend verwetten...

– Wieso denn?

– Weil Du sie niemals, weder in Victoria noch anderswo, zu bezahlen brauchst.«

Bei dem starrsinnigen Jean-Marie Cabidoulin bedeutete diese Antwort natürlich daß der »Saint Enoch« auf der jetzigen letzten Reise zu Grunde gehen werde.

Am Vormittage des 13. October verloren sich die beiden Fahrzeuge aus dem Gesicht. Schon seit vierundzwanzig Stunden verfolgten sie nicht mehr die gleiche Richtung, und der »Repton«, der sich dicht am Winde hielt, befand sich in etwas höherer Breite.[139]

Die schöne Witterung dauerte ununterbrochen bei ruhigem Meere an. Der Wind stand abwechselnd aus Südwest und Nordwest, war also der Fahrt nach der Westküste Amerikas immer günstig. Nach seinen Beobachtungen befand sich Bourcart schon vierhundert Meilen von der Küste Asiens, also etwa auf dem Drittel der ganzen Reise.

Der Stille Ocean war vollständig leer, seit der englische Walfänger sich weiter nach Norden gewendet hatte. So weit der Blick reichte, zeigte sich nichts auf der ganzen Kreisfläche des Wassers, das kaum leicht gekräuselt dalag. Auch weit fliegende Vögel verirrten sich nicht bis auf diese Entfernung von der Küste. Hielt der Wind ferner in gleicher Weise an, so mußte der »Saint Enoch« bald die Alëuten in Sicht bekommen.

Hier muß noch erwähnt werden, daß an den nachgeschleppten Angelschnüren seit der Abreise kein einziger Fisch gefangen worden war. Alle Nahrung mußte also den Vorräthen des Schiffes entnommen werden. Gewöhnlich liefert der Fischfang in diesem Theile des Oceans einen reichlichen Ertrag. Zu Hunderten werden da Boniten, Meeraale, Rochen, Hundshaie, Brassen und Goldbrachse erbeutet. Die Schiffe gleiten da zuweilen durch richtige Schwärme von Haifischen, Meerschweinen, Delphinen und Schwertfischen dahin. – Jetzt – gewiß eine seltsame Beobachtung – schien es, als ob alle lebenden Wesen aus dieser Gegend entflohen wären.

Die Wachen meldeten freilich auch nicht das Erscheinen eines durch Gestalt und Größe auffallenden Thieres. Ein solches wäre den scharfen Augen Jean-Marie Cabidoulin's gewiß nicht entgangen. Auf dem Bugspriet an dessen Spur (d. i. der Stelle, wo es auf dem Deck befestigt ist) sitzend und um besser sehen zu können, mit der Hand über den Augen, starrte der Böttcher hinaus und gab keinem, der ihn etwas fragte, Antwort. Was die Matrosen ihn zwischen den Zähnen murmeln hörten, das war nur für ihn selbst, nicht für andere bestimmt.

Am Nachmittage des 13., gegen drei Uhr, ertönte plötzlich, zum Erstaunen der Officiere und der Besatzung, vom Großmast herunter der Ruf:

»Walfisch hinter Steuerbord!«

Der Harpunier Durut hatte eine Cetacee seewärts vom »Saint Enoch« erblickt.

Und richtig, im Nordosten wiegte sich eine schwärzliche Masse auf der an- und abschwellenden Dünung.

Augenblicklich richteten sich alle Fernrohre darauf hin.[140]

Doch hatte sich der Harpunier nicht etwa getäuscht?... Handelte es sich um einen Walfisch oder vielleicht um den Rumpf eines gescheiterten Schiffes? Von einer Seite zur anderen flogen Muthmaßungen über die Sache hin und her.

»Ja, es ist ein Walfisch, meinte der Lieutenant Allotte, und der liegt völlig still.

– Vielleicht, antwortete der Lieutenant Coquebert, ist er gerade im Begriff unterzutauchen.

– Wenn er nicht etwa schläft, bemerkte Heurtaux.

– Nun, jedenfalls müssen wir erfahren, um was es sich handelt, fuhr der Lieutenant Allotte fort, und wenn der Kapitän Befehl geben möchte...«

Bourcart antwortete nicht gleich, sondern beobachtete das Thier, mit dem Fernrohr vor den Augen, noch weiter.

Neben ihm und auf das Vorderkastell gelehnt, sah der Doctor Filhiol ebenso aufmerksam darauf hin und sagte endlich:

»Möglicherweise ist das ein todter Walfisch, wie wir deren schon mehrere gefunden haben.

– Ein todter? rief der Lieutenant Allotte.

– Wenn es überhaupt ein Walfisch ist, bemerkte der Kapitän Bourcart.

– Und was sollte es denn sein? fragte der Lieutenant Coquebert.

– Eine Seetrift... ein verlassenes Schiff.«

Es war ja schwierig, sich bestimmt auszusprechen, da die Masse vom »Saint Enoch« mindestens sechs Meilen entfernt lag.

»Nun, Kapitän? wendete sich Allotte noch einmal an diesen.

– Meinetwegen,« antwortete Bourcart, der ja die Ungeduld des jungen Officiers genügend kannte.

Sofort commandierte er: »Helm luvwärts! Die Schoten anziehen!« – Das Schiff drehte sich langsam und wendete den Bug mehr nach Nordosten.

Vor vier Uhr befand sich der »Saint Enoch« nur noch eine halbe Meile von seinem Ziele entfernt.

Jetzt konnte man sich nicht mehr täuschen: das war nicht der Rumpf eines Schiffes, sondern ein sehr großer Wal, von dem sich nur noch nicht sagen ließ, ob er lebendig oder todt sei.

Heurtaux ließ eben das Fernrohr sinken und erklärte:

»Wenn der Wal da im Schlafe liegt, werden wir ihn ohne große Mühe abfangen.«[141]

Die Boote des Obersteuermanns und der beiden Lieutenants steuerten auf das Thier zu. War es lebendig, so sollte es verfolgt, war es aber todt, nach dem »Saint Enoch« geschleppt werden. Es mußte voraussichtlich gegen hundert Faß Thran liefern, denn Bourcart war selten ein Wal von solcher Größe begegnet.

Die drei Boote waren abgestoßen, während das Schiff beilegte.

Diesmal gaben die Officiere ihrer Eigenliebe nicht nach und suchten keiner den anderen zu überholen. Mit gehißten Segeln glitten die Boote nebeneinander hin und nahmen die Riemen erst zur Hilfe, als sie an den Wal bis auf eine Viertelmeile herangekommen waren.

Dann trennten sie sich, um diesem den Weg abzuschneiden, im Falle daß er zu entfliehen versuchte.

So viele Vorsichtsmaßregeln erwiesen sich jedoch als unnöthig, und der Obersteuermann rief eben:

»Keine Angst! Der entflieht oder taucht nicht mehr!

– Und wacht auch nicht auf, setzte der Lieutenant Coquebert hinzu; der ist todt!

– Ganz entschieden giebt es hier überhaupt keine anderen als verendete Walfische, äußerte Romain Allotte.

– Anseilen wollen wir ihn dennoch, antwortete Heurtaux, das verlohnt schon der Mühe.«

Es war in der That eine gewaltige Balänoptere, deren Zersetzung auch anscheinend noch nicht weit vorgeschritten, und sie konnte wohl kaum schon länger als vierundzwanzig Stunden todt sein, da die schwimmende Masse keinen fauligen Geruch um sich verbreitete.

Da zeigte sich leider, als die Boote um das Thier herumfuhren, ein breiter Riß an dessen linker Seite. Die Eingeweide schwammen daneben auf dem Wasser und ein Theil des Schwanzes fehlte gänzlich. Der Kopf zeigte Spuren einer starken Collision und das weit offene Maul war der Barten beraubt, die, aus den Kiefern gelöst, versunken sein mochten. Der Speck des zerfetzten und von Wasser erweichten Körpers hatte keinen Werth mehr.

– Wie schade, sagte Heurtaux, daß sich aus dem Burschen auch gar nichts mehr gewinnen läßt!

– Da lohnt sich's also wohl gar nicht erst der Mühe, ihn ins Schlepptau zu nehmen? fragte der Lieutenant Allotte.[142]

– Nein, gewiß nicht, antwortete der Harpunier Kardek, er ist in einem solchen Zustande, daß wir unterwegs von dem Burschen noch die Hälfte verlieren würden.

– Also vorwärts! Nach dem »Saint Enoch!« befahl Heurtaux.

Die Boote, die zur Rückfahrt fast Gegenwind hatten, wurden nur mit den Riemen fortbewegt. Da das Schiff sich aber wieder unter Segel näherte, hatten sie es sehr bald erreicht und wurden sogleich an Bord gehißt.

Als Bourcart den Bericht des Obersteuermanns angehört hatte, sagte er:

»Es war also eine Balänoptere?

– Ja, Kapitän.

– Zeigte aber keine Verletzung durch eine Harpune?...

– Nein, gewiß nicht, versicherte Heurtaux, eine Harpune macht nicht derartige Verletzungen. Es sah vielmehr aus, als ob das Thier zerquetscht worden wäre.

– Zerquetscht?... Von wem oder was denn?«

Jean-Marie Cabidoulin hätte man darüber nicht zu fragen brauchen; dessen Antwort ließ sich schon errathen. Hatte er also wirklich allen anderen gegenüber damit recht gehabt, daß diese Meeresgegend durch ein Seeungeheuer von unglaublicher Größe und alles übertreffender Körperkraft verheert würde?...

Die Fahrt ging weiter, und über das Wetter hätte Bourcart sich gewiß nicht zu beklagen gehabt. Kaum je hatte der Wind eine seiner Reisen so dauernd begünstigt, und die jetzige konnte also nur von kurzer Dauer sein. Wenn die atmosphärischen Zustände nicht ins Gegentheil umschlugen, brauchte der »Saint Enoch«, um Vancouver zu erreichen, nur dreiviertel der Zeit, die zur früheren Fahrt von da nach den Kurilen nöthig gewesen war. Wäre sein Fang glücklicher gewesen, so hätte er den Thran auch noch zur Zeit verkaufen können, wo man in Victoria dafür gern hohe Preise bewilligte.

Leider war die Campagne weder im Ochotskischen Meere noch seit der Abfahrt aus Petropawlowsk von erwünschtem Erfolge gewesen. Die Leute hatten den Schmelzofen nicht ein einziges Mal angeheizt und der dritte Theil der Fässer war leer geblieben.

Hier hieß es also, gute Miene zum bösen Spiele zu machen und sich mit der Hoffnung zu trösten, daß man sich nach einigen Monaten in den neuseeländischen Meeren schadlos halten werde.[143]

Meister Ollive predigte auch immer den Leichtmatrosen, denen die Erfahrungen der Vollmatrosen noch fehlten:

»Da seht Ihr's ja, Jungens, das Geschäft ist eben wie es ist! Das eine Jahr hat man Erfolg, das andere nicht, deshalb braucht man sich aber nicht zu verwundern oder gleich alles Vertrauen zu verlieren. Die Walfische laufen nicht den Schiffen nach, sondern das Schiff den Walfischen, und wenn die ins offene Meer ausgewandert sind, dann heißt's, eine seine Nase haben, die Burschen aufzuspüren. Versorgt Euch also mit der nöthigen Geduld, packt sie in Eueren Sack, legt das Schnupftuch drüber und wartet das weitere ruhig ab!«

Das war ja verständig gesprochen, und es lohnte sich mehr, auf den Meister Ollive zu hören, als auf den Meister Cabidoulin, dem gegenüber der erstere jedes Gespräch mit den Worten beendigte:

»Na, die Flasche Tafia gilt doch noch?

– Jetzt und immer!« erwiderte dann der Böttcher.

Thatsächlich schien es freilich, als ob die Dinge, je weiter man hinauskam, Jean-Marie Cabidoulin immer mehr recht geben sollten. Traf der »Saint Enoch« auf keinen Walfisch, so wurden auf dem Meere doch mancherlei Triften, wie Trümmer von Booten und treibende Schiffsrumpfe, entdeckt. Bemerkenswerth war dabei ferner, daß die Schiffe alle durch eine Collision beschädigt zu sein schienen, und wenn sie von ihrer Besatzung verlassen waren, kam das daher, daß sie die See nicht mehr halten konnten.

Im Laufe des 20. October erfuhr die Eintönigkeit der Reise einmal eine Unterbrechung. Endlich bot sich dem »Saint Enoch« nämlich noch eine Gelegenheit, einen Theil der Fässer in seinem Raum zu füllen.

Da der Wind seit gestern merkbar abgeflaut war, hatte Bourcart noch die Topp- und die Stagsegel setzen lassen. Am wolkenlosen Himmel glänzte die Sonne und scharf hob sich die Grenzlinie des Horizontes im ganzen Umkreise ab.

Gegen drei Uhr befanden sich der Kapitän Bourcart, der Doctor Filhiol und die Officiere unter dem Sonnendache des Hinterdecks im Gespräch, als plötzlich der Ruf:


Das war nicht der Rumpf eines Schiffes, sondern ein großer Wal. (S. 141.)
Das war nicht der Rumpf eines Schiffes, sondern ein großer Wal. (S. 141.)

»Ein Walfisch... ein Walfisch!« aufs neue ertönte.

Der Harpunier Ducrest war es, der diesen Ruf von der Mars des Großmastes ausgestoßen hatte.

»In welcher Richtung? fragte ihn sofort der Hochbootsmann.

– Drei Meilen von uns unter dem Winde.«[144]

Diesmal konnte kein Irrthum vorliegen, denn man sah den bekannten Dampf- und Wasserstrahl deutlich aufsteigen. Das Thier war offenbar eben aus dem Wasser emporgetaucht, als Ducrest es bemerkte. Ein zweiter aufsteigender Strahl folgte auch bald dem erstbeobachteten nach.

Da war es denn kein Wunder, daß der Lieutenant Allotte nicht dazu schweigen konnte.

»Endlich... der ist doch nicht todt, der Bursche da draußen! rief er freudig.[145]

– Nein bestätigte Heurtaux, und er kann nicht einmal verwundet sein, da er keinen blutigen Strahl ausbläst!

– Die drei Boote ausgesetzt!« befahl der Kapitän Bourcart.

Kaum jemals hatten so günstige Verhältnisse für eine Jagd vorgelegen, wie heute, denn das Meer war fast glatt, eine leichte Brise schwellte die Segel der Boote und dazu blieb es noch mehrere Stunden hell, was auch eine etwa nöthige, längere Verfolgung gestattete.

Binnen wenigen Minuten schwammen die Boote des Obersteuermanns und der beiden Lieutenants mit der nöthigen Ausrüstung auf dem Wasser, besetzt von Heurtaux, Coquebert und Allotte, je einem Matrosen am Steuer, vier Mann für die Ruderbänke, und von den Harpunieren Kardek, Durut und Ducrest, die im Vordertheile Platz nahmen. Dann segelten sie schnell in nordöstlicher Richtung ab.

Heurtaux empfahl den beiden Lieutenants, die größte Vorsicht zu beobachten, da es von Wichtigkeit war, den Wal nicht zu erschrecken, sondern ihn zu überraschen. Er schien sehr groß zu sein, denn zuweilen spritzte das Wasser von den Schlägen seines Schwanzes auffallend hoch empor.

Der »Saint Enoch« kam unter verminderter Segelfläche langsam nachgefahren.

Die drei Boote schritten in gerader Linie neben einander vor und sollten einer ausdrücklichen Empfehlung Bourcart's nach keines dem anderen vorausfahren, da es gerathener und sicherer erschien, im Augenblicke des Angriffs auf das Thier beisammen zu sein.

Der Lieutenant Allotte mußte also seine Ungeduld zügeln. Das kam ihm aber offenbar schwer genug an, denn von Zeit zu Zeit mußte Heurtaux ihn zurückhalten.

»Nicht so schnell, Allotte, nicht zu schnell! ermahnte er ihn dann. Bleibt, wie sich's gehört, hübsch in Reih' und Glied!«

Als der Walfisch zuerst erblickt worden war, lag er etwa drei Meilen vom Schiffe entfernt, eine Strecke, die die Boote bequem in einer halben Stunde zurücklegen konnten.

Nun wurden die Segel eingezogen und die Maste auf die Bänke niedergelegt, um bei den weiteren Vornahmen nicht hinderlich zu sein. Jeder Harpunier hatte zwei Harpunen – eine zum Ersatz – bei der Hand; ebenso lagen die neugespitzten Lanzen und die frisch geschliffenen Beile in Bereitschaft. Man überzeugte[146] sich noch, daß die in den Balgen aufgerollt liegenden Leinen sich nicht verwickeln und über die mit Blei ausgelegte Einkerbung am Vordertheile leicht ablaufen könnten, sowie, daß sie mit der hinter dem kleinen Vordeck angebrachten Rolle schnell wieder aufzuwinden wären. Wenn das harpunierte Thier dann über das Wasser hin entwich oder unter dieses eintauchte, wollte man ihm die Leine nachschießen lassen.

Es handelte sich hier um eine achtundzwanzig bis neunundzwanzig Meter lange Balänoptere von der Art der Culammaks. Mit den drei Meter langen Brustflossen und dem sechs bis sieben Meter langen dreieckigen Schwanze mochte das Thier wohl gegen hundert Tonnen wiegen.

Ohne die geringste Beunruhigung zu verrathen, ließ sich der Culammak, den Kopf abseits von den Booten gewendet, von der langen Dünung auf und ab wiegen. Jean-Marie Cabidoulin hatte mit Bestimmtheit erklärt, daß er mindestens zweihundert Faß Thran liefern werde.

Die drei Boote, eines an jeder Seite und das dritte hinter diesen etwas zurückbleibend und nun bereit, nach links und nach rechts zu wenden, waren nahe bei dem Wale angelangt, ohne daß er etwas davon bemerkt hatte.

Durut und Ducrest standen schon auf dem kleinen Deck an der Spitze der Boote und schwangen ihre Harpunen in der Erwartung, sie auf den Wal unterhalb seiner Brustflossen zu schleudern, was diesen, wenn er richtig getroffen wurde, gleich tödtlich verwundete. Erreichten ihn die Harpunen von beiden Seiten, so mußte er um so sicherer zu erbeuten sein. Wenn dann auch eine Leine zerriß, hielt man ihn doch noch an der anderen, ohne befürchten zu müssen, ihn während des Untertauchens zu verlieren.

In dem Augenblicke aber, wo der Lieutenant Allotte näher an den Culammak heranfahren wollte, drehte dieser sich, noch ehe der Harpunier seine Waffe auf ihn schleudern konnte, so blitzschnell um, daß das Boot dabei ernstlich in Gefahr kam, und tauchte dann unter mit einem mächtigen Schlage des Schwanzes auf das Wasser, das wohl zwanzig Meter hoch auf spritzte.

»Der verwünschte Bursche! riefen die Matrosen.

– Da geht er uns nun davon!

– Ohne einen Lanzenstich in der Seite!

– Und ohne eine Leine, die ihm nachschösse!

– Wann wird er wohl wieder auftauchen?

– Und wo wird er dann sichtbar werden?«[147]

Gewiß war nur, daß bis dahin eine halbe Stunde, nämlich ebensoviel Zeit wie seit dem ersten Aufsteigen seines Wasserstrahles, vergehen werde.

Nach der heftigen Bewegung infolge des Schlages mit dem Schwanze hatte sich das Meer allmählich wieder beruhigt. Die Boote ruderten näher an einander heran. Heurtaux und die beiden Lieutenants waren fest entschlossen, sich eine so gute Beute nicht entgehen zu lassen.

Zunächst blieb freilich nichts anderes übrig, als das Wiederauftauchen des Culammaks abzuwarten, dem man ja nicht mittels Leine folgen konnte. Zu wünschen war da nur, daß das unter dem Winde der Fall wäre, damit man ihn mit Riemen und Segeln verfolgen könnte.

Weit und breit zeigte sich übrigens keine andere Cetacee.

Kurz nach vier Uhr war es, als der Culammak von neuem sichtbar wurde. Hagelgleich schoß er zwei mächtige Luft- und Wasserstrahlen empor.

»Die Segel hißen... die Riemen einlegen... schnell drauf los!« rief Heurtaux.

Eine Minute später glitten die Boote eiligst in der Richtung nach dem Wale hin.

Dieser entfernte sich jedoch, mit dem Rücken über dem Wasser liegend, mit größter Geschwindigkeit weiter nach Nordosten.

Da der Wind etwas frischer geworden war, kamen ihm die Boote dennoch langsam näher.

Der Kapitän ließ in der Befürchtung, seine Leute könnten sich gar zu weit entfernen, jetzt auch Segel beisetzen, um jene nicht aus dem Auge zu verlieren. Mit der Strecke, die er nach Nordosten zurücklegte, ersparte er den Booten Zeit und Anstrengung, wenn diese mit dem Thiere im Schlepptau nach dem Schiffe zurückkehren wollten.

Die Jagd ging inzwischen unverändert weiter. Der Culammak entfloh noch immer, und die Harpuniere konnten ihm nicht nahe genug kommen, von ihren Harpunen Gebrauch zu machen.

Allein auf ihre Riemen angewiesen, hätten die Boote nicht so lange Zeit so schnell vorwärts kommen können. Glücklicherweise half ihnen dabei der Wind, und das Meer war der Fahrt obendrein günstig. Nur die herannahende Nacht konnte Heurtaux und seine Leute zwingen, nach dem »Saint Enoch« zurückzukehren, da es ihnen an Lebensmitteln fehlte, bis zum nächsten Tage auf dem Meere auszuhalten. War die Balänoptere nicht vor Eintritt der Dunkelheit[148] getödtet und angeseilt, so mußten die Jäger wohl oder übel auf die Fortsetzung der Verfolgung verzichten.

Allem Anscheine nach sollte dieser Fall eintreten, und es war bereits halb sieben Uhr, als der noch auf dem kleinen Deck stehende Durut ausrief:

»Ein Schiff im voraus!«

Heurtaux sprang in dem Augenblicke auf, wo die Lieutenants Coquebert und Allotte das betreffende Schiff zu sehen suchten.

Ein Dreimaster, der unter vollen Segeln sich so dicht wie möglich am Winde hielt, erschien in der Entfernung von vier Meilen im Nordosten.

Daß es ein Walfänger sei, unterlag keinem Zweifel. Wahrscheinlich hatten auch seine Wachen den Culammak entdeckt, der sich jetzt in der Mitte zwischen ihm und den Booten hielt.

Da rief plötzlich Romain Allotte, während er das Fernrohr sinken ließ:

»Das ist der »Repton«...

– Ja wahrhaftig... der »Repton«, bestätigte Heurtaux, er scheint uns den Weg abschneiden zu wollen...

– Er führt auch Backbordhalfen... setzte Yves Coquebert hinzu.

– O, er wird uns nur den Salut entbieten wollen!« sagte der Lieutenant Allotte mit bitterer Ironie.

Acht Tage waren jetzt seit der Trennung des französischen und des englischen Fahrzeuges verflossen, nachdem sie Petropawlowsk gleichzeitig verlassen hatten. Der »Repton« hatte einen mehr nördlichen Curs eingeschlagen, so als ob er nach der Behringstraße segeln wollte, und jetzt tauchte er doch hier auf, ohne die nächsten alëutischen Inseln umschifft zu haben.

Wollte nun der Kapitän King jetzt ebenfalls auf das Thier Jagd machen, das die Boote des »Saint Enoch« schon seit drei langen Stunden verfolgten?

Diese Vermuthung bestätigte sich, denn der Harpunier Kardek meldete Heurtaux:

»Da... jetzt setzen sie ihre Boote aufs Wasser.

– Es ist klar, sie wollen den Wal fangen, erklärte der Lieutenant Coquebert.

– Sollen ihn aber nicht bekommen!« antwortete Romain Allotte entschlossen.

Die übrigen Leute stimmten, das kann ja nicht wundernehmen, dem Lieutenant bei.[149]

Obgleich es über dem Meere schon ziemlich stark dunkelte, schossen die Boote des »Repton« doch mit größter Geschwindigkeit auf den Culammak zu, der jetzt unbeweglich dalag, als wisse er nicht, ob er nach Osten oder nach Westen entfliehen sollte. Die Matrosen vom »Saint Enoch« legten sich jetzt mit Leibeskräften in die Riemen, um den Engländern zuvorzukommen, denn da es windstill geworden war, hatten die Segel eingezogen werden müssen.

»Fest, Kinder, fest!« wiederholten Heurtaux und die Lieutenants, die ihre Leute durch Zurufe und Handbewegungen anfeuerten.

Die Matrosen aber, die sich im Rudern fast selbst überboten, riefen einstimmig:

»Nein, sie sollen ihn nicht bekommen... sollen ihn nicht fangen!«

Die auf beiden Seiten noch zurückzulegende Entfernung war ziemlich gleich groß, und es sah aus, als ob alle Boote die Balänoptere zur gleichen Zeit erreichen würden, wenn diese nicht noch einmal untertauchte.

Jetzt war natürlich keine Rede mehr davon, sich in einer Linie zu halten, wie es Heurtaux vorher angeordnet hatte. Jedes Boot eilte sozusagen auf eigene Rechnung dahin. Wie gewöhnlich hielt sich der Lieutenant Allotte an der Spitze und rief immer wieder:

»Fest, Kinder, fest anziehen!«

Doch auch die Engländer kamen schnell näher und der Culammak schien sich obendrein nach ihrer Seite wenden zu wollen.

Binnen zehn Minuten mußte die Sache entschieden sein; dann war der Wal entweder harpuniert oder von neuem im Wasser verschwunden.

Nach wenigen Augenblicken lagen die sechs Boote einander auf Kabellänge gegenüber, und es war sehr fraglich, was sich bei der gereizten Stimmung beider Mannschaften wohl noch ereignen könnte.

»Der Bursche da will wohl seinen Thran gar den Engländern zutragen?« rief einer der Matrosen aus Coquebert's Boote, als er das Thier sich gegen den »Repton« hin wenden sah.

Doch nein, der Culammak machte halt, als die Boote sich ihm auf hundert Fuß genähert hatten. Um sicherer zu entkommen, wollte er vielleicht noch untertauchen.

In diesem Augenblicke schwang Ducrest auf dem Boote Allotte's seine Harpune und schleuderte sie kräftig hinaus, während der Harpunier von dem zum »Repton« gehörigen Boote Strok's auch die seine hinauswarf.[150]

Der Culammak war getroffen. Aus seinen Spritzlöchern sprang blutiger Schaum in die Höhe, noch einmal schlug er mit dem Schwanze auf das Meer, drehte sich dann auf den Rücken und blieb regungslos liegen.

Welcher von den beiden Harpunieren hatte ihm nun die tödtliche Verletzung beigebracht?

Quelle:
Jules Verne: Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 135-137,139-151.
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