|
[123] Um fünf Uhr Abends befand sich der gänzlich erschöpfte Fragoso noch immer an derselben Stelle und fragte sich schon, ob er hier, um die noch wartende Menge zu befriedigen, nicht werde die Nacht zubringen müssen.
Da erschien ein Fremder auf dem Platze, der beim Anblick der versammelten Eingebornen auf das Wirthshaus zuging.
Kurze Zeit betrachtete der Fremdling aufmerksam und mit einer gewissen Vorsicht Fragoso und dessen Thätigkeit. Offenbar befriedigt von seinen Wahrnehmungen, trat er in die Loja ein.
Es war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er trug elegante Reisekleidung, welche seine Person in vortheilhaftem Lichte erscheinen ließ.
Sein starker schwarzer Bart, den gewiß seit langer Zeit keine Scheere berührt hatte, und die etwas zu weit herabhängenden Haare aber ließen die Hilfe eines Coiffeurs recht wünschhenswerth erscheinen.[123]
»Guten Tag, Freundchen, guten Tag!« sagte er, leise auf Fragoso's Schulter klopfend.
Letzterer drehte sich verwundert um, als er diese Worte in reinem Brasilianisch und nicht in dem gemischten Idiom der Einwohner vernahm.
»Ein Landsmann? erwiderte er fragend, doch ohne die kräftige Bearbeitung eines rebellischen Mayorunassen-Hauptschmuckes zu unterbrechen.
– Ja, bestätigte der Fremde, ein Landsmann, der Eurer Dienste bedarf.
– Mit Vergnügen; doch bitte ich um eine Minute Geduld, bis ich »Madame vollendet« habe!«
Nach einigen Strichen war das geschehen.
Obwohl der Letztgekommene eigentlich nicht berechtigt war, den frei gewordenen Platz einzunehmen, setzte sich dieser doch auf den Schemel, ohne daß die Eingebornen, welche dadurch in der Reihenfolge gestört wurden, dagegen Einspruch erhoben.
Fragoso legte die Brenneisen bei Seite, ergriff dafür die Scheere und fragte nach gewöhnlichem Geschäftsgebräuche:
»Was befehlen Sie, mein Herr?
– Wollen Sie mir gefälligst Bart und Haare verschneiden, erwiderte der Fremde.
– Ganz wie Sie wünschen!« sagte Fragoso, indem er schon den Kamm in das dichte Haupthaar seines Clienten senkte.
Bald begann nun auch die Scheere ihre Arbeit.
»Sie kommen wohl von weit her? fragte Fragoso, der bei seiner Beschäftigung stets zu plaudern pflegte.
– Ich komme aus der Nähe von Iquitos.
– Was Sie sagen! Ich nämlich auch! rief Fragoso. Ich bin von Iquitos bis Tabatinga auf dem Amazonenstrome heruntergefahren. Darf ich wohl nach Ihrem werthen Namen fragen?
– Warum nicht? erwiderte der Fremdling. Ich heiße Torres.«
Nachdem er das Haar seines Kunden »nach neuester Mode« zurecht geschnitten, begann Fragoso auch dessen Bart zu stutzen; als er jenen dabei aber zuerst genauer von Gesicht sah, hielt er unwillkürlich mit der Arbeit ein.
»Ei, Herr Torres, begann er, wäre es möglich... Ich glaube Sie wiederzuerkennen. Sollten wir uns nicht schon irgendwo gesehen haben?
– Das glaube ich kaum! entgegnete Torres schnell.[124]
– So täusche ich mich also!« antwortete Fragoso.
Er begann seine Arbeit von Neuem.
Torres nahm bald danach das durch Fragoso's Frage unterbrochene Gespräch wieder auf.
»Wie sind Sie von Iquitos hierhergekommen? fragte er.
– Von Iquitos nach Tabatinga?
– Ja.
– An Bord eines Holztransports, wo mich ein wackerer Fazender aufnahm, der mit seiner Familie den Amazonenstrom hinabfährt.
– Ei, sehen Sie, guter Freund, erwiderte Torres, das könnte mir passen, wenn Ihr Fazender auch mich aufnehmen wollte...
– Sie beabsichtigen also gleichfalls, den Strom hinab zu reisen?
– Gewiß.
Bis nach Para?
– Nein, nur bis Manao, dort habe ich Geschäfte.
– Nun, mein Wirth ist ein sehr zuvorkommender Mann; ich glaube sicherlich, daß er Ihnen diesen Dienst erweisen wird.
– Sie glauben das?
– Ich möchte sogar sagen, ich bin davon überzeugt.
– Und wie heißt denn Ihr Fazender? fragte Torres so nebenbei.
– Joam Garral,« belehrte ihn Fragoso.
Dabei murmelte er aber leise für sich hin:
»Dieses Gesicht habe ich schon einmal gesehen!«
Torres pflegte eine Unterhaltung, die ihn interessirte, nicht so leicht fallen zu lassen, und hier hatte er dazu ja seine besonderen Gründe.
»Sie meinen also, begann er noch einmal, daß Joam Garral mir einen Platz einräumen würde?
– Ich wiederhole Ihnen, daß ich daran nicht im mindesten zweifle. Was er einem armen Teufel wie mir gewährt hat, das wird er Ihnen, einem Landsmanne, nicht verweigern.
– Ist er allein an Bord der Jangada?
– Nein, erwiderte Fragoso, ich sagte Ihnen schon, daß er mit seiner ganzen Familie reist – lauter prächtige, liebe Leute, das dürfen Sie mir glauben – außerdem hat er eine aus Indianern und Schwarzen bestehende Mannschaft bei sich, welche dem Personal der Fazenda angehören.[125]
– Ist er wohl reich, jener Fazender?
– Gewiß, antwortete Fragoso, sehr reich. Schon allein das Holz, aus dem die Jangada gezimmert ist, und die Fracht auf letzterer repräsentirt ein Vermögen für sich.
– Joam Garral ist also mit seiner ganzen Familie über die brasilianische Grenze gekommen? fragte Torres noch einmal.
– Ja wohl, bestätigte Fragoso, mit seiner Frau, seinem Sohne, seiner Tochter und mit dem Bräutigam des Fräulein Minha.
– Ah, er hat eine Tochter? sagte Torres.
– Ein reizendes Mädchen!
– Die sich bald verheiraten wird?...
– Ja, antwortete Fragoso, mit einem braven jungen Manne, einem Militärarzt bei der Garnison in Belem, dessen Hochzeit nach unserer Ankunft am Ziele der Reise sogleich gefeiert werden soll.
– Recht hübsch! bemerkte Torres lächelnd, das könnte man demnach im strengsten Sinne des Wortes eine Hochzeitsreise nennen!
– Eine Hochzeits-, Vergnügungs- und Geschäftsreise zugleich, berichtigte Fragoso. Frau Yaquita und ihre Tochter haben noch niemals den Boden Brasiliens betreten, und auch Joam Garral überschreitet, seitdem er in die Farm des alten Magelhaës eintrat, die Grenze zum ersten Male.
– Die Familie hat natürlich auch einige Diener bei sich? forschte Torres.
– Freilich, antwortete Fragoso; da ist zum Beispiel die alte Cybele, welche schon fünfzig Jahre in der Farm gehaust hat, und eine hübsche Mulattin, Fräulein Lina, die bei ihrer jungen Herrin mehr die Stelle einer Gesellschafterin als die einer Dienerin vertritt. O, ein reizendes Geschöpfchen! Ein gutes Herz und ein Augenpaar... und Einfälle hat sie, wie kein Anderer, vorzüglich über Lianen...«
Fragoso, der jetzt Hochwasser auf der Mühle hatte, hätte nicht so bald ein Ende gefunden und von Lina in seiner enthusiastischen Stimmung gewiß noch weiter erzählt, wenn Torres nicht von dem Sessel aufgestanden wäre, um einem Anderen Platz zu machen.
»Was bin ich schuldig? fragte er den Barbier.
– O, gar nichts, antwortete Fragoso; unter Landsleuten, die sich an der Grenze treffen, kann davon keine Rede sein.
– Nein doch, entgegnete Torres, ich möchte lieber...[126]
– Nichts, das bringen wir später, an Bord der Jangada, in Ordnung.
– Ich weiß nur noch nicht, erwiderte Torres, ob ich wagen soll, Joam Garral um die Erlaubniß anzugehen...
– Unbedenklich, fiel Fragoso ein, doch wenn es Ihnen recht ist, werde ich mit ihm darüber sprechen, und er wird sich glücklich schätzen, Ihnen unter den vorliegenden Umständen helfen zu können!«
In diesem Augenblick erschienen Manoel und Benito, die nach ein genommenem Mittagsmahle in das Städtchen gewandert waren, an der Thür der »Loja«, neugierig, Fragoso einmal bei Ausübung seines Geschäftes zu sehen.
Torres hatte sich eben umgedreht.
»Ah, rief er plötzlich, da sind ja zwei junge Herren, die ich kenne oder vielmehr wieder erkenne!
– Sie erkennen jene? fragte Fragoso verwundert.
– Kein Zweifel! Sie haben mich vor etwa einem Monate bei Iquitos im Walde aus peinlicher Verlegenheit befreit.
Aber das ist eben Benito Garral und der Andere Manoel Valdez.
– Das weiß ich. Sie nannten mir damals ihre Namen, ich dachte aber nicht im mindesten daran, sie hier wiederzufinden!«
Torres ging auf die beiden jungen Leute zu, die ihn anblickten, offenbar ohne sich seiner zu erinnern.
»Sie kennen mich wohl nicht wieder, meine Herren? fragte er.
– Ah, verzeihen Sie, erwiderte Benito, wenn ich mich recht entsinne, Herr Torres, der vor Kurzem im Walde von Iquitos das kleine Abenteuer mit dem Guariba erlebte?...
– Ganz richtig, meine Herren! bestätigte Torres. Seit etwa sechs Wochen bin ich nun am Amazonenstrome hinuntergewandert und habe wohl gleichzeitig mit Ihnen die Grenze überschritten.
– Es freut mich herzlich, Sie wiederzusehen, sagte Benito; hatten Sie meine Einladung, in unserer Fazenda vorzusprechen, ganz vergessen?
– O nein, das gewiß nicht, erwiderte Torres.
– Sie würden es nicht bereut haben, derselben nachzukommen; das hätte Ihnen die Möglichkeit gegeben, bis zur Abreise von ihren Strapazen auszuruhen und dann konnten Sie mit uns bis zur Grenze fahren. Wie viele Tage Wanderschaft hätten Sie da erspart!
– Ja freilich! sagte Torres.[127]
– Unser Landsmann will nicht hier an der Grenze bleiben, mischte sich da Fragoso ein. Er beabsichtigt, nach Manao zu gehen.
– Nun, wenn Sie in diesem Falle an Bord der Jangada kommen wollen, bemerkte Benito, so werden Sie gut aufgehoben sein, und ich bin überzeugt, daß mein Vater es als Menschenpflicht betrachten wird, Ihnen Passage zu gewähren.
– Recht gern, versetzte Torres, Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen meinen Dank dafür im Voraus sage!«
[128]
Manoel hatte schweigend dem kurzen Gespräche zugehört. Er überließ es dem höflichen Benito, seine Einladung anzubringen, und faßte Torres scharf in's Auge, da ihn dessen Erscheinung nicht besonders ansprach. Aus den Augen des Mannes leuchtete keine Offenheit, und seine Blicke schweiften unruhig umher, als fürchtete er, sie irgendwo haften zu lassen; Manoel äußerte sich jedoch nicht über den empfangenen Eindruck, da er einem hilfsbedürftigen Landsmanne nicht schaden wollte.
»Wenn es Ihnen beliebt, meine Herren, begann Torres, bin ich bereit, Ihnen zum Hafen hinab zu folgen.[129]
– So kommen Sie!« antwortete Benito.
Eine Viertelstunde später befand sich Torres an Bord der Jangada. Benito stellte ihn seinem Vater vor, erzählte die Umstände, unter denen sie sich schon einmal gesehen hätten, und ersuchte ihn um seine Zustimmung, Torres bis Manao mitzunehmen.
»Ich schätze mich glücklich, mein Herr, Ihnen diesen kleinen Dienst erweisen zu können, antwortete Joam Garral.
– Ich danke Ihnen, sagte Torres, der die Hand zwar bieten wollte, aber in demselben Augenblick unwillkürlich wieder zurückzog.
– Morgen mit Tagesanbruch fahren wir weiter, setzte Joam Garral hinzu. Sie können sich inzwischen an Bord einrichten.
– O, dazu bedarf es nicht vieler Mühe, erklärte Torres. Außer meiner Person habe ich nichts unterzubringen.
– Betrachten Sie sich ganz als zu Hause!« sagte Joam Garral.
Im Laufe des Abends bezog Torres noch seine Cabine neben der des Barbiers.
Gegen acht Uhr kehrte dieser auch selbst nach der Jangada zurück, erzählte der jungen Mulattin, welch' gute Geschäfte er gemacht, und flocht nicht ohne einen gewissen Anflug von Eigenliebe die Bemerkung ein, daß der Ruf des berühmten Figaro im Becken des oberen Amazonenstromes offenbar noch gewachsen sei.
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro