[92] Der Kapitän Bourcart fuhr am Morgen des 19. Juli ab. Als der Anker gelichtet war, konnte das Schiff nur mit Mühe aus der Bai hinaussteuern. Der Wind, der eben aus Südosten kam, war ihm außerdem hinderlich und konnte erst ausgenutzt werden, wenn der »Saint Enoch« nach Umsegelung der letzten Spitzen von Vancouver einige Meilen draußen in der offenen See war.
Das Fahrzeug hatte jetzt übrigens nicht die Juan de Fucastraße gewählt, der es beim Einfahren in den Hafen gefolgt war; es steuerte vielmehr in nordwestlicher Richtung durch den Königin Charlottensund und den Georgsbusen. Am zweiten Tage und nachdem es die Nordküste der Insel hinter sich gelassen hatte, steuerte es westwärts und hatte noch vor dem Abend das Land aus dem Gesichte verloren.
Die Entfernung zwischen Vancouver und der Gruppe der Kurilen kann etwa auf fünfzehnhundert Lieues geschätzt werden. Unter günstigen Umständen kann sie ein Segler wohl binnen fünf Wochen zurücklegen. Auch Bourcart hoffte, wenn das Glück ihm günstig blieb, nicht mehr Zeit auf die Ueberfahrt zu verwenden.
Jedenfalls begann die Reise wenigstens unter den günstigsten Verhältnissen. Bei der aufgesprungenen frischen Brise und dem nur von langen, dünungsartigen Wellen bewegten Meere, konnte der »Saint Enoch« alle seine Segel führen. Unter Backbordhalfen glitt er langsam schaukelnd nach Westnordwesten hin. Wurde sein Curs hierdurch auch etwas verlängert, so vermied er dabei doch die Pacifische Strömung, die nach Osten hin und dann längs der Kette der Alëuteninseln verläuft.
Die Fahrt verlief im ganzen ohne jede Widerwärtigkeit. Nur von Zeit zu Zeit waren die Schoten ein wenig anzuziehen oder nachzulassen. Die Mannschaft war also voraussichtlich frisch und bereit für die beschwerliche Fangfahrt, die ihr im Ochotskischen Meere bevorstand.
Die meiste Arbeit an Bord fiel immer Jean-Marie Cabidoulin zu. Er hatte die richtige Aufstellung der Fässer im Frachtraume zu besorgen, die Hilfsapparate nachzusehen und die Schläuche und Baljen zu untersuchen, mittels der[92] der Thran hinuntergeleitet werden sollte. Denn wenn sich die Gelegenheit böte, einen Wal zu erlegen, ehe der »Saint Enoch« an der sibirischen Küste eintraf, wollte der Kapitän Bourcart sich diese nicht entgehen lassen.
»Zu wünschen wär' es wahrlich, Herr Filhiol, sagte er eines Tages zu dem Arzte. Die Jahreszeit ist schon ziemlich vorgeschritten und über mehr als einige Wochen werden wir den Fang im Ochotskischen Meere nicht ausdehnen können. Bald genug dürften sich Eisschollen bilden, die die Schiffahrt doch gar zu sehr erschweren.
– Mich verwundert es immer, bemerkte der Doctor, daß die Walfänger bei der kurzen Zeit, die sie zur Verfügung haben, noch immer in der ursprünglichen alten Weise zu Werke gehen. Warum benützen sie keine Dampfschiffe und Dampfbarcassen und vor allem keine verbesserten Angriffswaffen und Fanggeräthe? Dadurch müßte doch ein weit höherer Ertrag erzielt werden.
– Sie haben ja recht, lieber Doctor, und glauben Sie, das wird schon in Zukunft noch kommen. Wir sind bis jetzt freilich bei unserem alten Schlendrian geblieben. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts wird jedoch nicht verstreichen, ohne daß man sich dem Fortschritte, der sich ja in allen Dingen fast aufdrängt, auch hierin fügen wird.
– Das glaub' ich auch, Kapitän; der Fang wird dann mit vervollkommneten Hilfsmitteln betrieben, wenigstens wenn man nicht bei dem Seltenerwerden der Walfische darauf zukommt, sie zu züchten und einzuhegen.
– Ein Walfischgehege! rief Bourcart.
– Nun, ich spreche jetzt im Scherz, gestand der Doctor Filhiol, und doch kannte ich einen, der diesen Gedanken im Ernst ausgesprochen hat.
– Wäre das möglich?
– Jawohl, die Wale in einer Bai einhegen, wie man die Kühe in einem Pferch unterbringt. Da hätte ihre Ernährung nichts gekostet und man hätte sogar ihre Milch mit Vortheil verkaufen können.
– Ihre Milch verkaufen, Doctor?
– Gewiß, denn die ist scheinbar ebenso gut wie die der Kuh.
– Wie sollten die Thiere aber gemolken werden?
– Ja, das wußte mein Bekannter freilich auch nicht, und deshalb hat er den ganzen wunderbaren Plan fallen lassen.
– Und daran sehr klug gethan, erklärte Bourcart herzlich auflachend. Doch, um auf den »Saint Enoch« zurückzukommen, ich habe Ihnen schon[93] erklärt, daß er die Campagne im Norden des Stillen Oceans nicht lange wird fortsetzen können, und daß wir schon Anfang October zur Rückkehr genöthigt sein werden.
– Und wo soll der »Saint Enoch« überwintern, wenn er das Ochotskische Meer verlassen hat?
– Das weiß ich selbst noch nicht.
– Wie... das wissen Sie nicht?
– Nein, das wird von den Umständen abhängen, lieber Doctor. Einen Plan vorzeitig zu entwerfen, das führt oft zu ärgerlicher Enttäuschung.
– Haben Sie nicht auch schon in den Gewässern jenseits der Behringstraße gefischt?
– Jawohl, dort hab' ich aber mehr Robben als Wale gefunden. Der Winter tritt im Arktischen Meere auch überaus zeitig ein, und schon in den ersten Wochen des Septembers wird die Schiffahrt dort durch Eis erschwert. Ich denke also dieses Jahr nicht über den sechzigsten Breitengrad hinauszugehen.
– Einverstanden, Kapitän; doch wird der »Saint Enoch«, wenn sich der Fang im Ochotskischen Meere ergiebig gestaltet hätte, dann nach Europa zurücksegeln?
– Nein, lieber Doctor; meiner Ansicht nach wird es vorzuziehen sein, den Thran in Vancouver zu verkaufen, da er dort jedenfalls noch sehr gut bezahlt wird.
– Und denken Sie ebenda den Winter zuzubringen?
– Wahrscheinlich, schon um zu Anfang der nächsten Saison den Fangplätzen näher zu sein.
– Man muß jedoch alles ins Auge fassen, fuhr der Doctor Filhiol fort. Gedächten Sie, wenn der »Saint Enoch« im Ochotskischen Meere nicht vom Glück begünstigt würde, die Rückkehr der schönen Jahreszeit gleich dort abzuwarten?
– Nein, das nicht... obwohl man in Nikolajewsk und in Ochotsk recht gut überwintern kann. In diesem Falle würde ich mich lieber entschließen, wieder nach der Küste Amerikas oder selbst nach Neuseeland zu gehen.
– Wir können also, Kapitän, auf keinen Fall darauf rechnen, noch dieses Jahr nach Europa zurückzukommen?
– Nein, lieber Doctor; das braucht Sie auch nicht zu wundern. Es ist selten, daß unsere Reisen nicht vierzig bis fünfzig Monate dauerten. Die Mannschaft weiß schon, woran sie in dieser Beziehung ist.[94]
– O, und Sie können glauben, Kapitän, daß auch mir die Zeit nicht lang werden wird. Wie weit sich die Campagne auch ausdehnen möge, ich werde es niemals bedauern, mich auf dem »Saint Enoch« eingeschifft zu haben!«
Selbstverständlich hatten die Wachen von den ersten Tagen an ihre Posten wieder bezogen und das Meer wurde unablässig scharf im Auge behalten. Zweimal des Vormittags und zweimal des Nachmittags begab sich auch der Lieutenant Allotte zum Ausguck nach den Marsen. Manchmal bemerkte man aufsteigende Wassersäulen, die das Vorhandensein von Cetaceen verriethen, doch leider in zu großer Entfernung, als daß Bourcart die Boote hätte danach aussenden können.
Die Hälfte der Fahrstrecke war binnen siebzehn Tagen ohne jeden Zwischenfall zurückgelegt worden, und am 5. August bekam der Kapitän Bourcart die Alëuten in Sicht.
Diese Inseln, die jetzt zu Nordamerika gehören, bildeten jener Zeit noch einen Theil des Russischen Reiches, das damals auch noch die große Provinz Alaska besaß, deren natürliche Fortsetzung die Alëuten bilden. Die lange Inselkette dehnt sich fast über zehn Längengrade aus und enthält nicht weniger als fünfzig vereinzelte Glieder. Man theilt sie allgemein in drei Gruppen, in die eigentlichen Alëuten, die Andreanow und die Lisii. Darauf leben einige tausend Bewohner, meist nur auf den umfänglichsten Inseln des Archipels, wo sie der Jagd und dem Fischfange obliegen und auch Handel mit Pelzfellen betreiben.
Der »Saint Enoch« hatte Umanak, eine der großen Inseln, in fünf Seemeilen Entfernung gepeilt. Von dieser sah man deutlich den neuntausend Fuß hohen Vulcan Chichaldinskoï, der gerade in vollem Ausbruche war. Bourcart hielt es nicht für rathsam, näher heranzusegeln, da er bei dem herrschenden Westwinde fürchten mußte, dort ein stark aufgeregtes Meer anzutreffen.
Die Gruppe der Alëuten schließt im Süden das Behringsmeer ab, das von Amerika mit der Küste von Alaska im Osten und von Asien mit der Küste von Kamtschatka begrenzt wird. Diese Gruppe zeigt die Eigenthümlichkeit, einen mit der convexen Seite nach dem offenen Meere hinaus liegenden, flachen Bogen zu beschreiben... eine Eigenthümlichkeit, die, der geometrischen Anordnung nach, auch bei den Kurilen, den Liu-Khieu, den Philippinen und bei der Landveste Japans angetroffen wird.
Im Verlaufe der Fahrt konnte der Doctor Filhiol mit dem Blicke den launischen Grenzlinien dieses, mit vulkanischen Bergkegeln übersäten Archipels folgen, an dem ein Anlaufen in der schlechten Jahreszeit ernsthafte Gefahren bietet.[95]
Längs seiner Convexität hatte der »Saint Enoch« widrige Winde vermeiden können. Von einer stetigen Brise begünstigt, hatte er nur noch einen der Aeste der Kuro-Sivotrift zu durchschneiden, der mehr in der Nähe der Kurilen in nordöstlicher Richtung nach der Behringstraße zu verläuft.
Als der »Saint Enoch« am letzten Eiland der Alëuten vorübergekommen war, fand er einen nordöstlichen Wind. Das war sehr vortheilhaft für ein Fahrzeug, das einen südwestlichen Curs nach den Kurilen einschlagen wollte. Nachdem diese Gruppe passiert war, rechnete Bourcart darauf, die äußerste Spitze Kamtschatkas etwa in vierzehn Tagen zu erreichen.
An der Oeffnung des Behringsmeeres erhob sich aber plötzlich ein furchtbarer Windstoß, dem ein weniger fest gebautes und weniger geschickt geführtes Schiff vielleicht kaum hätte widerstehen können. An die Aufsuchung einer geschützteren Stelle in einer Bucht der Alëuteninseln war gar nicht zu denken, denn da hätten die Anker schwerlich sicher genug gefaßt und das Fahrzeug wäre an den Klippen daselbst zertrümmert worden.
Der von Blitzen begleitete und mit Regen und Hagel auftretende Sturm hielt achtundvierzig Stunden lang an. In der ersten Nacht wäre das Schiff beinahe auf die Seite gelegt worden, da der Sturmwind aber immer rasender heulte, waren fast alle Segel eingebunden worden und es lief nur noch vor dem Fock- und dem Marssegel.
Während dieses furchtbaren Unwetters lernte der Doctor Filhiol die Kaltblütigkeit des Kapitäns Bourcart und seiner Officiere bewundern, ebenso wie die Gewandtheit und Willigkeit der Mannschaft. Dem Meister Ollive sprach er seine höchste Anerkennung aus für die Schnelligkeit und Sicherheit, womit er alle Manöver leitete. Es hatte übrigens wenig gefehlt, so wären die Boote von Steuerbord, obwohl man die Dävits nach einwärts gedreht hatte, zerschmettert worden, wenn bei den heftigen Gierschlägen das Schiff so weit geneigt wurde, daß die Speigatten ins Meer tauchten.
Natürlich konnte sich der »Saint Enoch« unter diesen Verhältnissen nicht in seinem Curse halten, er mußte vielmehr vor dem Sturme, und zwar einen vollen Tag, vor Topp und Takel fliehen. Doch auch das ist sehr gefährlich, denn einem Schiffe droht dabei, »vom Meere verzehrt« zu werden. Wenn es nämlich vor dem Winde schnell dahinläuft, hat sein Steuerruder keine Wirkung mehr, und es ist sehr schwierig zu verhindern, daß es bald über Steuerbord und bald über Backbord geworfen wird. Dann ist auch das herausstürzende Wasser[96] am meisten zu fürchten, weil es das Schiff nicht an dem zu besserem Widerstande geeigneten Bug, sondern vom Heck her angreift, das gegen den Ansturm der Wogen weniger gerüstet ist.
Wiederholt fegten große Wassermengen gurgelnd und schäumend über das Deck des »Saint Enoch« hinweg. Die Mannschaft hielt sich schon bereit, die Schanzkleidung einzuschlagen, um deren Ablaufen zu erleichtern. Zum Glück genügten dazu die Speigatten, und die Lukendeckel, die sorgsam befestigt waren, wichen nicht von ihrer Stelle. Die am Steuerruder unter der Leitung des[97] Meisters Ollive stehenden Leute, konnten auch die Richtung nach Westen einigermaßen einhalten.
Der »Saint Enoch« kam auch diesmal ohne ernsthaftere Havarien davon. Der Kapitän Bourcart hatte nur den Verlust einer Bugsprietstenge zu beklagen, die man am Hintertheile anzubringen versucht hatte und an der bald nur noch formlose Fetzen hingen, die bei dem Wüthen des Sturmes wie mit Peitschengeknall an das Holz schlugen. Nach diesem vergeblichen Versuche, gegen den Wind aufzukommen, hatte sich der Kapitän erst entschlossen, vor diesem zu fliehen.
In der Nacht vom 10. zum 11. August nahm der Sturm allmählich ab. Fast mit dem Tagesanbruche konnte der Meister Ollive schon einige Segel setzen lassen.
Zu befürchten war nur noch, daß der Wind nach Westen umspringen könnte, wo der »Saint Enoch« jetzt beinahe noch achthundert Seemeilen vom asiatischen Lande entfernt war. Dann hätte das Schiff gegen den Wind anlaufen müssen und seine Fahrt wäre beträchtlich verlangsamt worden. Beim Lavieren lag überdies die Gefahr nahe, in die schnelle Strömung der Kuro-Sivatrift zu gerathen und nach Nordosten verschlagen zu werden, was dann vielleicht die Campagne im Ochotskischen Meere überhaupt in Frage stellte.
Das machte dem Kapitän die meiste Sorge. Konnte er sich auf die Festigkeit seines Schiffes und auch auf die Tüchtigkeit seiner Officiere verlassen, so erfüllte ihn doch die Besorgniß, diesen Umschlag des Windes eintreten zu sehen, was sein Eintreffen an den Kurilen stark verzögert hätte.
»Sollte uns das Glück wirklich den Rücken kehren und die Prophezeihungen des Unglücksvogels Cabidoulin zur Wahrheit werden lassen? wiederholte er mehrmals.
– O, der weiß ja gar nicht, was er schwätzt, erwiderte der Oberbootsmann Ollive, und er würde besser thun, seine Zunge zu verschlucken! Das strömt ihm aber aus dem Munde wie der Strahl eines Walfisches aus den Spritzlöchern! Er wirft nur immer alles blutig gefärbt aus, der Unglücksrabe!«
Der wackere Oberbootsmann fühlte sich im höchsten Grade befriedigt durch diese von ihm gegebene Antwort.
Eine Verzögerung, und wenn sie nur vierzehn Tage betrug, war von großer Bedeutung. Schon Anfang September entstehen im Ochotskischen Meere[98] die ersten Eisschollen, und gewöhnlich halten sich die Walfische in diesem nur bis zum Eintritt des Winters auf.
Als der Sturm vorüber war, vergaßen doch alle schnell, daß der »Saint Enoch« ein- oder zweimal dem Untergange nahe gewesen war, und der Spötteleien über Jean-Marie Cabidoulin wurden immer mehr und mehr.
»Siehst Du, Alterchen, redete Meister Ollive ihn an, das bist Du gewesen, der uns dieses Hundewetter über den Hals gebracht hat, und wenn aus unserer Campagne nichts würde, trägst Du allein die Schuld daran!
– Oh, erwiderte der Tonnenbinder, es hätte ja niemand zu kommen brauchen, mich aus meiner Werkstatt in der Rue des Tourettes herauszulootsen und an Bord des »Saint Enoch« zu schaffen...
– Jawohl, Cabidoulin, hast am Ende recht; doch wenn ich der Kapitän Bourcart wäre, wüßt' ich ganz genau, was ich thäte...
– Und was thätest Du denn?
– Nun, ich bände Dir eine Kugel an jeden Fuß und ließe Dich über Bord werfen...
– Vielleicht könnte mir gar nichts besseres widerfahren! antwortete Jean-Marie Cabidoulin mit ernster, tonloser Stimme.
– Der Teufel zöge ihn doch wieder heraus! rief Meister Ollive. Darum spricht er das so ernsthaft!
– Nein, weil es voller Ernst ist, und Du wirst ja noch sehen, welches Ende die Campagne nimmt!«
Mochte die Zukunft nun Jean-Marie Cabidoulin recht geben oder nicht, jedenfalls kam die Mannschaft während der Fahrt nach den Kurilen nicht dazu, den Schmelzofen anzufeuern. Die Wachhabenden bemühten sich fast ganz vergebens, Cetaceen zu erspähen, denn solche zeigten sich nur sehr selten und obendrein stets in großer Entfernung. Eigentlich hielten sich die Thiere zu dieser Jahreszeit gern an den Zugängen zum Behringsmeere auf; hier tummelten sich sonst riesige Balänopteren (Finnfische), dreißig Meter lange Jubarte, Culammaks und Umgulliks, die gar bis fünfzig Meter lang werden. Was war nun der Grund, daß sie jetzt hier fehlten?
Weder Bourcart noch Heurtaux konnten diese Frage richtig beantworten. Vielleicht waren die Thiere in den arktischen Meeresgebieten gar zu hitzig verfolgt worden und hatten sie, wie es erst später der Fall sein sollte, schon in den antarktischen Meeren Zuflucht gesucht.[99]
»Ach nein... nein! rief der Lieutenant Allotte. Was wir hier nicht vor den Kurilen finden, das werden wir hinter diesen antreffen. Dort drüben im Ochotskischen Meere erwarten uns der Walfische soviel, daß man das ganze Meeresbecken mit ihrem Thran anfüllen könnte!«
Wenn die überschwänglichen Erwartungen des Lieutenants sich vielleicht auch erfüllen sollten, war es doch nicht minder gewiß, daß es jetzt kein einziges Mal Gelegenheit gab, die Fangboote auszusenden. Ja man sah nicht einmal irgend ein anderes Schiff, und doch pflegen die Walfänger die hiesige Gegend im Monat August sonst noch nicht verlassen zu haben. Vielleicht befanden sie sich aber doch schon auf dem Ochotskischen Meere, wo es nach der Ansicht des Lieutenants von Spritzwalen wimmeln sollte. Vielleicht war darunter auch der »Repton«, der nach dem, was der Kapitän Forth gehört hatte, ja die Bai Marguerite verlassen haben und nach den nordwestlichen Theilen des Stillen Oceans gesegelt sein sollte.
»Mag sein, sagten die Matrosen; doch wenn er auch einen guten Fang gemacht hat, alles wird er nicht weggeschnappt haben, und für den »Saint Enoch« werden schon noch einige Walfische übrig geblieben sein!«
Die Besorgniß vor einem Umschlagen des Windes hatte sich zum Glück nicht erfüllt. Nach vierundzwanzigstündiger Stille sprang wieder ein Südostwind auf, der mehrere Tage gleichmäßig anhielt. Schon zeigten sich vereinzelt Seevögel – von den Arten, die bis einige hundert Meilen weit vom Lande hinausschwärmen – in der Nähe des Schiffes und setzten sich zuweilen zum Ausruhen auf die Spitzen der Raaen. Unter Backbordhalfen und mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von acht bis neun Knoten glitt der »Saint Enoch« seines Weges dahin. Die Fahrt verlief in einer Weise, daß der Kapitän Bourcart gewiß keine Ursache zu klagen hatte.
Am 21. August ergab das Besteck nach den zwei Beobachtungen um zehn Uhr und zu Mittag hundertfünfundsechzig Grad siebenunddreißig Minuten der Länge und neunundvierzig Grad dreizehn Minuten der Breite.
Gegen ein Uhr standen der Kapitän und seine Officiere auf dem Hinterdeck beisammen. Leicht nach Steuerbord überliegend, ließ der »Saint Enoch« ein flaches Kielwasser hinter sich, das schnell unter dem Heckbalken hervorwirbelte.
Plötzlich rief der zweite Officier:
»Da... was seh' ich denn da draußen?«...[100]
Alle Blicke wendeten sich luvwärts vom Schiffe hinaus nach einem langen dunkeln Streifen, der eine merkwürdige, kriechende Bewegung zeigte.
Mit Hilfe des Fernrohrs ließ sich erkennen, daß der Streifen zweihundertfünfzig bis dreihundert Fuß lang sein mochte.
»Sapperment! rief der Lieutenant Allotte scherzend, sollte das etwa Meister Cabidoulin's berühmte große Seeschlange sein?«
Zur gleichen Zeit stand auf dem Vorderkastell, die Hand über den Augen, der Unglücksprophet, der Böttcher, und starrte ohne ein Wort zu äußern in derselben Richtung hinaus.
Jetzt kam auch der Doctor Filhiol nach dem Hinterdeck und der Kapitän Bourcart sagte, indem er ihm das Fernrohr hinreichte:
»Bitte... sehen Sie einmal dorthin...
– Das ähnelt ja einem Risse, worüber zahllose Vögel umherschwärmen, meinte der Doctor Filhiol nach aufmerksamer Betrachtung der Erscheinung.
– An dieser Stelle ist mir kein Riff bekannt, erklärte Bourcart.
– Uebrigens, setzte der Lieutenant Coquebert hinzu, unterliegt es keinem Zweifel, daß jener Streifen sich fortbewegt.«
Fünf oder sechs Matrosen umringten den Böttcher, der noch immer stumm blieb.
Da fragte ihn der Oberbootsmann lächelnd:
»Na, Alterchen.. ist sie das etwa?«
Statt jeder Antwort machte Jean-Marie Cabidoulin eine Handbewegung, die offenbar »Vielleicht!« bedeuten sollte.
Das Ungeheuer – wenn es ein solches war –, die Schlange – wenn es eine Schlange war – bewegte sich, nahezu drei Meilen luvwärts vom »Saint Enoch«, wellenartig an der Wasserfläche hin. Sein Kopf – wenn es ein Kopf war – schien mit einer dicken Mähne ausgestattet zu sein, wie sie in norwegischen und anderen Sagen den Kraken, den Calmars (einer Art ungeheuerer Tintenfische) und anderen Wundergeschöpfen des Meeres zugeschrieben wird.
Sicherlich hätte auch der stärkste Walfisch dem Angriffe eines solchen Seeungeheuers nicht widerstehen können. Sein Vorhandensein in dieser Gegend erklärte es vielleicht, daß die Wale von hier schon verschwunden waren. Selbst ein Fahrzeug von fünf- bis sechshundert Tonnen hätte sich der Umschlingung durch ein so wunderbares Geschöpf wohl kaum entwinden können.
Da ertönte wie aus einem Munde von der Mannschaft der Schreckensruf:
»Die Seeschlange!... Die große Seeschlange!«[101]
Alle sahen unverwandt nach dem betreffenden Ungeheuer hin.
»Kapitän, fragte jetzt der Lieutenant Allotte, wären Sie nicht begierig, zu wissen, ob das Thier da draußen ebensoviel Thran liefert wie ein Spritzwal?... Ich wette auf zweihundert Faß, wenn wir es einfangen können!«
Von der Minute an, wo das Thier zuerst bemerkt worden war, hatte es sich jetzt – ohne Zweifel der Strömung folgend – dem Schiffe etwa um eine halbe Seemeile genähert. Man unterschied nun deutlicher seine Ringe, die sich wurmartig fortbewegten, seinen Schwanz, dessen Ende sich abwechselnd hob und senkte, und den mächtigen Kopf mit der struppigen Mähne, aus dem jedoch kein mit Luft gemengter Wasserstrahl, wie aus dem der Cetaceen, hervorsprudelte.
Auf die von dem Lieutenant gestellte und wiederholte Frage, ob die Boote klar gemacht werden sollten, hatte der Kapitän Bourcart noch keine Antwort gegeben.
Da sich Heurtaux und Coquebert aber dem Gesuche des Lieutenants angeschlossen hatten, gab Bourcart, nach leicht erklärlichem Zögern, den Befehl, zwei Boote aufs Wasser zu setzen, doch nicht um das Ungeheuer anzugreifen, sondern es nur mehr in der Nähe zu beobachten, da der »Saint Enoch« sich ihm nur langsam aufkreuzend hätte nähern können.
Als der Böttcher die Leute beschäftigt sah, die Boote niederzulassen, trat er an den Kapitän Bourcart heran und sagte tieferregt:
»Kapitän... Kapitän Bourcart... Sie wollten wirklich...
– Jawohl, Meister Cabidoulin, ich will wissen, woran wir uns zu halten haben.
– Ist das auch klug und weise?
– Gleichviel, es geschieht!
– Gehst Du nicht mit?« fragte Meister Ollive noch den Böttcher.
Dieser begab sich ohne zu antworten nach dem Vorderdeck zurück. Die anderen hatten schon so oft über »seine Seeschlange« gespöttelt, daß er dieses Zusammentreffen, das ihm seiner Ansicht nach recht geben müßte, vielleicht gar nicht bedauerte.
Die beiden Boote, jedes mit vier Matrosen an den Riemen, in dem einen der Lieutenant Allotte mit dem Harpunier Ducrest, in dem anderen der Obersteuermann Heurtaux mit dem Harpunier Kardek, warfen ihre Leinen los und steuerten auf das räthselhafte Thier zu. Der Kapitän hatte aber ausdrücklich befohlen, nur mit äußerster Vorsicht zu Werke zu gehen.[102]
Bourcart, Coquebert, der Doctor Filhiol und Meister Ollive blieben zur Beobachtung auf dem Hinterdeck, während das Schiff jetzt gegengebraßt hatte. Der Böttcher, der Schmied, der Zimmermann, die beiden anderen Harpuniere, der Tafelmeister, der Koch und die noch übrigen Matrosen standen auf dem Vorderdeck. Bei den Leichtmatrosen, die sich auf die Schanzkleidung lehnten, mischte sich die Neugier doch mit etwas ängstlicher Besorgniß.
Alle Augen folgten den Booten. Diese ruderten langsam vorwärts, befanden sich aber doch bald nur um eine halbe Kabellänge von dem merkwürdigen Thiere entfernt, und jedermann erwartete, daß dieses sich plötzlich aufbäumen werde.
Das Ungeheuer blieb unbeweglich, sein Schwanz peitschte nicht einmal das Wasser.
Dann sah man die Boote dicht neben ihm hinstreichen und Leinen darüber werfen, ohne daß es eine Bewegung machte, und schließlich nahmen es die Boote gar ins Schlepptau, um es nach dem Schiffe zu bugsieren.
Es war kein Seethier, sondern ganz einfach eine riesige Alge, deren Wurzeln den vermeintlichen Kopf bildeten, ähnlich dem ungeheueren pflanzlichen Bandstreifen, dem der »Peking« im Jahre 1848 im Stillen Ocean begegnet war.
Da rief der Meister Ollive dem Böttcher spöttischen Tones zu:
»Na, da ist es ja, Dein Ungeheuer... Deine berühmte Seeschlange!... Ein Haufen Pflanzen... eine Sargassomasse!... Wirst Du Deinen Glauben nun nicht endlich ablegen?
– Ich glaube, was ich glaube, entgegnete Jean-Marie Cabidoulin frostig, und Ihr werdet früher oder später schon noch dasselbe glauben lernen!«
Buchempfehlung
Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.
178 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro